„Antonius zur Predig
Die Kirche findt ledig.
Er geht zu den Flüssen
Und predigt den Fischen;
(…)“

moritz-print-78-38-feuilleton-kirchentag-bild7-arvid hansmannkleinFür knapp fünf Tage herrschte in der Hansestadt Bremen eine Mischung aus Aufbruchstimmung und Weltbürgertum: Vom 20. bis 24. Mai fand in der Innenstadt, dem Messegelände und dem eigens dafür hergerichteten Areal in der Überseestadt der 32. Deutsche Evangelische Kirchentag statt. Aus allen Teilen der Republik kamen mehr als 100 000 Besucher zusammen, um an dem größten Ereignis der protestantischen Laienbewegung in der Republik teilzuhaben. Mit ihrem Optimismus und Tatendrang erweckten sie den Eindruck einer „lebendigen Kirche“, einer christlichen Gemeinschaft, welche die irdischen Verhältnisse mit der gleichen Inbrunst kritisch diskutieren wie tranceartig hinter sich lassen wollte. Mit aktivem und progressivem Charakter schienen sie den Problemen dieser Welt entgegenzutreten, Perspektiven der Hoffnung aufzuzeigen. Doch ist dies das Bild der „Ekklesia“, wie es sich in der allgemeinen Wahrnehmung zeigt?

Wenn man die Assoziationen zur evangelischen Kirche in unseren Breiten aufgreift, so ist hier die Rezessionsmentalität der Finanzkrise schon weit vorausgeeilt: Seit Jahren gibt es Fusionsverhandlungen (Stichwort „Nordkirche“) und vermeintliche Überkapazitäten an „Altimmobilien“. Die hier tumorartig prosperierenden Gedanken gehen von Umnutzungskonzepten (das Plakativum „Von der Kirche zur Moschee“ ist schon rein liturgisch hinfällig) bis hin zu „Abwrackideen“ – umkreisen jedoch die immer wieder die fokussierte Frage: Welche Rolle kommt der Kirche in der heutigen Gesellschaft zu?

Die reflexartige Antwort vermeintlicher Atheisten, „gar keine“, muss bereits aus politischer Sicht verworfen werden. Der Kirchentag bildete ein ideales Forum für persönliche und parteiliche Profilierungen. So konnte sich neben Angela Merkel beispielsweise auch Frank-Walter Steinmeier beim Thema „Menschenwürde“ präsentieren. In seinem Podiumsgespräch mit Jakob Kellenberger, dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, machte er deutlich, dass er durchaus über größere rhetorische Fähigkeiten verfügt, als man ihm mitunter in den Medien zugesteht und dass er als Außenminister das diplomatische Feingespür besitzt, das diesem Amt anhaften sollte. (Ob er für die Aufgabe des Bundeskanzlers prädestiniert ist, bleibt weiterhin offen.)

„Fisch große, Fisch kleine,
Vornehm und gemeine,
Erheben die Köpfe
Wie verständge Geschöpfe:
Auf Gottes Begehren
Antonium anhören.“ 1

Dem Aspekt „Kirche als moralische Instanz“ war ein weiter Raum in den Messehallen und -zelten gegeben worden. Im weitgehend gefüllten „AWD-Dome“ (eine Halle, deren zwei Ränge eine gewisse Konzentrik unterstützen, die jedoch keinerlei Ansätze einer Kuppel besitzt, wie der griffige Name evozieren möchte) diskutierte der Präsident der Weltbank, Robert B. Zoellick, unter dem Titel „Verantwortung in der globalen Krise“ mit Altkanzler Helmut Schmidt. Während ersterer die mit der Obama-Euphorie wiedergewonnene Erkenntnis unterstrich, dass auch Amerikaner über intellektuelles Feingefühl verfügen, nahm der (die gut zwei Stunden nicht rauchende!) 90-jährige wie bereits in seinen Geburtstagsinterviews die Position eines Mahners ein, der stets den Eindruck machte, aus einer bereits „semitranszendenten“ Welt auf die Wirrungen unseres Daseins herabzublicken und den Kopf zu schütteln. Wenn er jedoch auf Sätze wie „Investmentbanker gehören unter Finanzaufsicht, die sind charakterlich nicht mehr zu ändern“ tosenden Beifall erhielt, kam es einem am Ende aber so vor, als ob dem Glanz der Popularität der Rost des Populismus anhaftete.

Mochte man es ihm dem gleichen Atemzug verzeihen, mit dem man seinen „noch immer regen Geist“ lobte, so verdammte man an anderer Stelle mit fortscheitendem „Input“ vieles als Plattitüde – „die schwingen doch alle nur kluge Reden …“

Dabei geht man jedoch einem Kernproblem des Protestantismus auf den Grund. Der hohe Stellenwert, den die „Verkündigung des Wortes“ besitzt (was ja die Grundintention der „evangelischen“, von der „guten Nachricht“ berichtenden, Kirche ist), hat stets mit der Last zu kämpfen, dass ihm gegenüber die komplexe Ausgestaltung des „Kultus“ zu kurz kommen mag. Die katholische Bilderverehrung stets verachtend, ging man seit Martin Luther davon aus, dass ein Medieneinsatz über das gepredigte Wort hinaus lediglich eine „didaktisch untermauernde“ Funktion haben dürfe.

Der Kirchentag machte jedoch wieder einmal äußerst plastisch deutlich, wie sehr sich auch der „protestantische Mensch“ nach Irrational-emotionalem sehnt. Bereits das Motto „Mensch, wo bist du?“ (1. Mose 3, 9) legte ein Szenario zu Grunde, das von Neugier und Tatendrang geprägt war: der „Sündenfall“ von Adam und Eva. Dabei war man von der Moralkeule des Umweltethikers Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, der die Pflichten anmahnte, die man als „Krone der Schöpfung“ besäße, weitaus weniger angetan als von einem jüdisch-christlichen Podiumsgespräch, das grundlegende Differenzen in der Paradiesesvorstellungen aufwarf. Die plastische Vorstellung, dass der „Garten in Eden“ ein Ort ist, an den selbst die Cherubim mit ihren Flammenschwertern nicht zurückkehren können, speist ihre Faszination letztendlich aus der romantischen Sehnsucht nach Exotismen, von der ein norddeutsches Gemüt geprägt ist. Wenn man beim „Welt-Café“ zur Nahost-Problematik im altehrwürdigen Renaissance-Bürgersaal des Bremer Rathauses in die dunklen Augen einer jungen Palästinenserin blickte und die einstige Brüderlichkeit der Erzväter Ismael und Isaak wahrnahm, so musste man hoffen, dass der seriöse Diskurs über diesen Gordischen Knoten in seiner Fassadenhaftigkeit stark genug war, um die niederen Gedankengänge in den eigenen Augen zu verhüllen, sodass die Etikette des hier gegebenen gesellschaftlichen Rahmens gewahrt werden konnte. Diesen „Schlamassel“ konnte man dann versuchen beim „Masel tov!“ eines beschwingten Klezmer-Abends zu vergessen. (An dieser Stelle möchte ich explizit die illustre Truppe „Di Chuzpenics“ aus Kiel hervorheben, die schon 2005 das GrIStuF-Programm bereicherte.)

„Die Predigt geendet,
Ein jedes sich wendet,
(…)
Die Predigt hat gfallen,
Sie bleiben wie alle.“

moritz-print-78-38-feuilleton-kirchentag-bild5-arvid hansmannklein„Wir alle unterliegen der Versuchung, durch ein Übermaß an Ethik unseren Mangel an Hoffnung zu übertünchen.“ sagte Prof. Dr. Daniele Garrone, ein protestantischer Theologe aus Rom (!), in seiner Predigt beim großen Abschlussgottesdienst auf der „Bürgerweide“. Damit warf er einen kritischen Blick auf das Bestreben, in Worten wie „Werte“ und „Wertorientierung“ den letzten Sinngeber der Kirche in der heutigen Gesellschaft zu sehen. Die Konzentration auf „moralistisches Belehren“ sei demnach dem mangelnden Glauben an die christliche Heilserwartung geschuldet.

Bezieht man dies nun auf den Kirchentag im 60. Jahr seines Bestehens, so kann man sagen, dass die Resignation vor allem dort einkehrt, wo man krampfhaft nach globalen Lösungen sucht. Es mag ein fatalistischer Reiz darin liegen, das Weltgeschehen mit den vermeintlich überschauenden Augen des „abendländischen Intellekts“ in seiner Tragik zu sezieren. Wenn wir jedoch ernsthaft bereit sind, die angemahnte Verantwortung zu übernehmen, dann müssen wir uns den vielbeschworenen „kleinen Schritten“ zuwenden, in denen wir konkret handeln können.

So könnte man beispielsweise über die Idee der „mobilen (temporären) Kirchen“ des Marburger Theologen und Kunsthistorikers Prof. Dr. Thomas Erne nachdenken, die eine aktive Teilhabe der jeweiligen Gemeindegeneration an „ihrem“ Bau fordert. Die durch starre Bankreihen (erst und immer noch) seit dem 19. Jahrhundert streng auf die Funktion als Gottesdienstraum reduzierten Kirchen könnten so eine Lebendigkeit erfahren, wie das bunt geschwungene „Wasserzelt“ der Künstler Hartmut Ayrle und Roland Lambrette an der Stelle des kriegszerstörten Südschiffs der Bremer Stephanikirche. Die lichte Konstruktion, die so manche Kirchentagsbesucher noch gegen Mitternacht bei Wein und Laugenbrezel zusammenführte, wurde offiziell bereits am 21. Juni 2009 wieder abgebaut – und kann so nicht zu einem ruinösen und lebensfernen Fragment mutieren.

Die Ambivalenz des Wortes ecclesia, das sowohl das Gebäude, als auch die darin zusammenkommende Gemeinde meint, macht deutlich das der Anspruch, gesellschaftlicher Teilhabe und auch einer eschatologischen „Ewigkeitsvorstellung“ immer auf einem aktiven Miteinander fußt. Das in vielen Bibelarbeiten besprochene Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ (Lukas 10, 25-37) und die darin gepriesene caritas, die Nächstenliebe, könnte ein durchaus konstruktiver Ansatz sein.

Mit diesen Worten werde wohl auch ich als „plakativer Moralapostel“ abgetan werden und mit meinem hier gewonnenen Enthusiasmus scheitern. Doch dieses Scheitern darf nicht zur Resignation führen. Denn nach den Worten des Liedermachers Wolf Biermann, den der Frankfurter Kantor (und mittlerweile „Kirchentags-Urgestein“) Daniel Kempin zwischen den Darbietungen musikalischer Adaptionen des Hoheliedes Salomos zitierte, sollte das Leben stets von dem Ziel geprägt sein, besser zu scheitern.

Ein Berichtl von Arvid Hansmann