Eine Woche in der Parallelwelt der Medizinstudenten.

An diesem Morgen betrete ich den Hörsaal 5 im Audimax etwas gehetzt und suche nach dem einzigen mir bekannten Gesicht im Raum. Alle Studenten haben sich in den obersten Sitzplätzen des Hörsaals nebeneinander gesetzt und dabei die ersten vier bis fünf Reihen von unten frei gelassen. Etwas außer Atem von der Fahrt auf dem Fahrrad, verschaffe ich mir einen Überblick über die Leute im Saal und erkenne das Gesicht von Lydia. Dass im Hörsaal 5 für gewöhnlich die ersten Reihen frei bleiben, ist für mich nichts Neues, schließlich hatte ich schon einige Vorlesungen in diesem Hörsaal besucht.

Jedoch ist dieses Mal etwas anders. Es sind nicht meine Kommilitonen, die dort hinten den Worten des Professors lauschen. Neuer Vorlesungsstoff, vollkommen neue, meistens lateinische Begriffe, deren Aussprache ich nicht beherrsche und deren Bedeutung ich nicht kenne. Das ist also meine erste Medizinvorlesung – Physiologie und Biochemie. Wie sieht die fremde Welt der Mediziner aus? Um diese Frage zu beantworten, begleite ich ab heute Medizinstudentin Lydia und tausche für die kommende Woche meine Kommunikations- gegen Anatomiebücher.

Lydia, 22 Jahre aus Lößniz, habe ich vor knapp einem Jahr bei dem Geburtstag ihrer Mitbewohnerin kennen gelernt. Lydia ist im vierten Semester ihres Medizinstudiums und steht bald vor dem Physikum, der ersten ärztlichen Prüfung. Mit diesem Semester soll der erste Teil ihres Studiums beendet werden, die Vorklinik, wo sie die Grundlagen der Medizin erlernt, wie Anatomie, Physik, Chemie und Physiologie. Danach fängt der aufregende Teil ihres Studiums an – die Klinik. Das bedeutet drei weitere Jahre voll gestopft mit viel praktischer Erfahrung und Vorlesungsstoff, ärztlichen Visiten an verschiedenen Stationen, vielem hin und her rennen und mit noch mehr Klausuren.

Natürlich muss das ganze Wissen erst noch durch einen entsprechenden Lernaufwand verinnerlicht werden. Dann noch ein praktisches Jahr und sie kann endlich ihren Beruf ausüben. Mit dem Physikum erwartet sie nun viel Arbeit: Freizeitaktivitäten minimieren; die besten Freunde durch die Lerngruppen ersetzen; Strand und Meer vergessen; die Sonne auf dem Weg zu Vorlesungen und Seminaren genießen, die Bibliothek als Wohnung nutzen; Scheine sammeln; viel lesen, nachdenken und lernen: Wer hätte gedacht, dass ein Studium so anstrengend sein kann.

Es ist acht Uhr und der Tag beginnt mit den verschiedenen Gefäßen des Menschen, koronarer Herzkrankheit und der Adhäsion von Leukozyten. Als Geisteswissenschaftler bin ich etwas überfordert und meine Konzentration will sich auch nicht so richtig einstellen. Durch die Abbildungen auf den Folien des Professors kommt mir der Gedanke, dass so eine Vorlesung eine gute Therapie für Raucher sein könnte. Wenn so eine Vorlesung einem Raucher nicht helfen kann, dem Tabak abzuschwören, könnte ihm das Betrachten der Raucherlungen beim Besuch der Anatomie vielleicht helfen.

Alle in weißen Kitteln, so klassisch wie man sich einen Mediziner vorstellt, beäugen wir die Körper auf den Tischen. Mittlerweile ist es Nachmittag geworden und das Lernen im Präparationssaal steht auf dem Plan. In dem Saal komme ich mir wie ein Außerirdischer vor. Trotz muffiger Luft und vieler Leichen, die die verschiedenste Schnitte haben, Längs-, Quer- und Frontalschnitte, versuche ich cool zu bleiben. Während die Medizinstudenten vorher auf den Präparationskurs vorbereitet werden, fühle ich mich wie in kaltes Wasser geschmissen. Ohne Hemmungen betrachten sie mit ihren Instrumenten die Organe und Knochen der Leichen aus jedem möglichen Blickwinkel und versuchen, bestimmte Nerven oder Gefäße aus ihren Büchern zuzuordnen. Schließlich müssen sie für die Anatomieprüfung alles wissen.

Lydia wollte für das Physikum alles wiederholen. Nach ungefähr einer Stunde müssen wir gehen. Lydia möchte mich auf ein Eis einladen, doch ich lehne dankend ab. Bevor ich wieder etwas essen kann, muss ich erstmal das Gesehene verarbeiten. Von Antje, einer anderen Medizinstudentin, erfahre ich, dass man trotz aller Wertschätzung für die Körperspender manchmal anfing, Dinge mit „Lernutensilien“ zu assoziieren. Zum Beispiel in der Mensa: „Das Fett der Leiche erinnerte mich damals an Vanille Pudding.“

Es ist nicht ungewöhnlich, um acht Uhr morgens Vorlesung zu haben. Ungewöhnlich, zumindest für die meisten Geisteswissenschaftler, ist es aber, wenn man jeden Tag, die ganze Woche um acht Uhr Vorlesungen besuchen muss. Statt nach der ersten frühmorgendlichen Vorlesung an diesem zweiten Tag mit Lydia selbstständig im Präparationssaal zu lernen, steht ein vierstündiges Anatomieseminar auf dem Plan. Vor dem Biochemieseminar am Nachmittag werden wir noch etwas Zeit für eine Mittagspause haben. Ein Tutorium für das Physikum ist für den Abend geplant. „Manchmal wünsche ich mir Langeweile“, sagt Lydia auf dem Weg zwischen zwei Veranstaltungen resigniert.

Es ist 18 Uhr geworden und ein anstrengender Tag neigt sich dem Ende zu. Noch scheint die Sonne und lädt mit ihren letzten warmen Strahlen zum Erholen am Hafen ein. Aber eine Auszeit und keine Vorarbeit für die nächsten Veranstaltungen zu machen, wäre vor dem Physikum eine Sünde. „Ein anderes Mal“, sagt mir Lydia. Sie muss sich für das morgige Praktikum vorbereiten. Denn so eine Vorarbeit ist für Mediziner sehr wichtig. „Sonst lohnt es sich nicht zum Seminar oder Praktikum zu gehen. Dabei sollte man immer aktiv sein und alles verfolgen können. Außerdem kann auch passieren, dass man nach dem Seminar oder während des Praktikums vom jeweiligen Leiter ein überraschendes Testat bekommt“, erzählt sie. Außerdem herrscht bei den Seminaren Anwesenheitspflicht.

Am nächsten Tag fahren wir nach Karlsburg. In diesem kleinen, von Greifswald etwa 20 Kilometer entfernten Ort, liegt das Institut für Physiologie der medizinischen Fakultät. Es ist ein wunderbarer Tag, recht warm für den April. Die Sonne hat schon um zehn Uhr geschienen. Wir müssen aber zum Physiologieseminar und im Anschluss zum Praktikum. Hier machen die Studenten Selbstversuche: ein Student setzt sich auf einen Drehstuhl und nach mehrminütiges Drehen wird sein Gleichgewichtsorgan getestet. Für jede Sitzung findet sich dabei ein „wissenschaftliches Opfer“ aus der Praktikantengruppe.

In der Restwoche erwarten uns noch eine Vorlesung und ein Biochemiepraktikum, bis Lydia und ich endlich in das Wochenende entlassen werden, um die Akkus wieder aufzuladen. Mittlerweile hat Lydia ihr medizinisch-studentisches Schicksal akzeptiert. Schließlich läuft es stressreich seit dem ersten Semester. An die 36 Semesterwochenstunden damals musste sie sich von Anfang an ohne Widerstand gewöhnen. Wenn die Mehrheit der Geisteswissenschaftler feiert, muss sie lernen. Sie verhält sich so, wie die meisten Medizinstudenten: sie ist selten auf Partys, vor allem nicht wenn „Hochbetrieb“ herrscht. Und der hat eigentlich gleich nach der Erstiwoche damals begonnen.

Ist Feiern ungesund für das Medizinstudium? Wie auch immer die Antwort lautet, als normaler Student braucht auch Lydia den Ausgleich im studentischen Alltag. Sie besucht Hochschulsportkurse, surft, trifft sich mit Nicht-Medizinerfreunden (die anderen sieht sie ja jeden Tag an der Uni), geht ins Kino oder ins Café. „Wir gehen aber auch ab und zu mal in den Mensa-Club“, sagt sie mit einem Lächeln. Lydia findet es nur manchmal ärgerlich, wenn sie auch früh am Samstag in die Anatomie muss, um sich auf Prüfungen vorzubereiten. „Wie dämlich ist es, früh morgens lernen zu gehen und die Ampeln sind noch aus. Um halb sieben am Samstag aufstehen, damit man sich früh im Präparationssaal Leichen angucken kann, während die anderen Schnapsleichen noch aus dem ‚Treffer‘ nach Hause wanken“.

Schließlich will Lydia Ärztin werden, seitdem sie in der vierten Klasse war. Für mich wäre das jedoch nichts. Dennoch hat es mir Spaß gemacht, einmal einen Blick in eine andere fremde Welt werfen zu können. Und wenn mir ein Mediziner aus meinem Freundeskreis sagt, ich solle nicht so viel über mein Studium jammern, dann nehme ich das sehr ernst.

Eine Reportage von Gjorgi Bedzovski und Katharina Schattenberg mit Bildern von Maria Strache.

Eine Reportage von Gjorgi Bedzovski und Katharina Schattenberg