Müsste ich einen Aufsatz über mein schönstes Ferienerlebnis schreiben, würde mir spontan wenig einfallen. Den Juli und August habe ich vollständig mit Lernen verbracht. Durchschnittlich acht Stunden, manchmal aber auch zwölf und mehr. Bis 24 Uhr sogar. Ich habe mir meine Hefter und die notwendigen Reader durchgearbeitet, endlich mal die empfohlene Lektüre der Literaturlisten gelesen – zumindest einige davon – habe mir Lernkarteikarten gemacht, gelesen, auswendig gelernt. Geholfen hat mir dabei der Inhalt einer kleinen Plastikdose. Weiße Hartkapseln. Mit der kaum lesbaren Aufschrift: NVR R20. Ritalin.

moritz-print-mm79-20-ritalin-berichtWo ein Wille ist…

Ritalin ist ein Medikament, welches bei der Behandlung von Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) zur Anwendung kommt und wegen seiner Suchtgefahr unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Auf Grund seiner konzentrationssteigernden Wirkung nehmen laut Umfragen bis zu 25 Prozent der Collegestudenten in den USA das Mittel, um besser durch Klausuren zu kommen.

Wochenlang habe ich versucht, daran zu kommen. Habe Biochemie- und Pharmaziestudierende belagert. Oder Bekannte, dessen kleine Brüder ADS haben und deshalb Ritalin bekommen. Da war nichts zu machen. Ich wollte als Selbstversuch für den moritz Ritalin nehmen, um zu sehen, ob ich mich besser konzentrieren könne, ob meine Noten besser wären und ob solche „Wundermittel“ tatsächlich helfen. Beinahe wäre mein Vorhaben gescheitert, da mir niemand weiterhelfen konnte. Eher zufällig traf ich Martin* (Anm. d. Red. Name geändert), bei dem ADS diagnostiziert wurde. Er nahm an einer ADS-Studie teil und übergab mir einen Teil seines Ritalinvorrats. Ging dann doch ziemlich einfach.

Der Beginn des R-Projekts

Zum Anfang war ich sehr skeptisch. Wenn ich die weiße Dose so sah, assoziierte ich sie eher mit einer Kaugummidose. Zehn Tage lang stand Ritalin neben meinem Bett – ich beäugte es hin und wieder, war neugierig, aber auch etwas ängstlich. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, was es bewirken würde. Irgendwie hatte ich die Vorstellung, dass es „Klick!“ machen würde – und auf einmal könnte ich lernen bis zum Umfallen, mir alles merken, nicht mehr abgelenkt sein. Ab und zu las ich die Verpackungsbeilage. Ganz schön viele Nebenwirkungen: Müdigkeit, Depressionen, Angst, Aggression, Schlaflosigkeit, verändertes Sehen und Wahrnehmung können unter anderem auftreten. Und dann noch dieser unaussprechbare Wirkstoff. Methylphenindathydrochlorid.

Ich zweifelte an meinem Vorhaben. Aber dann dachte ich: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und so nahm ich am 9. Juli meine erste Hartkapsel. Fuhr zur Uni, besuchte Lehrveranstaltungen. Es ging mir gut. Aber irgendwie merkte ich nichts. Kein Klick, kein Tunnelblick. Nur eine latente Müdigkeit. Das ganze Seminar über war ich extrem aufmerksam – aber ob das an meinem weißen, kleinen Geheimnis liegt? Nicht überbewerten, dachte ich mir. Später während des Seminars fragte mich ein guter Freund, was los sei. Ich schien etwas ruhiger zu sein als sonst. Nach kurzem Zögern gestand ich, dass ich mit der Ritalineinnahme begonnen hatte. Zur Tarnung nannte ich mein Vorhaben „R-Projekt“. Sollte ja keiner mitbekommen, dass ich so etwas nehme. Eingeweiht waren die wenigsten. Einigen, wichtigen Freunden habe ich davon erzählt. Viele von denen machten sich Sorgen, wenige sagten nichts weiter dazu, manche fanden es auch spannend. Wollten, dass ich das ärztlich begleiten lasse. Andere fragten, ob ich ihnen auch was abgeben könne. Meinen Eltern, meiner Familie habe ich von meinem Projekt nicht erzählt. Warum auch? Die hätten sich nur unnötige Sorgen gemacht. Oder auf mich eingeredet. Ebenfalls konnte ich auch einigen guten Freunden nicht davon erzählen. „Das sind doch alles solche Leistungsopfer“, hörte ich von einem meiner besten Freunde. Ja ja, dachte ich. Und?

Die erste Woche verlief ganz gut beziehungsweise besser als erwartet. Ich war zwar permanent niedergeschlagen und lethargisch, wurde von einem Müdigkeitsgefühl verfolgt. Abends konnte ich aber dafür nicht einschlafen. Dafür war ich zu munter. Außerdem hatte ich die ganze Zeit rote, oft glasige Augen. Und ich schwitzte etwas, was aber Anfang Juli nicht allzu ungewöhnlich ist. Martin meinte, dass ich Glück hätte. Die meisten hätten, gerade zum Beginn der Einnahme, gravierende körperliche Beschwerden. Ich schilderte Martin, dass ich das Gefühl hätte, mich tatsächlich etwas besser konzentrieren könne und fragte ihn, ob das ein Placebo-Effekt oder die Wirkung Ritalins sei. Er erwiderte, dass die Wirkung erst nach etwa zwei Wochen einsetzen werde. „Na toll!“, dachte ich. Permanent müde, viel zu ruhig sein, Schlafprobleme haben und dann bringt das noch nicht mal etwas? Zwei Tage später ging ich abends weg – und ich war ganz anders als sonst. Meist saß ich nur lethargisch neben meinen Freunden, hörte nicht zu. Konnte nichts erzählen. Nicht antworten. Keine lustige Bemerkung, kein lachen. Nichts. Stattdessen war ich einfach nur müde. Blieb aber dennoch – ich konnte ja sowieso noch nicht schlafen.

Bloß keinen Verdacht schöpfen

Mit dem Beginn der vorlesungsfreien Zeit verbrachte ich nun wirklich jeden Tag in der Uni-Bibliothek. Hier fand ich seit dem ersten Semester die nötige Ruhe zum Lernen. Zu Hause klappt es mit dem Lernen nicht. Den ganzen Tag schreien und spielen Kinder vor meinem Fenster. Dann ist da noch der Fernseher, das Internet. Die Wohnung, die mal wieder geputzt werden müsste. Die Küche. Also wurde die UB mein zu Hause. Gewappnet mit Ohropax und dem Lernstoff saß ich da, stundenlang. Dass ich besonders viel oder gut lerne, habe ich erst jetzt gemerkt. Ich war konzentriert, ich kam gut voran, ich konnte nicht mehr aufhören. Eigentlich hätte ich keine Pausen gebraucht – bin aber ab und zu mit Freunden Mittag essen oder Kaffee trinken gegangen. „Bloß keinen Verdacht schöpfen!“, dachte ich mir. Die meisten ahnten und wussten ja nichts von meinem Konsum. Oft habe ich erzählt, dass ich mich ebenfalls nicht konzentrieren könne, dass heute kein guter Lerntag sei. Dem war aber nicht so. Einmal angefangen, konnte ich mit dem Schreiben, Lesen und Lernen nicht mehr aufhören – obwohl der lang ersehnte Klick nicht kam. Mir tat jeden Tag meine Hand weh, ich habe mein Hungergefühl nicht bemerkt und konnte stundenlang ohne Unterbrechung durchlernen. Das war vorher nicht der Fall. Oft saß ich früher an den UB-Tischen – ohne Erfolg. Meine Gedanken waren woanders. Beispielsweise habe ich schon stundenlang darüber nachgedacht, wie man die Farbe der Tische exakt bezeichnen könne. Türkis? Grüngraublau? Hellblau? Dann kamen die Gedankensprünge, das Nachdenken über Probleme.

Ritalin statt Geburtstagskuchen

Das war mit Ritalin nicht mehr so. Ich war fokussiert. Einmal den Stift in die Hand genommen, konnte ich ihn nicht weglegen. Permanent war ich unentspannt. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht gelernt habe. Ein krankhaft schlechtes Gewissen. Selbst an meinem Geburtstag fragte meine Mutter den notwendigen Lernstoff ab – obwohl sie viel lieber mit mir Kuchen gegessen und amüsante Anekdoten aus meiner Kindheit erzählt hätte. Ich nicht, ich wollte lernen. Irgendwie war ich auch stolz darauf. Mich machten bewundernde Blicke und Bemerkungen meiner Freunde zufrieden. Ich bekam meine Selbstbestätigung und dachte, dass sich das ganze doch lohnt. Die kritischen und besorgten Stimmen von Freunden hörte ich schon gar nicht mehr. Körperlich ging es mir mal besser, mal schlechter. Ich fühlte mich nach wie vor müde, schwach, ich war oft schlecht gelaunt. Und vor allem ließ ich mein Unwohlsein öfter an Freunden aus.

Dennoch verzichtete ich während der Lernzeit nicht auf mein Privatleben. Tagsüber lernte ich wie besessen, abends feierte ich. Schlief dann zwei, drei Stunden und ging am nächsten Morgen wieder in die Universitätsbibliothek. Zum Frühstück gab es dann eine ausgewogene Mahlzeit, bestehend aus Ritalin, Aspirin und Koffeintabletten. Mal wieder bekam ich bewundernde Blicke von meinen Freunden. Eigentlich wird auf dem Beipackzettel ganz deutlich vermerkt, dass auf den Alkoholkonsum während der Ritalineinnahme verzichtet werden sollte. Ich hielt mich anfänglich daran, aber nicht allzu lange. Und erlebte einen der schlimmsten Abstürze meines Lebens. Fertig, mit mir und der Welt und allem, saß ich da, zusammengesunken, die Hand vor mein Gesicht haltend. Ein guter Freund von mir war da und ich rückte drucksend mit der Sprache raus – ohne ihn anzusehen. „Ich habe gar nicht so viel getrunken. Es ist nur … ich nehme Ritalin.“ – „Ich weiß, Micha hat es mir erzählt“, antwortete er und umarmte mich, während ich Micha, aber vielmehr Ritalin innerlich beschimpfte. Nach diesem Abend gönnte ich mir ein paar Tage Abstinenz vom ganzen R-Projekt, ich vermisste es nur minimal, freute mich aber dennoch, die weißen Kapseln nach einigen Tagen wieder zu nehmen.

Die Prüfungen verliefen gut. In der mündlichen bekam ich sogar eine 1,0 – die drei weiteren Klausuren fielen mir nicht schwer. Dennoch war ich erleichtert, als ich am 31. Juli die letzte Kapsel schluckte – bis dahin, so hatte ich es mir ursprünglich vorgenommen, sollte mein Projekt laufen. Die ersten Tage im August waren toll. Ich nahm mir eine kleine Auszeit, fuhr nach Hause. Dann erwischte es mich eiskalt: Ich fiel in ein Loch. War einfach nur ausgepowert, wurde emotional enttäuscht und verletzt – ich konnte nicht mehr. Aus Verzweiflung nahm ich wieder Ritalin. Immerhin musste ich bis Ende August drei Hausarbeiten fertig stellen und wusste zu dem nicht, wie ich anders meine Probleme lösen könne. Von meinem Vorsatz, Ritalin nach dem 31. Juli nicht mehr zu nehmen und sogar wegzuschmeißen, war ich weit entfernt. Den wenigsten erzählte ich, dass das R-Projekt doch noch nicht auf Eis gelegt war. Mittlerweile war die Lethargie verschwunden, der zwanghafte Ehrgeiz blieb. Ich gewöhnte mich an die Kapseln und an meinen Tagesrhythmus. Es wurde normal.

Endlich: Der lang ersehnte Klick

Anfang September machte es doch klick: ich beendete endgültig mein R-Projekt. Die Hausarbeiten waren abgegeben und ich wollte mein altes Ich wieder. Ein paar Tage später stellte ich erleichtert fest, dass ich es weder brauchte, noch vermisste. Übrig geblieben waren nur noch zehn Kapseln. Kurzentschlossen habe ich sie im Klo runtergespült. Auch wenn ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig gut lernen konnte und sogar mit guten Noten belohnt wurde, werde ich in Zukunft wieder auf das Können meines Gehirns vertrauen. Ganz ohne Ritalin. Denn: Ich war mehr Maschine, als Mensch.

Die persönlichkeitsverändernden Folgen eines Medikamentenmissbrauchs sind in dem Artikel eindringlich beschrieben. Wer dennoch das zweifelhafte Bedürfnis nach vermeintlich konzentrationsfördernden Mitteln haben sollte, der sei darauf hingewiesen, dass deren Missbrauch durch das Betäubungsmittelgesetz verboten ist.

Autor der Redaktion bekannt