moritz-print-mm77-27-studienstiftung-seebruecke-binz-christiane-muellerEin Freitagnachmittag in Binz Mitte Januar. Es ist kalt. Es ist windig. In einer Woche beginnen die ersten Prüfungen – und davon nicht zu wenig – so dass man meinen könnte, es gebe zu dieser Zeit doch genug anderes zu tun, als drei Tage im vereinsamten Binz in einer arktisch kalten Jugendherberge zu verbringen. Warum also haben knapp 50 Studierende aus Norddeutschland im ersten Semester doch genau das vor?

Sie alle wurden aufgrund ihrer Abiturleistungen zu einem Auswahlverfahren der Studienstiftung des deutschen Volkes in das bekannte Rügener Seebad eingeladen und wollen hier die Möglichkeit nutzen, sich für eine Aufnahme in das größte deutsche Begabtenförderungswerk zu qualifizieren – indem sie, gemäß dem Wahlspruch der Stiftung, durch „Leistung, Initiative und Verantwortung“ zu überzeugen versuchen.

Bei der Ankunft am Freitag ist die Stimmung noch locker: Alle versuchen, die Studenten aus ganz anderen Fächern näher kennen zu lernen und in der Regel fühlt man sich sofort verbunden – teilen doch alle Kandidaten gleichermaßen das sichere Gefühl, bloß aus einem riesengroßen Irrtum heraus vom Schulleiter vorgeschlagen worden zu sein, sowie die Ungewissheit darüber, was einen während des Wochenendes erwartet.

Erste Klarheit zu letzterer Frage wird während des gemeinsamen Essens am ersten Abend geschaffen: Die Juroren, also die Kommissionsmitglieder der Studienstiftung, stellen sich vor. Sie haben das Urteil über die Aufnahme eines jeden Kandidaten in der Hand. Außerdem kann jeder seine eigenen Gesprächstermine für die nächsten Tage herausfinden – vorausgesetzt, man knackt den Code für das kryptische und höchst komplizierte Zahlensystem, aus dem ein wahres Organisationstalent den Zeitplan für das Wochenende erstellt hat.

Dieser sieht am nächsten Tag pünktlich um 8.30 Uhr den ersten wichtigen Termin für mich vor: Jeder Teilnehmer hat die Aufgabe, ein vorbereitetes Referat zu einem selbstgewählten Thema zu präsentieren und dieses Thema anschließend in sechsköpfigen Gruppen mit fachfremden Studenten zu diskutieren. Genauso wichtig ist es natürlich, sich selbst bei den Diskussionen der anderen einzubringen. Denn jedes Mal ist auch ein Juror der Studienstiftung anwesend, der die Beiträge der einzelnen Kandidaten begutachten soll und währenddessen eifrig beunruhigende Zeichen und Kommentare in seine Aufzeichnungen meißelt.

moritz-print-mm77-27-studienstiftung-gruppe-christiane-muellerSo bemüht sich jeder sichtlich, den Eindruck zu hinterlassen, man sei eine vielfältig interessierte Persönlichkeit, die ihren Standpunkt zu jedem Thema angemessen vertreten kann – handele es sich um Sterbehilfe, Nahost-Konflikt oder auch um den dritten Vortrag über Gentechnologie.

Doch so kontrovers das Thema auch sein mag, richtige Diskussionen entflammen so gut wie in keiner Gruppe. Zu sehr konzentriert sich jeder darauf, ausgleichende Positionen zu formulieren und bloß keinen Zweifel an seiner eigenen Sozialkompetenz zu wecken.
Ungeklärt bleibt allerdings, ob es wohl tatsächlich an der lahmenden Diskussion oder vielleicht doch an der frischen Seeluft lag, dass einer der Juroren mitten im Gespräch beginnt, das versäumte Mittagsschläfchen nachholen – und dies auch noch mit einem leisen Schnarchen den munter diskutierenden Kandidaten kundtut.

Neben den über den ganzen Tag verstreuten Diskussionsrunden muss sich jeder auch zwei Einzelgesprächen mit je einem Vertreter der Studienstiftung unterziehen und sich dabei auf Herz und Nieren prüfen lassen. Es wird schnell offensichtlich, was die Studienstiftung von ihren Stipendiaten erwartet: Exzellente Leistungen, dazu vielfältige und vitale Interessen, die möglichst über das eigene Fach hinausgehen sollten. Ebenso ist politisches, soziales oder anderweitiges Engagement von Bedeutung.

Viele der Fragen könnten genauso Teil eines klassischen Bewerbungsgespräches sein: „Wie stellen Sie sich Ihre berufliche Zukunft vor?“ „Welche Interessen verfolgen Sie neben Ihrem Studium, die nichts mit Ihrem Fach zu tun haben?“ „Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?“ „Was sind Ihre persönlichen Stärken?“ „Und Ihre Schwächen?“ „Was bringen Sie selbst der Studienstiftung?“ „Welche Meinung vertreten Sie zu diesem oder jenem aktuellen politischen Thema?“ (Nicht umsonst sind viele der Kandidaten in den Wochen zuvor ganz plötzlich zu aufmerksamen Nachrichtenlesern geworden!)

Auf diese Weise vergehen die 40 Minuten für jedes Einzelgespräch schnell, und tatsächlich haben die Interviews in der Regel den Charakter einer angeregten und sehr persönlichen Unterhaltung – und nicht, wie vorher befürchtet, den eines Kreuzverhörs. Die leichten Nervositäts-Bauchschmerzen vor den Gesprächen wollen jedoch trotzdem nicht ganz verschwinden – so, als hätte man gleich eine wichtige mündliche Prüfung.

Besonders scheint den Vertretern der Studienstiftung die Frage am Herzen zu liegen, warum man sich ausgerechnet für das gewählte Studienfach entschieden hat. Selbst nach der dritten ausführlichen Erläuterung meinerseits, die detaillierter kaum sein kann, gibt sich einer meiner Juroren noch immer nicht zufrieden mit der Begründung.

Dennoch verspüre ich geradezu Dankbarkeit, als ich von einer Jura-Studentin erfahre, dass sie in ihrem Einzelgespräch tatsächlich Energieumwandlungsprozesse in Kernkraftwerken erläutern sollte – die „vielseitigen Interessen“, die die Stiftung von ihren Stipendiaten erwartet, werden offenbar recht weit ausgelegt. Auch sonst bleibt der Eindruck, dass jeder in seiner Bewertung doch sehr abhängig von den zugeordneten Juroren bleibt – beziehungsweise von der „Wellenlänge“, die man mit ihnen teilt oder nicht.

Ein Essen, ein Vortrag mit Diskussion, ein Einzelgespräch, die nächste Mahlzeit, erneut eine Diskussion, wieder Essen, noch eine Diskussionsrunde. So sieht der Tagesablauf für alle aus. „Wie bei einem Politiker!“, stellt einer meiner „Kollegen“ folgerichtig fest. Zumindest bleibt dazwischen auch Zeit für einen Strandspaziergang oder für ganz Mutige sogar für ein kurzes Bad in der 3 Grad Celsius kalten Ostsee. Die Erholung ist auch notwendig angesichts der immensen Anspannung, die während des ganzen Auswahlwochenendes auf fast allen Teilnehmern lastet.

moritz-print-mm77-27-studienstiftung-logoDer Daidaloskopf steht für Hubertus von Pilgrim, dem Schöpfer dieses Erkennungszeichens, für Handlungsinitiative und Handlungsverantwortung:

„Das ‚Dädalus-Prinzip‘ – das heißt aus meiner Sicht nicht nur das Erfinden mit ‚denkenden Fingern‘, das ist auch ‚naturam novare‘ und somit höchst aktuell.“ Das Stiftungslogo wurde von Pilgrim als Ehrenmedaille für um die Stiftung besonders verdiente Personen entwickelt und wurde bereits fünfmal verliehen.

Aber schließlich ist es auch einiges, das es zu erlangen gilt: Wer aufgenommen wird, darf sich zu den ein Prozent der Studierenden in Deutschland zählen, die überhaupt von Begabtenförderungswerken unterstützt werden. Unter diesen ist die Studienstiftung des deutschen Volkes nicht nur die größte und älteste Organisation, sondern auch die einzige, die sich bei der Auswahl politisch, konfessionell und weltanschaulich vollkommen neutral verhält. Zugleich kann sich hier niemand selbst bewerben, stattdessen muss man erst für ein Auswahlverfahren vorgeschlagen werden.

Eine Aufnahme bedeutet für den Glücklichen einerseits finanziellen Segen: Er erhält ein monatliches und nicht rückzahlbares Stipendium für den Lebensunterhalt, dessen Höhe mit dem BAföG-Satz vergleichbar ist, und darf sich zusätzlich über 80 Euro Büchergeld im Monat freuen. Aber auch der Schritt ins Ausland wird von der Stiftung in mehrfacher Hinsicht gefördert.

Darüber hinaus profitiert jeder Stipendiat von den Programmen der Studienstiftung: von Sommerakademien und wissenschaftlichen Kollegs, von Angeboten für Sprachkurse und ebenso von den Kontakten und lebenslangen Netzwerken zwischen Studienstiftlern. Nachdem uns all diese Vorzüge in einer Informationsveranstaltung noch einmal schmackhaft gemacht worden sind, ist die Motivation verständlicherweise umso größer. Am Sonntagnachmittag schließlich haben auch die letzten ihre Gespräche beendet, und die Jugendherberge in Binz leert sich wieder fast vollständig.

Nun bleibt mir nichts anderes, als gespannt das Ja oder Nein abzuwarten. Eigentlich bin ich fest auf eine Absage, auf den „dünnen Brief“ gefasst – zu unwahrscheinlich kommt mir die Möglichkeit vor, bei der Bewertung die nötige Punktekombination erreicht zu haben und zu den durchschnittlich nicht mal ein Viertel der aufgenommenen Bewerber zu gehören. Auch der am Ende des letzten Gesprächs an mich gerichtete Hinweis, man könne „leider nicht alle Kandidaten aufnehmen“, wirkt eher wie ein Wegweiser in Richtung Trostpflaster als wie eine Ermutigung.

Reuegefühle? Keineswegs, denn genau wie alle anderen bin ich nach dem Auswahlwochenende um einige wertvolle Erfahrungen reicher, durfte inspirierende Gespräche führen und interessanten Menschen kennen lernen.

Dass ich zehn Tage später überraschenderweise doch einen dicken Briefumschlag von der Studienstiftung in meiner Post finde, ist trotzdem weit mehr als nur ein erfreuliches i-Tüpfelchen auf diesem Experiment.

Ein Artikel von Christiane Müller