„Sag Ja zum Konsum“, so lautete schon Mitte 2007 die Überschrift eines Essays von Stuart Simpson in der Zeitung „Die Welt“. Nur Wohlstand und Verbrauch könne die Probleme dieser Welt lösen, heißt es dort. Verurteilt werden die ewigen Moralapostel, welche den Konsum als die Geißel der Menschheit propagieren. Zu diesem Zeitpunkt war die Weltwirtschaftskrise noch eine Immobilienkrise amerikanischer Häuslebauer. Mittlerweile hat sie sich zu einer globalen Bedrohung für den Wohlstand des Planeten ausgewachsen. Politiker werden nicht müde zu predigen: Kauft, kauft um euer Leben!

Doch würde man damit nicht genauso weiter machen wie bisher? Wäre damit nicht die Möglichkeit vertan, diese einmalige Situation in der Geschichte als Chance zu nutzen, unsere Gesellschaft tiefgreifend zu verändern? Die Etablierung anderer Werte als die eines neuen iPods oder der Louis-Vuitton Tasche. Das Schaffen eines Miteinanders statt der Ellenbogengesellschaft auf der Jagd nach Geld. Und schließlich ein bewusster Umgang mit Ressourcen, denn die Erde verträgt kein endloses Wachstum.

Die Wirtschaftskrise ist in Wahrheit eine Kulturkrise. Doch es ist nicht nur die Verantwortungslosigkeit der Bankenmanager und Heidi Klums dieser Welt, die an unserer Kultur Zweifel lassen. Es sind die Leitmotive des Gros unserer Gesellschaft, der das Kaufen zur Maxime geworden ist. Denn es ist nicht mehr die eigene Fantasie, die Kreation, die den Menschen antreibt. Sondern der stetige Drang nach mehr Konsum hat uns das Streben nach eigenen Träumen und Ideen überflüssig gemacht. Ratenzahlung ist eine der scheinbar schlichten Antworten unserer Gesellschaft auf die Sehnsüchte von Menschen. Shopping gehört mittlerweile zur Leitkultur.

Eine bedenkliche Entwicklung, findet auch der amerikanische Linguist Noam Chomsky. „Konsum lenkt die Menschen ab“, sagte er 2008 in einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“ (Nr.41). Durch den stetigen Aufruf zum Konsum durch Wirtschaft und Politik würden sich die Menschen leichter kontrollieren und beeinflussen lassen. Während der Anteil der Bevölkerung, welcher ein paar Zeilen von Goethes Osterspaziergang auswendig kennt, immer geringer wird, nimmt die Popularität des Bratmaxe Songs massiv zu. Es ist ähnlich wie in George Orwells Dystopie „1984“, in der die Bewohner durch die Kontrolle ihrer Sprache beherrscht werden, indem unliebsame Wörter durch das „Neusprech“ einfach entfernt werden. So hat der Konsum unsere Kultur erfasst und lässt uns an nichts anderes mehr denken als „Ich liebe es“ und „Nichts ist unmöglich“.

Doch warum suchen wir unser Glück im immer mehr ausartenden Kaufrausch? Warum muss der Fernseher immer größer, das Auto immer schneller und das Handy immer schicker werden? Der Soziologe und Professor Gerhard Schulze von der Universität Bamberg sieht den Hauptgrund für die Lust am Kaufen im Wegfallen der Religion in der westlichen Gesellschaft, welche ein tiefes Loch in uns hinterlassen hat. Wir fragen uns nun: Was machen wir eigentlich auf dieser Welt? In seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ beschreibt er, wie wir unser Seelenheil im Erleben suchen. Unsere gesamte Kraft wenden wir dafür auf, ein schönes und erfülltes Leben zu haben. Das Problem dabei liegt in der Erlebnisrationalität. Von den Gegenständen, die wir um uns scharen, erwarten wir uns nicht nur die Erfüllung ihrer Funktion. Wir erwarten auch eine maximale innere Wirkung, mit der Hoffnung auf ein intensiveres Erlebnis. Doch durch die immer größer werdende Anzahl immer raffinierterer Erlebnisangebote, werden wir geistig und körperlich geschwächt. Wir haben verlernt die eigene Kraft aufzuwenden, die zum Erleben dazu gehört. Doch diese Erlebnisgrenzen versuchen viele mit noch mehr Konsum zu überschreiten. Schulzes Analyse unserer Gesellschaft erinnert schon fast ein wenig an Disneys Zukunftsvision Wall-E, in der die Menschen fett und aufgedunsen in einem fernen Raumschiff passiven Dauerkonsum betreiben und dabei zutiefst unglücklich sind, ohne es zu merken.

Nicht zufällig ist in der öffentlichen Wahrnehmung die Abwrackprämie im Mittelpunkt deutscher Krisenbekämpfung. Der französische Philosoph Roland Barthes beschrieb schon 1957 in seinen „Mythen des Alltags“ das Auto als das „genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen“. Er erklärt sie als zu Materie manifestiertes Leben, als schier magisches Objekt. Nicht mehr ihre eigentliche Funktion der Fortbewegung versetzt die Menschen in Verzückung, sondern ihr Glanz und ihre Vollkommenheit. Das Fehlen eines sichtbaren Ursprungs gibt dem Auto göttliche Züge und verspricht den Menschen eine ganz besondere Form des Erlebens. Und so wird offenbar, wie leicht wir doch zu durchschauen sind. Plötzlich rennen die Massen, welche vorher kein neues Gefährt brauchten, in die Autohäuser und lassen sich von der Faszination eines neuen Autos gefangen nehmen. Autos sind das beste Beispiel dafür, wie wir die Frage nach unserem Sein mit Konsum beantworten, wie der Kaufrausch zur Ersatzreligion wird. Doch die ständige Suche nach dem nächsten Erlebniskick nimmt uns einen großen Teil unserer Zeit und Kraft. Das Interesse unsere Gesellschaft aktiv mit zu gestalten nimmt immer weiter ab. Das ließ sich erst vor kurzem wieder beim regelmäßig stattfindenden verkaufsoffenen Sonntag in der Greifswalder Innenstadt beobachten. Während Kulturereignisse wie der Nordische Klang oder Premieren des Theaters sich eher mäßiger Beliebtheit erfreuen, strömten an diesem Tag Groß und Klein aus der ganzen Stadt herbei. Dieselben Geschäfte mit den gleichen angebotenen Produkten, die jeden Tag geöffnet haben, werden plötzlich zum Kulturhighlight. Auch Studenten sind da nicht positiv herauszuheben, der allabendliche Cocktail ist ihnen offensichtlich wichtiger als das ehrenamtliche studentische Engagement.

Das Paradoxe ist, dass das Wachstum unserer Wirtschaft nicht durch mehr Leistung bezahlt wird, sondern durch das Anhäufen von Schulden. Der Staat macht es im Großen vor, der Einzelne macht nach. Nach einer Studie der Creditreform Dresden war im Jahr 2007 jeder zehnte Deutsche überschuldet. Das heißt, ein Zehntel aller Deutschen gab mehr Geld aus, als es an monatlichen Einnahmen hatte. Doch warum leben Menschen über ihren finanziellen Möglichkeiten? Ist das Credo des sparsamen Deutschen überholt? Zwar wird Risikobereitschaft als eine wichtige Stütze unseres Wirtschaftssystems propagiert, doch ist vielen Menschen gar nicht bewusst, dass sie Schulden machen. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Überschuldung in Deutschland“, welche vom Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend in Auftrag gegeben wurde. In der Studie heißt es weiter, dass einer großen Gruppe mit geringer Finanzkompetenz eine große und undurchsichtige Menge an Kreditangeboten gegenüberstehen.

Werbebotschaften von wie „Finanzieren Sie Ihre Träume nach Wunsch“ suggerieren, dass jeder am Wohlstand unserer Gesellschaft teilhaben kann, auch wenn das Einkommen knapp ist. Denn unseren sozialen Status definieren wir über das, was wir besitzen. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt, könnte man meinen. Doch zum einen sind es besonders Gegenstände, die wir zum Leben gar nicht benötigen, welche wir zum Zentrum unseres Lebens machen. Zum anderen ist es nicht die eigene Individualität, die durch das Handy, den iPod, den HD-Fernseher oder das Einfamilienhaus ausgedrückt wird, sondern vielmehr die eigene soziokulturelle Herkunft. So sieht es zumindest der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem 1979 erschienenen Werk „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“. Frei nach dem Motto „Sag mir was du kaufst und ich sage dir wer du bist“ hat er eine Analyse der französischen Gesellschaft der 60er Jahre vorgenommen und kommt zu dem Ergebnis, dass der Geschmack nichts Individuelles ausdrückt, sondern in welchem Umfeld ein Mensch sich bewegt.

Das ist natürlich eine Steilvorlage für die moderne Werbeindustrie, punktgenaue Produkte und Werbekampagnen zu entwerfen, die ein bestimmtes soziales Milieu genau bedienen. So bekommen die Kunden den Eindruck, ihr vermeintlich individuelles Lebensgefühl zur Schau zu stellen und die Konzerne fahren ihre Milliardengewinne ein. Man könnte es als einen fairen Deal bezeichnen, wenn dieses Lebensgefühl von der Stange den Menschen nicht die Fähigkeit nehmen würde, ihre Individualität durch die eigene Fantasie zum Ausdruck zu bringen.

Doch das Kaufen ohne Maß hat nicht nur kulturelle Folgen. Die bisherigen Verlautbarungen von Politik und Wirtschaft, dass ständig wachsender Konsum Wohlstand und Frieden für alle Zeit sichere, ist ein fataler Irrglaube. Viel dramatischer als die wirtschaftlichen Katastrophen der letzten Zeit, werden die ökologischen Auswirkungen in der Zukunft sein. Der schweizerische Umweltökonom Mathis Wackernagel und der kanadische Populationsökologe William E. Rees, haben mit ihrem Konzept des „Ecological Footprints“ errechnet, wie viel Fläche jeder Einzelne von uns benötigt, um seinen jährlichen Konsum zu decken. Laut der Studie, benötigte der Durchschnittsdeutsche im Jahr 2005 rund vier Hektar Land um seinen eigenen Verbrauch für ein Jahr abzusichern. Eine Fläche, die Deutschland nicht hat und seine Biokapazität weit übersteigt.

Würde jeder Mensch auf der Erde so verschwenderisch leben wie die Menschen in den Industrieländern, bräuchte es drei Erden, um alle mit Luxus zu versorgen. Die Kosten für unsere Maßlosigkeit werden auf andere Gegenden unseres Planeten verlagert. Auf diese Weise werden nicht nur die Ungleicheiten zwischen den Völkern verstärkt, sondern die Zukunft unseres Planeten mit all seiner natürlichen Vielfalt in seiner Existenz bedroht. Denn durch den Lebensstil der westlichen Gesellschaften und dem Aufstreben der Schwellenländer wird die Biokapazität unserer Erde insgesamt überschritten. Im Moment nehmen die Menschen einen Kredit bei der Natur auf, den sie niemals werden zurückzahlen können.

Der enorme Materialaufwand, den die moderne Konsumgesellschaft benötigt, steht jedoch in keinem Verhältnis zur daraus resultierenden Zufriedenheit der Menschen, stellt der ungarisch-amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi fest. Er ist der Entdecker des „Flow-Konzeptes“, welches besagt, dass ein Mensch genau dann glücklich ist, wenn er eine Aufgabe hat, fern von den Zwängen des Geldes, welche ihn weder über- noch unterfordert.

Das ist am besten in der Freizeit möglich, denn dort haben wir die meisten Einflussmöglichkeiten. Wir müssen versuchen, Aufgaben außerhalb des Kreislaufes zwischen Geld verdienen und Geld wieder ausgeben zu finden, die uns ausfüllen können. Das könnte zum Beispiel das ehrenamtliche Engagement in der Studierendenschaft sein, das Training einer Jugendfußballmannschaft oder der Einsatz für behinderte Menschen. Damit würden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die individuelle Zufriedenheit steigt und es wird ein entscheidender Schritt hin zur einer sich kritisch hinterfragenden Gesellschaft getan.

„Maßlos ist nicht unser Verbrauch, maßlos sind lediglich unsere Selbstzweifel bezüglich unserer Konsumgewohnheiten, die es uns nur erschweren, unsere Probleme anzugehen“, heißt es am Schluss von Stuart Simpsons Aufsatz. Doch wohin uns das Negieren jeder Selbstreflexion geführt hat, kann man aktuell weltweit beobachten. Die Finanzmärkte kollabieren, das Modell des selbstregulierenden Marktes hat ausgedient. Jetzt ist es für jeden Einzelnen an der Zeit, sich der eigenen Verantwortung bewusst zu werden.

Ein Essay von Alexander Müller