Aufbruch in ein neues Leben

Ich habe ihn immer noch. Etwas abgegriffen und geknickt steckt er in meinem Portemonnaie zwischen Bahn- und Girokarte: mein Studentenausweis. Ich drehe und wende die unscheinbare Karte, die zu einer anderen Zeit gehört. Wegwerfen könnte ich sie, denn das Gültigkeitsdatum ist schon lang überschritten. Doch ich stecke sie wieder zurück. Zurück zu anderen Karten, Fotos und Erinnerungen.

„Ihre Studienzeit ist hiermit offiziell abgeschlossen.“ Die Worte des Studiendekans gehen mir nicht aus dem Kopf. Die Rede von Professor Schneider hallte auf der Absolventen-Feier Ende des letzten Jahres durch die historische Aula in Greifswald und brachte das auf den Punkt, was ich nicht wahrhaben wollte. Über fünf Jahre Studentenleben mit unzähligen Partys, tollen Menschen, prägenden Erfahrungen und unvergesslichen Stunden sind vorbei. Aus, Schluss, Ende. Die Erinnerungen an die schönen Momente in Greifswald können mir noch immer die Tränen in die Augen treiben.

Meine Sitznachbarin schaut mich irritiert an. Vielleicht hat sie die Tränen in meinen Augen gesehen. Vielleicht will sie mich trösten. Doch ihrem Blick folgen keine Worte. Ich bleibe allein mit meinen Gedanken. Allein im Zug nach Wismar. Zu meiner Arbeitsstelle, zu meinem neuen Leben. Seit einem halben Jahr bin ich nicht Studentin, sondern Volontärin. Vieles ist seitdem anders. „Nächste Haltestelle Wismar.“ Die Zugansage scheppert durch den Lautsprecher und reißt mich aus meinen Gedanken.

Vor über sechs Monaten habe ich den gleichen Weg zu meinem Bewerbungsgespräch zurückgelegt. Es war nicht meine erste Fahrt zu einem vermeintlich zukünftigen Arbeitgeber. Mein neuer Hosenanzug, den ich mir für die bevorstehenden Gespräche zugelegt hatte, kam das erste Mal in Delmenhorst zum Einsatz. Eine lange Bahnfahrt, ein kurzes Frage- und Antwortspiel und Ernüchterung waren das Ergebnis der ersten Einladung zu einem Gespräch. „Vielen Dank. Sie hören von mir.“ Absage Nummer eins.

Eine zweite Fahrt führte mich nach Berlin. Es galt eine Trainee-Stelle zu ergattern. Nach Auskunft meines Gegenübers im Bewerbungsgespräch gab es über 130 Bewerber. „Nur zehn haben wir eingeladen.“ Ich war dabei. Doch die Gewinnerin im Kampf um eine gering bezahlte Stelle mit noch geringeren Übernahmechancen war ich nicht. Die Absage erhielt ich eine Woche später. „Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute auf Ihrem beruflichen Werdegang.“ Danke.

In der Stadt Brandenburg folgte die nächste Probe. Ein Anzeigenblatt suchte einen Redakteur. Einsatzort: Rathenow. Aufgabengebiet: Artikel schreiben über Kaninchenzüchter, die größten Sonnenblumen und die schönsten Kleinstadtereignisse. Ich hoffte auf eine Absage und bekam eine Zusage. Was tun? Eine Arbeit annehmen, die mich nicht glücklich macht? Ablehnen in Zeiten, in denen auch Akademikern Hartz IV winkt?

Ich lehnte ab. Schweren Herzens, doch mit der Hoffnung auf eine andere Stelle. In Wismar hatte ich gute Aussichten Volontärin in der Presseabteilung eines Museums zu werden. Das Gespräch lief gut. Die Atmosphäre stimmte. Ein Anruf brachte schließlich Gewissheit. Ich hatte den Job ergattert und schlitterte direkt aus dem Studentenleben in die Arbeitswelt.

Wismar ist seitdem meine neue Heimat. Ich gehe vom Bahnhof direkt auf den Hafen zu. Die Schiffe drängen sich aneinander. Möwen kreisen in der Luft. Es erinnert an Greifswald. Und doch ist es anders und fremd. Bekannte, die mir in Greifswald an jeder Ecke begegneten, gibt es nicht. Freunde, mit denen ich mich kurz in der Mensa treffen kann, fehlen. Kulturelle Angebote, die das studentische Leben in Greifswald so bereichern, müssen in Wismar lange gesucht werden. „Du solltest mit deiner Studienzeit abschließen. Freue dich auf das Neue“, rät mir eine Freundin. „Ja, du hast recht“, sage ich. Leichter gesagt als getan, denke ich.

Das Arbeitsleben lässt kaum Zeit zum Nachdenken und Luft holen. Eine 40-Stunden-Woche frisst die Freizeit, die ein Student in der Mensa, beim Kaffeeklatsch mit Freunden oder beim Sonnen am Museumshafen vertrödeln kann. Neidisch schaue ich auf Touristen, die gerade über die Straße schlendern. Sie gehen zum nächsten Geschäft und bummeln. Ich beeile mich, um gleich die nächsten Stunden in einem tristen Büro zu sitzen.

Selbstbestimmung weicht der Fremdbestimmung. Was bleibt sind die Wochenenden und die Freude auf den nächsten Urlaub. Auch der Blick auf den Kontoauszug tröstet. Eigen verdientes Geld macht stolz, doch reich noch längst nicht. Mein Haus, mein Pferd, mein Auto? Irgendwann vielleicht. Als Volontär genügt das Gehalt allenfalls zum Überleben, mehr nicht. Vielleicht gehört das zum Schicksal eines Geisteswissenschaftlers. Vielleicht ist es auch nur ein Zeichen der Zeit, in der die Generation Praktikum um jede noch so schlecht bezahlte Stelle buhlt.

Ich habe über 30 Bewerbungen geschrieben. Mein Lebenslauf, geschmückt mit zahlreichen Praktika, freien Mitarbeiterstellen und einem Auslandssemester, überzeugte nur sechs Unternehmen mich zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. „Geisteswissenschaftler haben es auf dem Arbeitsmarkt nicht leicht.“ Hundertmal gehört, hundertmal ignoriert. Und doch ist die Aussage erschreckend wahr. Freunde, die zeitgleich mit mir ihr Studium abgeschlossen haben, suchen noch immer. „Keiner hat uns wirklich auf die Krise nach dem Studium vorbereitet“, sagt eine Freundin, die noch immer von Praktikum zu Praktikum eilt.

Ein abgeschlossenes Volontariat öffnet neue Türen. So steht es in einem der vielen Berufsratgeber, die ich in meiner Bewerbungszeit gewälzt habe. Ich möchte diesem Buch so gern glauben. Meine Arbeit ist im Moment nicht die Stelle, die ich mir erträumt habe. Und dennoch brauche ich sie, um Geld zu verdienen, nicht in die Hartz IV-Welt zu rutschen und Berufserfahrung zu sammeln. Kündigen kann ich nicht. Durchhalten ist das Ziel. Pressemitteilungen schreiben, Veranstaltungen vorbereiten, Konzepte erstellen. Meine Aufgaben klingen in der Theorie gut, halten der Praxis aber nicht stand. Der Arbeitsalltag besteht aus viel Leerlauf und der Erkenntnis, dass das Vereinbaren von Privat- und Arbeitsleben nicht immer leicht ist.

Ich schließe das Büro auf. Mein erster Gang führt mich zum Computer. Der Arbeitstag beginnt. Doch in meinen Gedanken bin ich noch weit weg. In Greifswald, bei meinen Freunden und meinem Freund. Beinahe jedes Wochenende fahre ich zurück an den Bodden. Ob das in Zukunft so bleiben wird, bleibt abzuwarten. Viele meiner Freunde verlassen Greifswald Richtung Süd oder West. Fehlende Arbeitsmöglichkeiten zwingen sie, die Hansestadt für immer zu verlassen. „Ich würde so gern hierbleiben“, schluchzt eine Freundin bei ihrer Abschiedsfeier. „Ich auch“, antworte ich und fahre am nächsten Tag wieder weg.

Ich schlucke den Kloß im Hals hinunter. Das Telefon klingelt. Die Arbeit beginnt.

Acht Stunden später wartet ein leeres WG-Zimmer auf mich. Und ein Telefonat mit meinem Freund, der an der Zukunft unserer Fernbeziehung zweifelt. Ich weine, er seufzt. Uns trennen nur 150 Kilometer und doch scheinen Welten zwischen uns zu liegen.

Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um kurz vor sieben. Draußen ist es dunkel und kalt. Als Student könnte ich mich umdrehen und weiterschlafen, so wie meine Mitbewohner. Doch meine Chefin wartet. Sie ist nett. So wie alle meine Kollegen. Dennoch fühle ich mich nicht wohl. Liegt es an den Ein-Euro-Jobbern, die im Museum aushelfen, sich lautstark über Vater Staat beschweren und schlechte Stimmung verbreiten? Oder an der alten heruntergekommenen Schule, in dem sich unsere Büros befinden? Oder vielleicht an der Aussicht, dass das geplante neue Museum auch im nächsten Jahr nicht fertig wird? „Du musst das Positive sehen. Du verdienst Geld und machst Berufserfahrungen, die dich später einer besseren Stelle näher bringen“, sagt mir eine Freundin. „Hoffentlich.“

Fünf Tage und 40 Arbeitsstunden später sitze ich wieder im Zug nach Greifswald. Ich lasse Wismar, Rostock und Stralsund hinter mir. Doch die trüben Gedanken bleiben. Der Weg in die Arbeitswelt ist steiniger als ich dachte. „Nächste Station Greifswald.“ Ich bin wieder zurück. Der Dom ragt in den dunklen Abendhimmel. Mein Freund holt mich ab. Alles scheint wie immer. Doch meine Wohnung in Greifswald ist schon längst neu vermietet. Viele Freunde sind weg. Ich bin nicht mehr ein Teil der Studentenstadt, die früher mein zu Hause war.

Meine Heimat ist die Stadt, in der ich geboren bin: Cottbus. Mein zu Hause ist hingegen dort, wo mein Herz schlägt. Wo ist das? Im Moment irgendwo zwischen Wismar, Rostock und Greifswald. Und irgendwann vielleicht ganz woanders. Ich schreibe weiterhin Bewerbungen. „Sehr geehrter Herr X, hiermit bewerbe ich mich um die Stelle Y.“ Die Suche nach der passenden Arbeit, dem richtigen Weg durch das Leben und letztlich dem einen zu Hause ist anstrengend. „Sind Sie eine dynamische, flexible und teamorientierte Mitarbeiterin? Dann melden Sie sich bei uns.“

Die Arbeitsangebote ähneln sich und die Anforderungen sind hoch. Morgen kann¬ schon das Bewerbungsgespräch sein und übermorgen Arbeitsbeginn. Auf gepackten Koffern sitzen. Das ist wohl die hoch gepriesene Dynamik, die den Akademikern abgefordert wird. Mein Klingelschild ist vorsorglich nur ein mit Tesafilm angeklebtes Papier. Für den Fall, dass mich morgen ein neuer Job an einen anderen Ort führt. Tesafilm ab, Koffer in die Hand und los.

Wir laufen durch Greifswald. Ich freue mich auf das Wochenende. Zeit zum Durchatmen. Ein Bekannter spricht mich an. „Lang nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“ Ich lächle und sage: „Danke, gut. Ich habe Arbeit und verdiene Geld. Was will man mehr.“ Mehr? Ich will mehr. Ich will eine Arbeit, die mich fordert. Einen Freund, der hinter mir steht. Freunde, mit denen ich mich zum Kaffee trinken und nicht nur zum Telefonieren verabreden kann. Kulturelle Angebote, die mir Wismar nicht bieten kann. Doch all das sage ich nicht. Ich lächle und gehe weiter. Weiter in eine ungewisse Zukunft.

Autorin der Redaktion bekannt