Das Zwischenlager Nord nahe Lubmin erwartet in den nächsten Monaten radioaktiven Müll aus Südfrankreich und Karlsruhe

Das stillgelegte Atomkraftwerk Greifswald in der Nähe von Lubmin aus der Luft

Laute Sirenen tönen und fiepen bis in jede Synapse der Ohren. Mit viel Druck ertönt während des Störgeräusches eine undeutliche dröhnende Frauenstimme: „Bitte verlassen Sie sofort das Gelände“ oder ähnliches ist noch knapp verständlich in der 28000 Quadratmeter großen Halle, die von grauen, ungeheuerlich wirkenden – zehn Meter großen – Betonwänden umgeben ist. Blaue Riesenquader sind bis zu Vierer-Reihen aufeinander gestapelt. Gelbe Tonnen mit dem radioaktiven Warnsymbol stehen geordnet in Reih und Glied. Steriles grelles Licht beleuchtet das Innere der überdimensionalen Halle, welche am Rand des Naturschutzgebiets Lubminer Heide liegt. In direkter Nachbarschaft ragen die großen tristen Quaderblöcke des abgeschalteten Kernkraftwerks bei Lubmin in den Himmel. Von dort werden abgebrannte Brennelemente und andere – mit Strahlung kontaminierte – Maschinenteile in das eigens dafür angelegte Zwischenlager Nord (ZLN) transportiert, damit sie dort abgeschottet von der Außenwelt ausstrahlen können und einen Großteil ihrer Strahlung verlieren.

Während alle, die sich im ZLN befinden, eine ebenso grau in grau wirkende Tür öffnen und sich vor dem grollenden Warnsignal im Umkleideraum sichern, verbietet das Feueralarmgeräusch jegliche Konversationen. Am Kontrollpunkt zum ZLN wirkt die Situation entspannt, es scheint offensichtlich, dass Begebenheiten wie diese Routine sind bei den Mitarbeitenden. Es wird gelacht, sich ausgetauscht, eine Zigarette geraucht, bis der Alarm vorbei ist. Es käme öfter vor, dass Probealarme stattfinden, erfahren wir während des gemeinsamen Abwartens. Allerdings nur Fehlalarm, wie Marlies Phillip, Pressesprecherin der Energiewerke Nord GmbH (EWN) uns später mitteilen wird.

Stillgelegter Block 6 des ehemaligen KKW Greifswald

Das ZLN ist das derzeit einzige Zwischenlager des Bundesregierung – noch dazu das größte bundesweit – und bewahrt rund 6000 Tonnen Atommüll bis zur Endlagerung auf. Alleiniger Gesellschafter des Unternehmens ist das Bundesfinanzministerium. Die EWN beschäftigen etwa 800 Mitarbeitende am Standort Lubmin/Greifswald. Sie sind vornehmlich dafür zuständig, die abgeschalteten Kernkraftwerke Greifswald und Rheinsberg (Brandenburg) zu demontieren. Auch im internationalen Atombetrieb beteiligen sich die EWN: Mitarbeitende sind auch in Russland eingesetzt, um bei der Demontage von Atom-U-Booten mitzuwirken.

Herr des atomaren Mülls ist Dieter Rittscher. Der Geschäftsführer der EWN begrüßt uns in seinem Konferenzraum. Wir nehmen Platz, uns gegenübersitzend, die Hände gefaltet, den Körper zurückgelehnt, beginnt der 65-jährige das Gespräch mit „Fragen Sie mich ruhig“. Der Ingenieur hat bereits drei Umweltminister hinter sich, das betont er während des Gesprächs des Öfteren. In seinem Posten als Geschäftsführer fühlt sich sehr wohl, dort wird er wohl auch noch eine Weile bleiben bis ein Nachfolger kommt. „Die, die aus der Region kommen, wissen, dass ich lange nichts falsch gemacht habe“, bekundet er stolz.

Bevor er 1996 zu den EWN kam und in den Vorstand einberufen wurde, entwickelte Rittscher die Behälter für atomaren Müll mit. „Ermöglicht wurde die Erfolgsgeschichte des CASTOR-Behälters durch die kreative Vorarbeit von Dieter Rittscher und (…), die in den späten 1970ern bei der GNS [Gesellschaft für Nuklear-Service mbH, Anm. d. R.] für die Entwicklung und Gestaltung verantwortlich waren“, bestätigt uns Michael Köbl, Leiter Kommunikation und Marketing der GNS.

Radioaktiver Abfall in den Hallen des Zwischenlager Nord

Neben radioaktivem Material aus Greifswald und Rheinsberg sollen nun auch radioaktive Substanzen aus Südfrankreich im ZLN gelagert werden. „Das ist Material, das wir zurück nehmen müssen. Das gehört dem Staat. Die Rücknahmeerklärungen sind damals von der Bundesregierung unterschrieben wurden“, erklärt Rittscher und betont dabei oftmals: „Diese Entscheidungen sind damals unter Rot-Grün gefallen.“ Insgesamt vier Behälter sollen bis Ende des Jahres aus Caderache (Frankreich) kommen und dabei ihren Weg quer über das deutsche Schienennetz nehmen. „Die Franzosen bestehen darauf, die Zeit ist abgelaufen. Wir haben ein Schreiben bekommen, dass wir das zu machen haben“, so Rittscher weiter. Zudem sind Transporte von hochradioaktivem Abfallmaterial aus den Forschungsanlagen Mol, Karlsruhe und Geesthacht genehmigt worden. Auch dieses Material gehört dem Bund.

Alle Transporte ins ZLN müssen durch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und durch die verantwortlichen Landesministerien genehmigt werden, obwohl lediglich nur Sicherheitsaspekte überprüft werden. Momentan seien Rittscher noch keine Termine für die Transporte bekannt. Er rechne jedoch damit, dass nicht alle dieses Jahr stattfinden werden. Bezahlt wird das Ganze übrigens über den Fiskus.

Dieter Rittscher, Geschäftsführer der Energiewerke Nord (EWN) und gleichzeitig Herr des Atommülls

Wenn die Castoren durchs Land rollen, wollen sie nicht fehlen: Keinesfalls möchten nur die Greifswalder Anti-Atom Aktivistinnen und Aktivisten mobil gegen die Transporte machen. Um sich selbst von der Sicherheit der Schienen zu überzeugen, organisierten sie zusammen mit der Rostocker Anti-Atom-Initiative vorab einen Spaziergang entlang einer der potenziellen Transportstrecken. Man traf sich an einem schönen Samstag-Nachmittag am Greifswalder Südbahnhof, jedoch wurden es kaum mehr als eine handvoll, was vermutlich an mangelhafter Kommunikation nach außen und zu anderen Gruppen lag. „Eine der beiden Strecken wird es sein – entweder es kommt über Berlin oder über Rostock“, erzählt uns Adelwin, Student der Uni Rostock. „Wir denken allerdings, dass das ganze eher über Rostock läuft, weil es über Berlin selbstverständlich nochmals schwieriger sein würde, die Transporte nach Lubmin zu bringen.“ Gemächlich ging es bis kurz vor den Hauptbahnhof, dann Richtung Jugendzentrum „klex“ zu Kaffee und Kuchen. Solch friedliche Demonstrierende wünscht man sich sicherlich überall – auch wenn die Polizei das Happening mit Argusaugen überwachte und zwischendurch eine Verwarnung an einen Aktivisten aussprach.

„Dass die Vorbereitungen vonseiten der Polizei laufen, ist ja logisch“, erklärt Axel Falkenberg, Pressesprecher der Polizeidirektion Anklam. „Der Minister hat sich schon zu dem Thema geäußert – ansonsten kann und möchte ich dazu noch nichts weiter sagen“, fügt er knapp hinzu. Die Aussagen, die Falkenberg meint, sind Ergebnisse eines Interviews des Nordkuriers mit dem Landesinnenminister Lorenz Caffier (CDU). Dort ist die Rede von „intensiven“ und „auf Hochtouren“ laufenden Vorbereitungen zwischen der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern und der Bundespolizei. Das heißt konkret, dass zwischen 5 000 und 6 000 Mitarbeitende von Bund und Ländern eingesetzt werden. Das Land Mecklenburg-Vorpommern trage in diesem Falle ebenfalls die Kosten für die Einsatzkräfte.

Schon während der neunziger Jahre war die Thematik um das Zwischenlager Nord brisant und kontrovers. So blockierten im November und Dezember des Jahres 1992 einige Aktivistinnen und Aktivisten von Greenpeace mehrmals das stillgelegte Atomkraftwerk in Lubmin, um gegen den Export von 120 ungenutzten Brennelementen in die Slowakei zu protestieren. Knapp vier Jahre später wurde erneut das Gelände besetzt, um den Transport von 235 Brennelementen nach Ungarn zu stoppen.

Rittscher lehnt sich gelassen zurück und äußert sein Unverständnis gegenüber den AKW-Gegnerinnen und Gegnern. Und doch ist er sich sicher: „Wir sind nicht Gorleben.“ Während auf Bundesebene über die Zukunft der Atomenergie in Deutschland diskutiert wird, sich Tausende von Atomgegnern für Transporte in das niedersächsische Gorleben rüsten und die Bundesregierung die Laufzeiten von Atomkraftwerken verlängert, passiert in Vorpommern wenig. Viele Bürger haben sich mit dem Müll arrangiert, sichert er doch Arbeitsplätze und gehört mittlerweile einfach zum Panorama der Region dazu.

Zwischenlager Nord

Rittscher ist von der Atomenergie als unverzichtbare Energieressource überzeugt. Einen Ausstieg aus der Atomindustrie halte er „für den falschen Schritt.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Deutschland als Industrieland auf Kernenergie verzichten kann. Ein Land, das glaubt nur auf alternative Weise Strom zu erzeugen – das wird nicht klappen. Ich bin der Meinung, die Kernenergie ist beherrschbar“, so Rittscher. „Es hat ja keinen Zweck unsere sicheren Kernkraftwerke abzuschalten, wenn in allen anderen Ländern KKWs weiter laufen“, fährt er fort. Im Falle einer Abschaltung von allen deutschen atomar-betriebenen Kraftwerken würde womöglich „die Wirtschaft über uns hinwegrollen.“ Und außerdem seien die laufenden Kernkraftwerke in Deutschland im internationalen Vergleich auf höchstem Niveau, einzig und allein das Endlagerproblem müsse gelöst werden.

Geht es nach der EWN, soll der Müll bis 2090 aus Lubmin verschwunden sein. Doch derzeit gibt es nur ein genehmigtes Endlager im Schacht Konrad bei Salzgitter. Dieses gehört wiederum dem BfS. Dort soll der schwach- und mittelradioaktive Müll seine Endstation finden, das entspricht rund 90 Prozent des Zwischenlagerbestands in Lubmin. Schacht Konrad soll dann bis zu 303 000 Kubikmeter Abfälle aus Kernkraftwerken und Forschungseinrichtungen aufnehmen. Die bisher geplanten Kosten belaufen sich auf 1,6 Milliarden Euro.

Für den hochradioaktiven Müll gibt es bislang keine finale Lösung und selbst im Endlager Konrad wird es, wie nun bekannt wurde, Verzögerungen bei der Fertigstellung geben. Die Hallen des ZLN würden ausreichen, wenn das Endlager Konrad bis 2015 fertig gestellt wird“, äußerte Rittscher gegenüber der OZ. Nun heißt es vonseiten des BfS, dass dies erst 2019 der Fall sein könnte. Die Bundesregierung will die Verzögerungen überprüfen und beauftragte die EWN damit. Die Untersuchung soll klären, wie es zu diesem Verzug kommen konnte und wer daran Schuld trägt: entweder Bauherr oder Baufirma. Derzeit streiten der Betreiber der Anlage, das BfS, und die von ihm beauftragte Baufirma, die Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe (DBE), über die Verantwortlichkeiten. Allerdings sind die EWN ihrerseits zu 25 Prozent an der DBE beteiligt, deren Vorgehen sie nun prüfen sollen. Sollte es tatsächlich zu einer Verspätung bei der Fertigstellung kommen, fielen auch für das ZLN höhere Kosten an. Genau deshalb prüfe die EWN die Vorwürfe, teilt uns Pressesprecherin Philipp mit. Was die Kapazitäten des Lagers anbetrifft, so sagt sie: „Das schaffen wir!“

Zudem gibt es aktuelle Pläne der Bundesregierung, Endlager wie Gorleben zu privatisieren. Betreiber könnten die EWN sein, hieß es in der Süddeutschen Zeitung vom 24. September. Das Blatt berief sich bei seinen Aussagen auf einen Gesetzentwurf aus dem Bundesumweltministerium. Demnach sei geplant, das BfS zu entmachten und stattdessen EWN Aufsicht und Management zu übertragen. Regierungssprecher Steffen Seibert bestätigte zwar die Pläne des Umweltministeriums, aber diese seien wieder vom Tisch. Auch die EWN befürchtet nicht, dass es so weit kommt. „Die EWN sind schon lange mit 25 Prozent an der DBE beteiligt. Das ist eine Gesellschaft, die im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz den Ausbau des Schachts Konrad als Endlager durchführt. Jetzt entsteht der Eindruck, die EWN beschäftigen sich mit der Endlagerung, Unsinn. Dies macht allein die DBE.“, so Rittscher gegenüber der OZ. Hintergrund ist eine Novelle des Atomgesetzes. Darin soll klarer gemacht werden, wer die Aufsicht hat. Bisher obliegt den Bundesbehörden die volle Verantwortung für die Beseitigung radioaktiver Abfälle. Dies gilt sowohl für die Errichtung, den Betrieb und die Stilllegung von Endlagern als auch für die Aufsicht über die Einhaltung der dafür geltenden atom- und strahlenschutzrechtlichen Regelungen. Dabei ist eine klare Trennung zwischen Betrieb und Aufsicht sichergestellt. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) errichtet und betreibt die Endlager. Die atomrechtliche Genehmigung hierfür erteilt die zuständige Landesbehörde. Und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) übt die umfassende Fach- und Rechtsaufsicht über das BfS aus.

Dass die Lagerkapazitäten des ZLN fast vollständig ausgereizt sind, daran wird sich langfristig nichts ändern. Solange für die Endlagerproblematik keine Lösung gefunden wird, werden die Sirenen noch des Öfteren in die 200 Meter tiefe Halle schallen – hoffentlich nie bei einem gefährlichen Feueralarm.


Eine Reportage von Luisa Pischtschan, Daniel Focke und Annegret Adam. Die Bilder wurden von Patrice Wangen (Karte), Erik Schuhmacher (Zwischenlager) und EWN (Rest) zur Verfügung gestellt.

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