„Mitten ins Herz des Bürgertums“ titelte der Beitrag Christine Dössels für die Süddeutsche Zeitung im Dezember 2006 zur Uraufführung des Schauspiels von Yasmina Reza in Zürich. Und urteilte, der „Gott des Gemetzels“ sei „ein ziemlich furioses Stück Komödienkunst: abgefeimt, böse und hochnotkomisch.“ Für das Theater Vorpommern realisierte Carsten Knödler dieses in Deutschland bereits dutzendfach inszenierte Stück, welchem vom Großteil der populären Medien bisher nur positive Kritik beschieden wurde. Ob zurecht, darf wohl bezweifelt werden.

moritz-print-mm77-36-feuilleton-der-gott-des-gemetzels-image-01-vincent-leiferkIm Mittelpunkt des Stückes steht die Auseinandersetzung zweier Elternpaare. Der Sohn des Ehepaars Reille, Ferdinand, hat seinem Altersgenossen Bruno Houillé in der Schule mit einem Stock zwei Zähne ausgeschlagen. Die sozialkritische Autorin Véronique (Eva-Maria Blumentrath) und der Eisenwarengroßhändler Michel Houillé (Hannes Rittig) bemühen sich in ihrem Heim um eine faire Schadensbewältigung und empfangen die Eltern Ferdinands bemerkenswert zuvorkommend. Die Eltern Ferdinands, die Vermögensberaterin Annette (Katja Klemt) und der Jurist Alain (Marco Bahr), stehen diesem Anliegen zunächst noch nahe. Wohl wissend, welche Folgen eine gerichtliche Auseinandersetzung für sie haben kann, da doch ihr Sohn es war, der einem anderen Schaden zufügte.

Jedoch ist der Frieden in dieser trauten Runde nicht von langer Dauer, denn Stück für Stück tritt das wahre Wesen der Beteiligten, die unter dem Mantel ziviler Hochkultur versteckten Aggressionen und Differenzen, immer offener zu Tage. Nicht zuletzt ist Alain Reille während der gesamten Zeit damit beschäftigt, telefonisch einen Pharma-Skandal zu bewältigen. Der natürlich sogar Michel Houillés Mutter betrifft, die immer wieder anruft. Es folgt ein Nachmittag voll von Wortgefechten, Beschimpfungen, Selbstbehauptungen und Handgreiflichkeiten, an dessen Ende nur ein Gewinner stehen soll: der Gott des Gemetzels.

Hoch gelobt wurde die am 1. Mai 1959 geborene Yasmina Reza für dieses Stück, das 2007 den recht jungen Nestroy-Theaterpreis als Beste deutschsprachige Aufführung erhalten hat. Während es für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) „Ein einfaches Stück. Zwei Damen, zwei Herren, eine Dekoration. Aber tausend Pointen.“ bedeutete, kündigte die WELT einen „Siegeszug durch deutsche Stadttheater“ an. Die WELT behielt Recht, das Urteil der FAZ soll dieser Beitrag bestreiten.

Eigentlich will Yasmina Reza, die zunächst Soziologie studierte, eine oberflächlich zivilisiert scheinende Attitüde vielfach pointiert überspitzen, um das ihr zugrunde liegende Wesen, die Wildheit des menschlichen Naturells, zu enthüllen. Tatsächlich gelingt ihr das nur teilweise. Denn der von den Protagonisten verkörperte Habitus kann tatsächlich eher zwischen dem wahrhaftigen Wunsch und der häufig vorhandenen Wirklichkeit der dargestellten sozialen Gruppe – dem angeblich kultivierten Bürgertum – verortet werden. Die vielfach erwünschte Wirklichkeit soll in Extremen dargestellt werden, um für den Zuschauer hinterfragenswert zu erscheinen. Das gelingt ihr nicht.

Das Funktionsschema gleicht dem des noch erfolgreicheren „Caveman“: Man stellt im öffentlichen Diskurs tabuisierte spezifisch geschlechtliche oder soziale Charakteristika überspitzt dar und erntet für diesen vermeintlichen Wagemut den rasenden Beifall eines Publikums, welches sich dem Problem innerhalb der Paar- bzw. sonstigen Sozialbeziehung bisher nicht zu nähern traute. Und sich diesem weiterhin nicht nähern wird. Denn es kann bei einer auf den ersten Eindruck beinah idiotisch wirkenden Überhöhung kaum erwartet werden, dass daraus Impulse für eine echte Diskussion folgen. Solche Defizite kompensierende Heiterkeit ist bei derartigen Aufführungen deshalb häufig zu beobachten, die für eine Reflektion notwendige Betroffenheit hingegen nie. Dabei wäre es wohl richtig, beides zu bewirken. Diesem Stück kann das nicht gelingen.

Und während mit „Der Gott des Gemetzels“ versucht wird, auf die Oberflächlichkeit dieser bürgertümlichen Attitüde aufmerksam zu machen, könnte die angedeutete Kritik in einer anderen sozialen Gruppe begeisterte Aufnahme finden: In dem sozial benachteiligten Teil der Gesellschaft, wo dieser scheinbar zivilisierte Habitus kaum anzutreffen ist. Dort, wo zwischenmenschliche Aggressionen als normal betrachtet werden, könnte die, wegen der von pseudo-kultivierter Höflichkeit entblößten Furien erzeugte Heiterkeit, letztlich wesentlich authentischer wirken. Diese Gruppe gehört aber vermutlich nicht zum als Publikum angezielten Bildungsbürgertum.

„Der Gott des Gemetzels“ bleibt eigentlich kaum mehr als eine Kompensation für den von exaltierter Kultiviertheit unterdrückten – und eigentlich doch ganz menschlichen – Furor seiner Zuschauer. Tatsächlich zugute halten muss man dem Schauspiel schließlich, dass es die von Stefan Kister in der Stuttgarter Zeitung hervorgehobene „lustige Promiskuitivität der Moral“ in respektabler Weise verdeutlicht.

Der streitbaren Umsetzung des Themas zum Trotz ist das Schauspiel wirklich schön inszeniert. Die sehr solide und darstellerisch überaus engagierte Umsetzung kann an dieser Stelle keinen Platz für Kritik finden. Es hat sich erneut gezeigt, dass das Theater Vorpommern trotz oder wegen seiner oft beschriehenen angeblichen Provinzialität in der Lage ist, ein populäres Schauspiel für die Mehrheit seiner Gäste attraktiv umzusetzen. Jedem, dem eine Beschäftigung mit dem zugrundeliegenden Thema – die hinter dünnen Masken versteckte menschliche Wildheit – bisher nicht zugänglich wurde, bietet die Aufführung eine in dieser Hinsicht sehr unterhaltsame Einladung. Und auch eine gelungene Einführung in die gedankliche Auseinandersetzung. Vorausgesetzt, man will sich ernsthaft damit beschäftigen.

Ein Artikel von Arik Platzek mit einem Foto von Vincent Leifer