Selten sorgte ein Ereignis in Vorpommern für so viel Aufsehen wie die letzten Castortransporte. Wie die Bewohner der Ortschaften links und rechts der Bahntrasse den ungewohnten Tumult erlebten, geht in der Berichterstattung meist unter.

Demonstranten besetzten das Gleis nach Lubmin im Dezember um den Castortransport zu blockieren

Per Drahtesel, die eigene Energiebilanz fest im Blick, machen wir uns von Greifswald auf in Richtung Industrie- und Gewerbegebiet Lubminer Heide, auf dessen Gelände sich das Zwischenlager Nord (ZLN) befindet. Überraschend schnell haben wir besiedeltes Gebiet hinter uns gelassen, auf einmal nur noch Felder, Wiesen und Wald. Länderfinanzausgleich sei Dank – Radweg soweit das Auge reicht. Nach sechs Kilometern dann wieder Häuser, erster Stopp ist Kemnitz. Erwartungsgemäß haben wir Mühe überhaupt Gesprächspartner im beschaulichen Ortskern zu finden. Der einzige zu dieser Tageszeit halbwegs belebte Platz ist ein kleiner Tante-Emma-Laden. Hier stoßen wir auch auf unsere ersten potentiellen Informanten.

Zwar ist Kemnitz eines der größeren Dörfer, liegt jedoch nicht direkt am Gleis. Wohl auch deswegen fallen die Antworten eher dürftig aus, viel mitbekommen habe man nicht, ist die allgemeine Aussage. Die Mahnwache am Tag X sei hauptsächlich von Greifswaldern organisiert worden. Wirkliches Interesse für die Thematik hört sich anders an. Schon leicht ernüchtert, doch voller Hoffnung in den nächsten Dörfern auskunftsfähigere Bürger anzutreffen, schwingen wir uns wieder auf die Räder und machen uns, vorbei am dorfeigenen Gesundheitszentrum und Helikopterflugplatz, auf in Richtung Stilow. Am Ortseingang dann das erste Mal das bewusste Gleis, Schauplatz des Widerstands. Am Zaun einer ehemaligen-LPG treffen wir auf den ersten Gesprächspartner, der die „Wutbürger“ tatsächlich in Aktion erlebte. Um die hundert Protestler seien beim letzten Transport hier gewesen, so der Mann Ende vierzig im Blaumann. Holz und Stroh habe man ihnen gebracht und dann hätten sie auf dem Acker neben dem Bahnübergang campiert. Das seien aber alles Leute von außerhalb gewesen, im Dorf selber habe sich so gut wie niemand für den Castor interessiert.

„Ruhig und friedlich ist es gewesen“, erst im Nachhinein hätten Unbekannte den neu gemachten Trafokasten neben den Schranken angezündet. So etwas ärgere ihn, wenn sinnlos Sachen zerstört werden, für deren Schaden die Allgemeinheit später aufkommen müsse. Auch andere Formen des Protestes stießen bei ihm auf wenig Verständnis. So zum Beispiel das Anketten an die Gleise oder das Abseilen von Bäumen, um den Transport aufzuhalten. „Wer macht denn so einen Scheiß?“ Kopfschüttelnd blickt er uns an, murmelt etwas von jungen Frauen auf Bäumen und Menschen in Beton. Langsam taut er auf, scheint Gefallen an der Unterhaltung zu finden, vergisst den einsam verglühenden Zigarillo in seiner Hand. Gesprächspartner sind in Stilow offenbar Mangelware, da ist unser Interesse am Castor eine willkommene Abwechslung. Bevor wir noch eine Einladung zum Mittagessen ausschlagen müssen, bedanken wir uns für die Informationen, wünschen einen schönen Tag und brechen auf.

Interessehalber radeln wir noch eine kleine Biege durch den Ort. An manchen Ecken scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Alte Bauernhäuser, dazwischen Gemüsegärten und Carports, die einzigen sichtbaren Lebewesen sind Hühner, Gänse und Schafe. Dazu permanentes Gebell, kaum ein Häuschen ohne des Menschen besten Freundes. Oberhalb des Dorfteichs dann eine strahlend weiße Villa mit großzügigem Garten, Doppelgarage und ausladender Einfahrt. Zwei weiße gedrungene Kampfhunde sichern Haus und Hof. Im kleinen, kontrastreichen Stilow scheint trotz der unzähligen Vierbeiner der sprichwörtliche Hund begraben. Mit vielen neuen Eindrücken im Gepäck ab auf den Feldweg parallel zum Gleis, sanft schiebt uns Rückenwind in Richtung Brünzow.

Das Gebiet so gut wie eingenommen nachdem erfolgreich die Fahnen gehisst wurden

Wir versuchen uns vorzustellen, wie dieser Weg während der Transporte ausgesehen haben muss. Polizeiwagen dicht an dicht, ein Heer Uniformierter taucht vor unserem inneren Auge auf, Fremdkörper in dieser Idylle. Wir passieren den Ortseingang, linker Hand eine Tankstelle, ein Mitarbeiter sammelt Müll ein. Nervig seien vor allem die langen Wartezeiten durch die Polizeiabsperrungen gewesen, meint er, besonders im Dezember sei es da zu erheblichen Behinderungen gekommen. Ein bisschen viel Unruhe hätten die Proteste in die Region gebracht, im Februar sei dann aber schon deutlich weniger los gewesen. Vielmehr könne er dazu auch nicht sagen, aber wer in dieser Gegend kann das schon? Zeit zum Aufbruch, nächster Halt Vierow. Auch hier minutenlanges Suchen bis wir auf einen Menschen stoßen. „Nein, viel mitbekommen haben wir hier nicht. Ich kann sowieso nicht soviel zu dem Thema sagen, da ich selbst in einem Kraftwerk arbeite. Versuchen Sie es mal in Kräpelin.“

Die besagte Ortschaft, die nächste Station auf der Suche nach kontroversen Castor-Meinungen, ist das bislang idyllischste Dörflein. Unbefestigte Straßen führen uns am renaturierten Dorfteich vorbei zu einem gemütlichen Holzhaus neueren Baujahrs. Die Arbeitsjacke des holzhackenden Rentners in knalligem Orange sticht inmitten all der Hecken sofort ins Auge. Nach anfänglichem Misstrauen legt er die Axt beiseite und erzählt offen von seinen Eindrücken während der letzten Monate. Die Polizei sei beim letzten Mal deutlich besser organisiert gewesen, „wir waren noch nie so gut beschützt “. Auch die Orientierung der Gesetzeshüter habe sich stark verbessert. Friedliche Proteste gab es seines Wissens nach in Form einer Mahnwache am Ortseingang.

Wie er die zweifelhafte Symbiose aus Seebad und Atommüllzwischenlager finde, wollen wir wissen. Er überlegt kurz, naja, „Das wird schon hinhauen.“ Und überhaupt, Protest sei schon wichtig und die gute Logistik der Demonstranten beeindrucke ihn sehr, aber den Transport zu blockieren halte er für unsinnig. Ist doch eh alles schon beschlossene Sache. Auf die Frage, ob er Angst vor den Gefahren der Atomkraft habe, antwortet er nach kurzem Zögern, um sich mache er sich keine Sorgen, wohl aber um die nachfolgenden Generationen. Während auf ihn ein warmes Mittagessen wartet, kämpfen wir uns zurück in Richtung Bundesstraße und dann weiter nach Lubmin. Wo sich im Sommer erholungshungrige Urlauber drängen, herrscht zu dieser Jahreszeit gähnende Leere. Leider ist der ehrenamtliche Bürgermeister zeitlich nur sehr eingeschränkt verfügbar. Zweimal im Monat 60 Minuten Sprechzeit müssen ausreichen. Auf eine spätere schriftliche Interviewanfrage reagiert er mit der Bitte, aufgrund terminlicher Verpflichtungen auch „von der Übersendung eines etwaigen schriftlichen Fragenkatalogs Abstand zu nehmen.“

Den Ortskern von Lubmin hinter uns lassend, fahren wir weiter zum ZLN. Schon von weitem stechen einem die hohen, den Kiefernwald überragenden Schornsteine ins Auge. Je näher wir dem ehemaligen Kernkraftwerk kommen, desto ungewohnter die Szenerie. Der Eingang des Besucherzentrums liegt am hinteren Ende der Anlage, wir fahren den dichten Maschendrahtzaun entlang, vorbei an Industriehallen und Warnschildern. Im Besucherzentrum der bundeseigenen Betreibergesellschaft Energiewerke Nord (EWN) dann Hochglanzstellwände und Berge von Informations- und Anschauungsmaterial. Dazu langatmige und faktenreiche Erklärungen, die einen nach wenigen Minuten förmlich erschlagen und kritische Gegenfragen im Keim ersticken. Durch Zufall können wir an einer Führung über das Werksgelände teilnehmen, Blicke ins Innere des ehemaligen Reaktors werfen und den mitunter leicht nostalgischen Anekdoten des ehemaligen Kraftwerkmitarbeiters lauschen.

Die anschließende Rückfahrt bietet, dank strammem Gegenwind, noch einmal Zeit über das Gesehene nachzudenken. Während sich in Greifswald nach und nach Widerstand gegen die Atommülltransporte formierte, wirkten unsere Gesprächspartner auf den Dörfern rund um die Bahnstrecke der ganzen Geschichte überdrüssig. Schwer zu sagen, ob es Resignation oder Desinteresse ist. Häufig hörten wir, dass der Müll ja irgendwo hin müsse, die Transporte notwendig und sowieso schon beschlossen seien. Vielleicht fehlt bei einigen schlicht die Zeit, sich neben den alltäglichen Sorgen und Nöten noch mit der Frage der Zwischen- bzw. Endlagerung auseinander zusetzen. Sicherlich ist es auch eine Frage des Alters. Die tendenziell jüngere Stadtbevölkerung, gerade aus dem Umfeld der Universität, begehrt gegen die ungeklärten Zukunftsperspektiven auf, während die Alten auf dem Land resignieren.

Ein Bericht von Johannes Köpcke, Ole Schwabe und Katrin Haubold mit Fotos von Torsten Heil.