moritz-print-mm76-36-feuilleton-theater-rubrikstarter-peer-gynt-vincent-leiferkDer Mensch ist eine Zwiebel, mit vielen Schichten – und manchmal findet sich darunter nichts als die innere Leere. Die finale Erkenntnis, die Peer Gynt (und mit ihm der Zuschauer) im legendären „Zwiebelmonolog“ beim Rückblick auf sein Leben erlangt, folgt einem Leben, das einer einzigen Odyssee des vorsätzlichen Scheiterns gleicht: Ob als brautraubender Taugenichts und Aufschneider, verstoßener Wildnisbewohner und angehender Trollprinz, als Sohn oder Liebender, selbst als skrupelloser Waffenhändler in Übersee – nichts, was Peer anfängt, bringt er zu Ende. Nie steht er für etwas ein, sei es nun gut oder schlecht. Am Ende seiner Tage muss sich Peer von einer Reihe metaphysischer Entitäten vor Augen führen lassen, dass sein Dasein „nichts halbes und nichts ganzes“ war, und dies nicht ohne Folgen bleiben könne.

Das nach der Hauptfigur benannte „dramatische Gedicht“ von Henrik Ibsen, 1876 uraufgeführt, gilt in Norwegen als literarisches Nationalgut und zählt nicht nur dort zu den Konstanten in der Theaterlandschaft.

Und dass, obwohl das Stück in jeder Hinsicht ein zäher Brocken ist: Dies gilt nicht nur für die Theatermacher, die unzählige Ortswechsel und technisch schwer realisierbare Szenen (unter anderem zwei Schiffsuntergänge) umsetzen müssen oder die Schauspieler, die sich insbesondere in der Hauptfigur mit den Facetten einer ganzen Lebenspanne konfrontiert sehen und darüber hinaus mit wunderschöner, aber sperriger Verssprache zurechtkommen müssen.

Auch das Publikum, das bei diesem philosophisch-pyschologischen Seelendrama jede Menge „schwere Kost“ verabreicht bekommt, muss mit einer oft schwer zugänglichen mythologischen Verkleidung des Themas und abstrus-impulsiven Handlungsverläufen kämpfen.

Die überbordende Länge der Vorlage zwingt zudem fast jede Inszenierung den vordergründig ohnehin bizarren Stoff über eine collagenartige Verknappung zu bewältigen, was im dargebotenen Ergebnis nicht selten wie ein einziger Drogentrip daherkommt.

moritz-print-mm76-36-feuilleton-theater-peer-gynt-2-vincent-leiferkAuch mit Nils Düwells Inszenierung am Theater Vorpommern verhält es sich kaum anders. Und anstatt sich gegen die Eigenheiten des Stoffes zu wehren, gibt sie sich dem Rausch einfach hin: Durch Kürzungen kommen vor allem die Szenen mit dem größten Schauwerten zum tragen. Die Halle des Bergkönigs, in der Peer zum Troll „umoperiert“ werden soll, die Sennerinnen, die ihn des Nachts als Trollorgien-Ersatz verführen oder das außer Kontrolle geratene Irrenhaus, in dem Peer zwischenzeitig strandet, werden konsequent als triebhafter Bilderrausch in Szene gesetzt, bei dem die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. Mit geschickt gesetzten Streichungen und zumeist klugen kleinen Neuverortungen des Textes (insbesondere im vierten und fünftem Akt) wird das Stück dabei auf ein handliches Maß zurechtgestutzt – kleiner Wermutstropfen bleibt dabei jedoch die vollständige Opferung der Rolle des „Mageren“, der Peer als teufelsähnliche Gestalt den Zugang zur Hölle verweigert.

Passend gibt sich auch das Bühnenbild, das minimalistisch und wenig verspielt allein durch sphärische Licht- und Raucheffekte zu beeindrucken weiß. Edvards Griegs abgenudelte und eigentlich weitestgehend unpassende, weil zutiefst romantische Bühnenmusik hingegen wird durch bedrohlich-pathetische Elektro-Klänge ersetzt und flackert lediglich in kleinen Reminiszenzen kurz auf.

moritz-print-mm76-36-feuilleton-theater-peer-gynt-vincent-leiferkAuch die Rollengestaltung überzeugt: Christian Holm lässt seinen Gynt als rastlosen, kinskiäsken Hans-guck-in-die-Luft von einer irrwitzigen Situation in die nächste taumeln ohne dabei am Ende tragische Tiefe vermissen zu lassen. Peers große Liebe Solveig wird (gespielt von Eva-Maria Blumentrath) entgegen der Vorlage nicht zum verhuschten, engelsgleichen Chormädchen verklärt. Markus Voigt lässt den Trollkönig gekonnt zwischen endzeitlicher Bedrohlichkeit und gut pointierten Kalauern schweben und steht dabei exemplarisch für eine Inszenierung, die mit dezenten Modernisierungen Verständlichkeit erhöht und nebenbei den Spagat zwischen Anspruch und Unterhaltung schafft.

Autor: Johannes Kühl