„Die Liebe hört niemals auf”

Ein Faktor der immer wieder als Zündstoff für lokale und globale Konflikte gesehen wird, ist die Religion. Dabei haben einige Berlinale-Beiträge gezeigt, dass die Perspektive eines „christlichen Europas”, das auf eine religiös anders geartete Welt blickt, zu relativeren, wenn nicht zu negieren ist. Gerade die Prosperität und auch Kreativität des Christentums in anderen Regionen wird im Schatten eines vermeintlichen Islamisierungswahns kaum wahrgenommen.

Die kanadisch-südafrikanische Produktion „Fig Trees – Feigenbäume” von John Greyson umrahmt die Geschichte zweier AIDS-Aktivisten mit einer komplexen Heiligenikonographie. Die vielschichtige Komposition, die sich an einem Opernwerk der Schriftstellerin Gertrude Stein (1874-1946) orientiert, mag zwar durch die homosexuelle Ausprägung etwas befremden, ist jedoch von einer hohen audio-visuellen Ästhetik gekennzeichnet.

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Infernales Trio: Lockvögel der „Zero-Church“ in „Love Exposure“

Welches Konfliktpotential im Missionierungsstreben christlich deklarierter Sekten im asiatischen Raum besteht, macht der Japaner Sono Sion in seinem epischen Werk „Ai no mukidashi – Love Exposure” deutlich. Mit 237 Minuten Länge stellt der Film sogar David Leans „Lawrence of Arabia” in den Schatten. Wobei diese 70mm Bild- und Tonkomposition, die im Rahmen der Retrospektive im Anschluss an die Ehrenbären-Verleihung an den Filmmusiker Maurice Jarre gezeigt wurde, einen exorbitanten Status besitzt, dem höchstens sein Gegenstück „Doktor Schiwago” hinzugefügt, aber kein aktueller Vergleich beigestellt werden kann – aber das nur am Rande.

Sono Sion stellt die Liebe zweier Teenager in den Mittelpunkt seiner Geschichte, von dem sie sich aber oft auf verschlungenen Wegen entfernt. Der Sohn eines gläubigen Katholiken, der nach dem frühen Tod seiner Frau zum Priester wird, erlebt seine Pubertät in dem Bewusstsein, „Sünden” begehen zu müssen, um sie hinterher dem Vater zu beichten. Dabei entwickelt er eine Leidenschaft für sog. „Upskirt-Fotos” – der Film zelebriert diese Praxis, die man nur als Stilblüte einer überindustrialisierten Gesellschaft bezeichnen kann. Mit dem Bewusstsein so eines Tages seine „Maria” zu finden, die ihm die Mutter auf dem Sterbebett prophezeit hat, trifft er dann auch auf die große Liebe: ein Mädchen mit einem Porzellangesicht, wie es kein Manga-Zeichner hätte besser kreieren können.

Doch dann gerät sie in die Fänge der „Zero-Church”, einer Sekte, die auf radikale Weise strenge Enthaltsamkeit predigt. Der Protagonist wird so – obwohl der Regisseur diese Deutung auf mein Nachfragen hin bestritt – zu einer Hiobsgestalt, der alles genommen wird, um von einer satanischen Troika ebenfalls zum Eintritt in die Sekte genötigt zu werden. Wenn er dies dann auch tut, dann nur, um in bester Tarantino-Manier mit Samuraischwert und Bombenkoffer „in dem Laden richtig aufzuräumen”. Dabei scheitert er jedoch an dem Ziel, das Mädchen zurückzugewinnen und landet im Irrenhaus. Doch nun erwächst in ihr das Bewusstsein für die Liebe und sie versucht ihn aus dem medikamentösen Dämmerzustand herauszuholen …

So krank wie sich diese, zurecht mit dem „Caliagari“-Filmpreis ausgezeichtete Geschichte anhört, Geschichte anhört, so poetisch ist sie doch inszeniert: Wenn sie, nach einem Zweikampf am Strand, auf ihm liegend Kapitel 13 des ersten Korintherbriefes zitiert und dazu der eindringliche zweite Satz aus Beethovens siebenter Sinfonie erklingt, kann man dem alten Paulus nur zustimmen: „doch die Liebe ist die größte unter ihnen.”

„Wer ist denn mein Nächster?”

Nach diesem versöhnlichen Bild noch die politisch-konservative Seichtheit des chinesischen Wettbewerbsbeitrags „Mei Lanfang – Forever Enthralled” von Chen Kaige näher zu beleuchten, möchte ich mir an dieser Stelle doch sparen und lediglich auf dessen visuelle Qualität verweisen – dieser Film ist nicht nur wegen Zhang Ziyi was fürs Auge. Ebenso könnte ich noch auf den Dokumentarfilm „Rachel” von Simone Bitton eingehen, der über eine junge amerikanische Friedensaktivistin berichtet, die am 16. März 2003 im Gaza-Streifen von einem israelischen Bulldozer überrollt wurde.

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Nicht Hollywood, sondern Amerika: Mark Rendall und Zoe Kazan in „The Exploding Girl“

Aber ich verweise lieber auf den kleinen, aber feinen Beitrag „The Exploding Girl” von Bradley Rust Gray, der eine Liebesgeschichte in einer amerikanischen Vorstadt ganz ohne Gemetzel oder historische Schminke, sondern mit ruhiger und intimer Kameraführung schildert. Wenn man dem vielfältigen Berlinale-Programm entnehmen will, dass die ganze Welt sich von ihrer gemeinschaftlichen Verantwortung abwendet und stattdessen in Kleinkriegen um persönliches Selbstwertgefühl erstickt, dann wünscht man solchen Hoffnungskeimen, dass sie nicht von jenen „Dornen erstickt” werden sondern „auf gutes Land fallen und Frucht tragen”.

Filmfotos: Pressebereich von berlinale.de
Foto von Dani Levy: Arvid Hansmann

Titelbilder: *Solar ikon* via flickr