PJ studiert seit 2010 Biochemie im ersten Wintersemester an der Universität Greifswald unter ganz besonderen Bedingungen: Er wurde mit der autistischen Entwicklungsstörung Asperger-Syndrom geboren.

Ein Patientengespräch: „Ich habe in den letzten Monaten das Verhalten Ihres Sohnes sorgfältig beobachtet und studiert und kann nun zu einer dezidierten Auswertung kommen: Felix ist ein ganz besonderes Kind. Er zeigt neben autistischen Merkmalen ganz spezielle Begabungen, die wie abgetrennt von seinen sonstigen Verhaltensmustern scheinen. Autismus heißt, dass Felix sich nie so verhalten wird wie andere Menschen, er kann sich nicht in die Gefühle anderer hineinversetzen oder sich in die sozialen Regeln einer Gemeinschaft hineindenken. Ein österreichischer Arzt, Hans Asperger, hat diese Form von Autismus Anfang der 40er Jahre erstmals beschrieben. Felix wird sich immer schwer tun mit sozialen Kontakten und den Regeln menschlichen Miteinanders. Er kann einfach nicht nachvollziehen, was sich in den Köpfen anderer abspielt. Felix wird sich immer anders fühlen und verhalten“, erklärt der Arzt. Betroffen reagiert die Mutter:“ Immer anders, nie normal?“

Die dargestellte Szene stammt aus dem deutschen Film „Der kalte Himmel“ von Andrea Scholl und zeigt die Situation in der den verzweifelten Eltern die Diagnose zum andersartigen Verhalten ihres Sohnes gestellt wird: Asperger-Syndrom.

„Immer anders, nie normal“, diese Hiobsbotschaft muss nicht immer so definitiv eintreten, wie sie in dem Film formuliert wird. Dies wurde mir in den letzten Wochen durch ausführliche Eindrücke und Gespräche bewiesen. In unserer kleinen Stadt Greifswald studiert seit diesem Wintersemester PJ (auf Wunsch nur Initialen verwendet) Biochemie im ersten Semester. Seit seinem neunten Lebensjahr weiß P, dass auch er von der angeborenen Entwicklungsstörung, dem Asperger-Syndrom, betroffen ist. Allerdings tritt diese besondere Form von Autismus mit unterschiedlicher Intensität auf. Bei PJ sind zwar die Symptome von geringen Fähigkeiten zur sozialen Interaktion und besondere Intelligenz in bestimmten Bereichen (Spezialinteressen) beispielsweise deutlich zu erkennen, aber trotzdem ist es ihm möglich relativ „normal“ am Uni-Leben teilzunehmen. Aber was ist schon normal? Für den naturwissenschaftlich begabten Studenten sind die anderen „seltsam“ und er „normal“. Dies war für mich zu Beginn schwer zu begreifen, aber nach einigen Überlegungen schien es ganz klar: Für jeden Menschen ist das normal, was für ihn seit der Kindheit das Leben ausmacht und dies gilt auch für Betroffene dieser Entwicklungsstörung.

P hat nicht das Gefühl auf einem falschen Planeten gelandet zu sein, wie das englische Synonym „wrong planet syndrom“ impliziert. Diesen Eindruck kann ich nun bestätigen. Zwar schien es mir fremdartig mich mit einem Menschen zu unterhalten, der weder Mimik noch Gestik verwendet und Blickkontakt strikt vermeidet, trotzdem hat P ein so selbstbewusstes und aufgeklärtes Auftreten, dass man ihm alles, auch studieren, zutraut. Er hat mit den üblichen Hindernissen des Studienanfangs zu kämpfen: Sich in einer neuen Stadt zurechtfinden, an das selbstständige Leben gewöhnen und rechtzeitig zu den Uni-Veranstaltungen erscheinen. Lediglich der Trubel des Kontakteknüpfens bleibt ihm erspart. Er muss nicht oberflächliche Gespräche führen, bis die richtigen Bezugspersonen gefunden sind und endlos scheinende Abende durchstehen, um möglichst viele neue Leute kennen zu lernen.

Für manche scheint gerade dies eine herbe Einschränkung zu sein, aber PJ strebt generell keinen großen Freundeskreis an. Er kennt neben seiner Familie ein paar wenige Personen aus der Schulzeit, die gelernt haben mit seinem besonderen Verhalten in der Interaktion umzugehen, und das genügt nach eigenen Aussagen. So bezeichnet er sich selbst als analytischen, egozentrischen Einzelgänger. Lediglich bei der Partnersuche stört ihn seine Einschränkung, denn als ich frage, ob er gerne eine Freundin hätte, strahlt er mich verlegen nickend an. Dieser erste Einblick hinter seiner apart wirkenden Fassade ergreift mich sehr. Fast möchte ich ihn umarmen, aber das wäre wiederum zu viel Nähe für ihn.

Es wird deutlich, dass PJ auch die ganz normalen Träume und Wünsche eines Otto Normalstudierenden verfolgt. Er möchte später einmal eine feste Stelle mit Kündigungsschutz finden, eine Familie gründen und sein Leben genießen. Gedanken, die wahrscheinlich für fast alle der insgesamt 12 304 Greifswalder Studierenden nachvollziehbar sind und die sie mit ihm teilen. Trotzdem gibt es Unterschiede, die mir ganz besonders bewusst werden, als ich P´s Wohnheimzimmer betreten darf: Mich erwartet ein präzise gemachtes Bett, sortierte Bücher, in Reihe und Glied stehende Getränke und ein frisch gewischter Boden. Zentral im Raum ist der Laptop positioniert und als ich seinen Tages- und Wochenplan entdecke, wird mir auch bewusst warum. PJ muss sich nicht nur mit einem uhrzeitgenauen Ablaufplan für die Wochentage vorschreiben, wann er lernt, isst oder schläft, sondern auch zu welchen Zeiten das Internet genutzt werden darf. Auf Nachfrage erklärt er mir, dass er ansonsten im Netz versinken würde, denn dies ist seine Lebenswelt. Hier kann er in speziellen Foren mit anderen Betroffenen des Asperger-Syndroms schreiben ohne auf nonverbale Kommunikation achten zu müssen, Spiele spielen und den Druck der Außenwelt hinter sich lassen.

Doch welche Methoden helfen noch den Alltag zu bewältigen, wenn man weiß, dass man sich in einer so besonderen Form von der Masse abhebt? In dem englischsprachigen Roman „The Curious Incident of the Dog in the Night-Time” schildert der Autor Mark Haddon eine besondere Vorgehensweise. Der Hauptcharakter Christopher, welcher ebenfalls die Symptomatik des Asperger Syndroms aufweist, entscheidet anhand der Farbkombinationen der vorbeifahrenden Autos vor seinem Fenster täglich aufs Neue, ob es sich um einen guten oder schlechten Tag handelt.

PJ hingegen hat nicht ganz so spezielle Eigenarten für den Alltag entwickelt. Er hält sich in großen Gruppen gerne im Hintergrund und bemüht sich nicht stärker als sonst aufzufallen. Weiterhin hat er ganz bewusst die Stadt Greifswald als seine neue Heimat gewählt. Nicht nur wegen des Meeres direkt vor der Tür, welches ihn fasziniert, sondern auch wegen der Möglichkeiten des Ortes. Hier kann er in einer kleinen Stadt mit wenig sozialen Konflikten leben, als eine solche empfindet er sie zumindest. Hinzu kommen noch die Betreuungsmöglichkeiten, die die Hansestadt dem 20-Jährigen bietet. Neben den studentischen Hilfskräften und einem bezahlten Kommilitonen, der ihn bei der Aufgabenbewältigung in der Uni unterstützt, findet er Hilfestellung bei einem ambulanten Einzelfallbetreuer des Pommerschen Diakonievereins.

Dieser selbst sieht sich aber eher als Begleiter, der sich einmal in der Woche zwei Stunden lang mit PJ trifft und über Dinge spricht, die PJ am Herzen liegen oder notwendig sind. Genaue Auskünfte über ihr Treffen wollten die beiden aber nicht preisgeben, vielleicht weil sie zu persönlich wären. Finanziert wird diese Form der Förderung über die Eingliederungshilfe aus dem Strafgesetzbuch XII §54. Eine ergänzende Therapie besucht PJ aber nicht, obwohl er selbst in seiner schulischen Facharbeit, in der er sich auch durchgängig mit seinen Initialen anonymisiert, unter anderem über mögliche ärztliche Betreuungsformen schreibt. So können Patienten mit dem Syndrom etwa durch individuell abgestimmte Therapien gefördert werden, z.B. durch eine kognitive Verhaltenstherapie zur Besserung lebenspraktischer Fähigkeiten von Asperger-Patienten oder durch das TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children), in dem eine optimale Lern- und Therapiesituation durch Umgebungsanpassung geschaffen wird.

Trotz der sozialen Einschränkungen und seiner durch das Syndrom bedingten Gedankenpausen in Gesprächen, durfte ich von PJ den Eindruck eines fröhlichen Menschen gewinnen, der wie jeder andere Student versucht die Uni samt Lernstress und den Alltagsstrapazen möglichst unbeschadet zu überstehen. Ob es ihm gelingen wird kann man nicht einschätzen. P selbst hat festgestellt, dass sein Lernpensum besonders in den letzten Wochen nicht so hoch war wie es für ein erfolgreiches Bestehen der Klausuren notwendig wäre. Doch wem geht das nicht so? In Praktika ist er nicht ganz so zügig wie seine Kommilitonen, da er die Lehrbuchanweisungen besonders akribisch befolgt.

PJ während seiner Arbeit im Labor zu beobachten, war eine interessante Erfahrung: Um ihn herum herrscht wildes Gewusel, die Studierenden berichten erstaunt oder fragend über ihre Versuchsergebnisse, aber bei P am Arbeitsplatz herrscht Stille. Konzentriert sucht er sich die nötigen Stoffe in dem großen Labor und führt die Versuche detailgenau durch, scheinbar ohne die anderen zu bemerken. Zu Beginn der Laborarbeit hatte er noch studentische Hilfskräfte, die seine Arbeit beaufsichtigen mussten, aber mittlerweile hat nur noch ein Kommilitone am Nebentisch ein Auge auf ihn. Als Ausgleich erhält er zusätzliche Zeit in Prüfungen und auch für die geforderten praktischen Aufgaben steht ihm ein Semester mehr zur Verfügung, also ist auch das kein Hindernis. Das Studienfach Biochemie hat er sich bewusst ausgesucht, da dies in relativ zurückgezogener Laborarbeit enden kann und er bei chemisch und biologisch orientierten Praktika besonders erfolgreich gewesen ist. Eigenartig sei für ihn nur, dass ihm das Wissen auf den naturwissenschaftlichen Gebieten nicht mehr so sehr zufliegt wie in der Schule.

So muss man nach diesen Erfahrungen feststellen, dass PJ trotz seiner Eigenarten die nötigen Türen offen stehen und er genau wie jeder andere Studierende seinen Abschluss bestehen kann. Im äußersten Notfall bleiben ihm ja immer noch die Wissensdepots seiner Spezialinteressen Psychologie, Geographie und Astronomie. Ich, die für ihn fremd wirkt, drücke in jedem Fall die Daumen!

Um den Horizont zu erweitern:
„The Curious Incident of the Dog in the Night-Time”,
ein Roman von Mark Haddon
„Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom“,
ein Handbuch von Tony Attwood
„Der kalte Himmel“, deutscher Spielfilm von Andrea Scholl
„ADAM“, eine Liebeskomödie von Max Mayer

Ein Bericht von Lisa Krauke-Kerstan mit Fotos von Tobias Mittmann (Wolke) und Juri Bieler (Gummibärchen), beide via Jugendfotos.de