Im Rahmen unserer Serie “Greifswalder rund um den Globus” erscheinen in loser Abfolge Berichte von Kommilitonen über Erfahrungen im Ausland. Dieses Mal berichtet Moritz-Autor Arvid Hansmann über seine Eindrücke von einer Studienreise nach Syrien und in den Libanon. Der Text erschien bereits im aktuellen moritz-Magazin Nr. 80, dort konnten jedoch nur wenige der sehenswerten Fotos untergebracht werden.

Als sich der Asket Simeon im frühen 5. Jahrhundert auf eine hohe Säule stellte und diese für den Rest seines Lebens so gut wie nie wieder verließ, konnte er nicht ahnen, dass an diesem Ort wenige Jahrzehnte später seinetwegen einriesiges Pilgerzentrum errichtet werden würde. Ebenso konnte er nicht ahnen, dass aus dieser Klosteranlage im nordsyrischen Kalksteinmassiv im Mittelalter eine Festung werden würde, was ihr den heute gebräuchlichen arabischen Namen Qalaat Simaan einbrachte. Noch weniger hätte er sich vorstellen können, dass aus den mehr oder minder frommen Pilgern im beginnenden 21. Jahrhundert Touristen geworden sind, die mit distanzierter Faszination oder romantischer Verklärung auf seine Vita blickten, den architektonischen Formenreichtum der Ruinen bewunderten oder einfach nur die bilde Briese und das grandiose Aussichtspanorama genossen …

Touristen – diesem Begriff haften sogleich diffamierende Assoziationen an: eine amöbiale Masse, meinst älterer Menschen, die sich aus einem Reisebus über eine „Sehenswürdigkeit“ ergießt und dabei von einem Reiseleiter mit einem Fähnchen dirigiert wird, um bei der Bedienung des perpetuum-mobile-artigen Fotoapparats nicht von den vorgegebenen Wegen abzuweichen. Auch wenn unsere Gruppe aus Rostocker und Greifswalder Studierenden und Dozenten, die am Abend des 2. Oktober 2009 in Damaskus eintraf, in vielen Punkten diesem Klischee widersprach, so waren wir doch nichts anderes als Touristen – Gäste von zwei kontrastreichen Ländern, die uns mit Offenheit empfingen und uns ein Spektrum aus Licht- und Schattenseiten aufzeigten, das wir nur in dem Maße rezipieren konnten, wie es in knapp 10 Tagen möglich war.

Reisen durch die Jahrtausende

Organisiert und durchgeführt wurde die Studienreise von Prof. Dr. Martin Rösel vom Lehrstuhl für Altes Testament in Rostock sowie dem Greifswalder Neutestamentler Prof. Dr. Christfried Böttrich, der zurzeit Dekan der Theologischen Fakultät ist. Neben einigen weiteren Dozenten setzte sich die Gruppe aus Studierenden der Theologie, Religionspädagogik, Archäologie und Kunstgeschichte zusammen. An dieser fachlichen Vielfalt war auch die Auswahl der Reiseziele orientiert. Die historischen Betrachtungen reichten von altorientalischen Stätten wie dem Siedlungstell Ebla über hellenistisch-römische Stadtanlagen wie Apamea bis hin zur mächtigen Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers. Wir steuerten abgelegene Orte an, wie den hethitischen Tempel von Ain Dara, der in seinen überschaubaren Ausmaßen vermutlich dem einstigen Salomonischen Tempel in Jerusalem entspricht und staunten über die Millionenmetropole Aleppo, die von einer riesigen Zitadelle aus dem 13. Jahrhundert beherrscht wird, zu Füßen derer sich einer der größten Souqs (Basare) des gesamten Orients ausbreitet.

In den Überresten der einstigen phönizischen Handelsstädte Byblos und Ugarit begaben wir uns an die Anfänge unserer Schriftkultur, da hier im 2. Jahrtausend v. Chr. erstmals aus der zeichenhaften Keilschrift ein Konsonantensystem entstand, auf dem – auch wenn man es kaum noch erkennen kann – unsere lateinischen Buchstaben ebenso basieren, wie die arabischen.

Da in der Gruppe nur einzelne des Arabischen mächtig waren, dienten uns unsere syrische Reiseleiterin Choula sowie ihr libanesischer Kollege Halim als unentbehrliche Vermittler und Organisatoren. Bereits bei der Auswahl der mittäglichen Verpflegungspunkte war Geschick gefragt, da die über 40 Teilnehmer der Reise nicht jeden kleinen Imbiss „überfallen“ konnten. Außerdem gaben beide detaillierte Einführungen zu den einzelnen historischen Stätten und kulturellen Räumen, sodass die zuvor in Blockseminaren ausgearbeiteten Fachvorträge der Studierenden lediglich im Hinterkopf präsent zu sein brauchten – wobei besonders das intuitive Universalwissen von Halim die leider nicht einmal zwei Tage im Libanon sehr bereicherte.

„Man muss noch Chaos in sich haben …“

Als er uns nach langen (oder auch nur künstlich in die Länge gezogenen) syrisch-libanesischen Grenzformalitäten begrüßte, konnten wir ob der Reiz- und Informationsfülle kaum durchatmen, bis wir das antike Heiligtum von Baalbek/Heliopolis erreichten. Dort empfing uns Prof. Dr. Konrad Hitzl, der dort in einem Forschungsprojekt eingebunden ist und zurzeit als Lehrstuhlvertreter die Reste der Greifswalder Klassischen Archäologie verwaltet. Die Leidenschaft und didaktische Kompetenz mit der er uns die größte Tempelanlage der römischen Welt in ihrer Hypertrophie ebenso wie in ihrer spielerischen Detailverliebtheit nahe brachte, konnte einen angesichts der Perspektiven des Faches in unserem akademischen Bildungssystem nur in Trauer versetzen.

In die Zeit, als Kaiser Wilhelm II. diese Stätte bereiste, fühlten wir uns im Hotel „Palmyra“ (nicht mit dem Ort zu verwechseln! – „Dat kriegen ma später…“) versetzt, dass nur für uns aufgemacht wurde und den Geist osmanischer und kolonialer Zeiten regelrecht zu atmen schien. Der im Libanon nur temporär vorhandene staatliche Strom setzte genau in dem Moment aus, als wir eine Andacht über Licht und Dunkelheit hielten. Beim Lied „Die güldne Sonne“ konnten wir uns die religionsgeschichtliche Entwicklung der Worte „Dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder“ vor Augen führen, wenn wir an den fast haushohen Opferaltar des Jupitertempels zurückdachten.

Als wir uns am nächsten Tag Richtung Beirut aufmachten und die Höhen des Libanongebirges passierten, zeigten sich die Differenzen zu Syrien immer extremer auf. Auch wenn die berühmten Libanonzedern aufgrund rabiater Abholzungen (man mag es kaum glauben, doch primär für die Bleistiftindustrie!) nur noch in Naturschutzgebieten existieren, so war es doch das satte Grün der Vegetation das einem hier zwischen der bis zur Küste immer dichter werdenden Bebauung entgegentrat. Neben dem vielgelobten Wein gab es hier sogar Bananen, was aber schon wenige Kilometer hinter der Grenze niemand mehr zu wissen schien, da hier wieder Chiquita & Co. den Markt dominierten.

Auch wenn wir faktisch nur einige Stunden in diesem kleinen Land waren, so wurde uns doch deutlich, das hier Menschen leben, die trotz aller widriger Umstände ihr Dasein bejahten und stets versuchten, die ihnen gegebenen Möglichkeiten konstruktiv zu nutzen. Sei es, indem sie mit verwitterten japanischen und deutschen Flaggen auf die „Qualität“ der angebotenen Autoteile hinwiesen, oder die Narben des Krieges von 2006 durch den Wiederaufbau von Autobahnbrücken und Wohnsiedlungen (z.B. in Tripolis) zu heilen versuchten. In diesem Land, das seit Monaten keine koalitionswillige Regierung hat, scheint der ethnisch-religiöse Pluralismus, der in häufigen, MG-geschützten Straßensperren ebenso zum Ausdruck kommt, wie in den unzähligen Werbeschildern und den Shopping-Malls, zu jenem „kreativen Chaos“ zu führen, das ein gesättigter Mitteleuropäer nur mit einem Anflug von Neid betrachten kann – wobei er sich jedoch sogleich der eigenen Überlebensunfähigkeit in dieser Welt bewusst wird.

„Sozialistische Volksrepublik Syrien“

Als wir noch am selben Abend in der syrischen Hafenstadt Lattakia eintrafen, hatten wir wieder eine erheblich geordnet-konservativere Welt erreicht. Syrien demgegenüber als „langweilig“ zu charakterisieren, sei aber strikt von mir gewiesen! Vielmehr ist es ein Land, das sich in einer gewissen Ambivalenz eingerichtet zu haben scheint. Hier gibt es die staatliche Ordnung – gestützt auf die „Erbpräsidentschaft“ des visuell allgegenwärtigen Baschar al-Assad (geb. 1965), der sich aber vielerorts, so schien es, aus dem Schatten seines Vaters Hafiz (1930-2000) noch emanzipieren muss. Doch gleichzeitig pulsiert hier ein orientalisch-merkantiles Leben, das „westliche Kulturgüter“ (die faktisch oft auch nur aus China kommen) ebenso preist, wie einen einheimischen Traditionalismus. Letzterer mag sich besonders an eben jene touristische „Zielgruppe“ richten, die auch wir verkörperten. Das rot-weiß karierte Beduinentuch wurde bald zum Accessoire mehrerer Mitreisender.

Dass der Tourismus auch als Wirtschaftsfaktor gesehen wird, wurde und nicht nur in Aleppo und auf der einstigen Johanniterburg Krak deutlich, wo wir nicht die einzigen Deutschen waren (auch in einer ansonsten leeren Kirche in Damaskus konnte man auf eine junge Familie treffen, die man ebenso bei einem Bildungsurlaub im Rheinland hätte verorten können).

Im Reich der Zenobia

Gerade in der Wüstenstadt Palmyra (Tadmor), die unser östlichstes Reiseziel darstellte, wurden einem die fast ägyptischen Ausmaße des Fremdenverkehrs deutlich. Die überraschende Kühle der frühen Vormittagsstunden war notwendig, damit die Transpiration der, in mehren Bussen angekarrten, Reisenden nicht die Fresken des Hypogäums (unterirdischen Grabes) angriff, in das sie sich zügig zwängten, um den mitunter aufdringlichen Souvenirverkäufern davor zu entfliehen.

Die dadurch geprägte Tageseinteilung zwang uns dazu, 12:00 Uhr mittags durch die Ruinen des riesigen Bel-Tempels und die Kolonnadenstraße zu wanken – was nur den Einheimischen nicht zuwider war, die uns auf einem Motorrad mit gekühlten Getränken verfolgten, in der Hoffnung, das jemand schwach würde. Doch die 1,5-Liter-Wasserflasche (die oft den eigentlich nicht gerechtfertigten, scheinbar hessischen Aufdruck „Drekish“ hatte) konnte einen noch bis zum nächsten Fixpunkt durchhalten lassen. Dies war hier, nachdem ich in den ergrabenen Fundamenten der weitläufigen antiken Stadtanlage mit Stolz die Grundrisse dreier frühchristlicher Kirchen ausgemacht hatte, das Hotel „Zenobia“. Benannt nach der einstigen Königin, die im 3. Jh. n. Chr. hier ein Sonderreich aus römischen und altorientalischen Synkretismen in Religion und Architektur errichtet hatte, war hier schon Agatha Christie eingekehrt, als sie ihren Mann bei einer Ausgrabung begleitete.

Als ich verstaubt und ermattet in das kühle Foyer dieses Hauses für die doch etwas besser betuchten Reisegesellschaften trat (wir hatten zuvor in dem bescheideneren „Ischtar“-Hotel genächtigt), kam ich mir etwas wie James Bond vor, der nach einer lebensbedrohlichen Actionszene cool zur Rezeption geht und die Schlüssel für seine Suite verlangt – doch ich setzte mich nur in den gläsernen Pavillon und bestellte keinen Wodka-Martini sondern ein Tonic, das sie aber trotz der scheinbar üppigen Speisekarte nicht da hatten, weshalb ich mich mit einer Cola begnügen musste, um mich etwas zu regenerieren, bevor es weiter zum Bus ging, wo die Rückfahrt nach Damaskus (vorbei an einem Abzweig in den Irak) für das Leeren der zweiten 1,5-Liter-Flasche genutzt wurde.

Ein Stakkato der Impressionen

Will man versuchen, diese nicht einmal zehn Tage im Orient zu resümieren, so bleibt natürlich zu sagen, dass für jeden der einzelnen Orte mehr Zeit vonnöten gewesen wäre. Für das enge, verwinkelte Straßennetz der Damaszener Altstadt, aus dem die große Omayyaden-Moschee mit ihrer langen Tradition an Vorgängerbauten wie der sprichwörtliche „Fels in der Brandung“ herausragt, hätte man locker noch eine Woche gebraucht. Man hätte immer wieder neue, oasenhafte Innenhöfe finden können, in denen bei traditioneller Musik kulinarische Kostbarkeiten aufgetischt wurden und der Blick an den rustikalen Mauern neben antikisierten Dekorelementen auch über Flachbildschirme mit lasziven Videoclips oder der europäischen Champions League wandern konnte.

Auch wenn wir nur punktuell in persönlichen Kontakt zu Einheimischen kamen (mit den beiden jungen Damen, die in dem Sergius-und-Bacchus-Kloster des christlichen Bergdorfes Maalula engagiert das Vaterunser in vermeintlich biblischem Aramäisch aufsagten, hätte ich mich gerne über ihre beruflichen und sonstigen Zukunftspläne unterhalten), so kann man sie nur als freundlich und hilfsbereit beschreiben. (Wie ich auf einem Moped durch die Gassen der Hauptstadt kutschiert wurde, um noch rechtzeitig unseren Bus am Bab Sharqi (dem Osttor der Altstadt) zu erreichen, wäre eine eigene Geschichte.)

Unserer studentischen Reisegruppe wird diese Fahrt wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Das Stakkato der Eindrücke sollte jedem den Anreiz geboten haben, die beiden so differenten Länder Syrien und Libanon eines Tages wieder bereisen zu wollen, wenn die materiellen und – „Insch’Allah“ – politischen Gegebenheiten es zulassen. Bis dahin wird das Nassgrau des mitteleuropäischen Herbstes und ein Besuch auf der Berliner Museumsinsel, mit dem „Aleppo-Zimmer“ und der Fassade des omayyadischen Wüstenschlosses von Mschatta uns ebenso in die melancholische Orientsehnsucht versetzten, wie eine Ikone des Hl. Simeon Stylitis.

Bilder:

Fotos: Arvid Hansmann

Grafik-Startseite: Jakob Pallus