Ein Gastbeitrag von Alexander Kendzia
Am 27. Januar vor 64 Jahren befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Aus diesem Grund begehen Menschen im gesamten Bundesgebiet Gedenkveranstaltungen, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wir müssen uns erinnern – nicht nur aus Respekt den Opfern gegenüber, sondern auch, um uns immer wieder wachzurütteln. Wir müssen aufmerksam bleiben damit nicht braune Wolken versuchen, den sonnigen Greifswalder Himmel zu bedecken.
Doch genau wie in der Bundeshauptstadt, war auch die Greifswalder Gedenkveranstaltung überschattet von einer Nebelwolke der Ignoranz und Gleichgültigkeit. Zwar ging es in Greifswald streng nach Protokoll zu – doch das war es dann auch. Die Gedenkfeier der Universität stand unter dem Titel: „Erinnerung an jüdische Erzählkunst: ‚In halbrealen Räumen, am Ende der Wirklichkeit’ – Bruno Schulz und polnisch-jüdisches Erzählen vor dem Holocaust”.
Professor Joecks: Keine Worthülsen
Prof. Dr. jur. Wolfgang Joecks begrüßte die kleine Zahl von erschienen Gästen im Konferenzsaal des Hauptgebäudes und hielt eine kurze, prägnante Rede, in der er auf die Problematik einging, dass Gedenkreden meist nur noch wie leere Schalen wirken und keinen Inhalt mehr tragen. Desweitern wurden einige Zitate aus Briefen von Felix Hausdorff verlesen, die drastisch schilderten unter welchem Druck Menschen standen die unter der Verfolgung durch den Nationalsozialismus litten.
Anschließend übernahm Oberbürgermeister Dr. Arthur König das Wort. Er lieferte einen Redebeitrag ab, der dieser gerade geschilderten leeren Worthülse entsprach. Er hatte nichts zum Thema beizutragen außer den bereits erwähnten leeren Worten.
Der folgende einführende Vortrag durch Prof. Dr. Ulrike Jekutsch vermittelte durch seine gute Gliederung einen guten Überblick und gab auch dem unkundigen Besucher einen Einblick in das Leben des Bruno Schulz.
Die anschließende Lesung einer Erzählung aus dem Buch „Die Zimtläden” durch den Schauspieler Marco Bahr (Theater Vorpommern) war eine interessante Reise in die fantastische Welt des Bruno Schulz. Sicherlich war so mancher von den bildhaften Metaphern überwältigt und konnte diese Gattung Text nicht so leicht in seine Vorstellung von Literatur einordnen; trotzdem war es eine Bereicherung und eine Freude, diesen Fantasien zu lauschen.
Während die einzelnen Protagonisten dieser Veranstaltungen ihre Reden hielten, schlich ganz leise, aber laut knipsend ein Fotograf von hinten um die Gäste herum, um die Redner abzulichten. Mit einem ausdrucklosen Gesicht verrichtete er seine Dienste und es schien ganz so als ob dies fast zur Veranstaltung dazugehörte.
Warum kommt fast niemand?
Was macht nun diese Veranstaltung, wo es doch weder einen Skandal noch eine Panne gab, so interessant, dass jemand sich die Zeit nimmt, darüber etwas zu schreiben? Der Grund ist ganz einfach: In unserer heutigen aufgeklärten Zeit sollte es eine Selbstverständlichkeit darstellen, dass an einer Universität, die über 10.000 Studenten mit Wissen füttert, wenigstens 50 aus dieser zukünftigen Elite unseres Landes die Weitsicht besitzt, einer solchen Veranstaltung beizuwohnen.
Natürlich ist Prüfungszeit, natürlich ist an einem Dienstagabend ein Glas Bier nach der Vorlesung angenehm, aber kurz vor Beginn der Gedenkveranstaltung endete in 10 Meter Entfernung noch die Geschichtsvorlesung „Deutschland 1945-1990″. Es ist doch erstaunlich, dass aus der Masse an Studenten im Audimax nur wenige Geschichtsstudenten den Weg in die Veranstaltung gefunden haben.
Das soll natürlich nicht heißen, dass Geschichtsstudenten eher zu Gedenkveranstaltungen gehen sollten als andere. Trotzdem kann man bei ihnen ein stärkeres Interesse für so etwas voraussetzen – das entschuldigt natürlich gewiss nicht das Fernbleiben von Studenten anderer Fachrichtungen.
Auch ist es zu bedauern, dass nur wenige Hochschulmitarbeiter oder Professoren den Weg in die Veranstaltung gefunden haben. Es bleibt zu hoffen, dass lediglich die vollen Terminkalender und unaufschiebbaren Dinge des Alltages dafür verantwortlich sind, dass so wenige Leute am 27. Januar Bruno Scholz gedachten – stellvertretend für die Millionen von Opfern des Nationalsozialismus.
Viele werden jetzt erwidernd rufen: Zeit ist heutzutage ein knappes Gut und nicht jeder hat den Luxus, sich Zeit für so etwas zu nehmen. Aber wenn wir uns keine Zeit mehr nehmen, zu denken und zu gedenken, dann denken wir gar nicht mehr. Dann ist es uns egal. Dann ist uns das Leiden anderer vollkommen gleichgültig. Und wo dieses Verhalten unweigerlich hinführt, das weiß jedes Kind.
Seiten zum Thema:
Fotos: “Sarmax” & “cunfusedvision” via Flickr
Die meisten Uni-Mitarbeiter und Studenten sind nach 1945, bei letzterer Gruppe wohl nach 1980, geboren. Man hört es tagtäglich im Fernsehen, keine Spiegel-Ausgabe kommt ohne die "bitterbösen Nazis" aus und überall im Lande wird man daran erinnert und soll einem quasi ein Schuldgefühl eingeredet werden für etwas das passiert ist, als man noch gar nicht auf der Welt war.
Erinnerung ja! Aber bitte mal wegen der Omnipräsenz des Themas und der Unschuld der heute Lebenden etwas die Erwartungen an solche ansonsten sicherlich sehr sinnvollen Veranstaltungen herabschrauben!
schöner Beitrag !
p.s. also ich meine den Artikel
Das Problem ist doch, daß derartige Veranstaltungen leider nicht gut beworben werden. Mir war der Termin dieser Veranstaltung jedenfalls nicht bekannt, im webmoritz gab es übrigens auch keinerlei Terminhinweis. (Ob auf kulturmodul was stand, weiß ich nicht.)
Zu der schlechten Werbung für die Veranstaltung kommt in Greifswald noch dazu, daß es auch keine gewachsene öffentliche Gedenkkultur gibt. Wie beim 09.11. (Reichspogromnacht), beim 29.04. (Befreiung Greifswalds durch die Rote Armee) und beim 08.05. (Tag der Befreiung vom Faschismus) ist die allgemeine Resonanz und Beteiligung der Bevölkerung (insb. auch der Studierendenschaft) an den Greifswalder Gedenkveranstaltungen mehr als mau; dort trifft sich dann meist jedes Jahr derselbe kleine Personenkreis. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten gibt es in Greifswald z.B. auch leider kein breites, antifaschistisches Bündnis, das gemeinsam zu solchen Gedenktagen arbeitet und diese inhaltlich ausgestaltet.
@ Kalle Blomkvist: Es geht wohl kaum darum, irgendwem "Schuldgefühle einzureden", sondern um ein gemeinsames ehrenvolles Gedenken an die Opfer des Faschismus und ein gemeinsames Weiterführen des Kampfes gegen die faschistische Bewegung heute.
In diesen Zusammenhang gehört z.B. auch die Forderung nach Entschädigung für die Opfer von Nazi-Terror und Wehrmacht; das oberste italienische Zivilgericht, der römische Kassationsgerichtshof, entschied beispielsweise 2008 (!!), daß die Überlebenden des Massakers von Distomo (Griechenland) die in Griechenland erstrittenen Urteile in Italien vollstrecken können. Der Anwalt der Klägerseite erwirkte daraufhin die Eintragung einer Hypothek auf das deutsche Kulturinstitut Villa Vigoni, dem nun die Zwangsversteigerung droht. Gegen dieses Urteil (also die Einziehung deutschen Staatsbesitzes im Ausland zwecks Entschädigung) hat die Bundesregierung Rechtsmittel eingelegt – übrigens unterstützt von der italienischen Rechtsaußenregierung. Ein Skandal und ein nochmaliger Schlag ins Gesicht der griechischen Opfer, finde ich.
Auch laufen immer noch (im Ausland längst verurteilte) Kriegsverbrecher und nazistische Mörder unbehelligt in Deutschland herum – auch hier wäre eine Aburteilung dieser Verbrecher durch deutsche Gerichte jederzeit möglich (schließlich liegen Beweise und Rechtshilfeersuchen aus Italien, Griechenland, Frankreich etc. schon seit Jahrzehnten den zuständigen Staatsanwaltschaften in München und Stuttgart vor). Die Ereignisse sind also nicht so weit entfernt, wie Du hier suggerierst. [Eine Übersicht über noch lebende, von der deutschen Justiz unbehelligte Kriegsvebrecher findet sich u.a. hier auf der Seite der Göttinger Initiative "Keine Ruhe": http://www.keine-ruhe.org/taxonomy/term/24; am 25.01.2009 gab es übrigens eine symbolische Pfändung der Neuen Wache in Berlin, um auf die deutsche Weigerung der Entschädigungszahlung aufmerksam zu machen, siehe u.a. http://www.keine-ruhe.org/node/102)
@ret marut: Was deine — ich nenne es mal "Reportage" — über noch lebende NS-Kriegsverbrecher in aller Welt jetzt mit der konkreten Gedenkveranstaltung der Dozenten und Studenten in Greifswald zu tun hat wird wohl dein Geheimnis bleiben. PS: Es laufen auch noch etliche Leute des kommunistischen Staats- und Stasiterrors in Deutschland herum (meine Familie hat wegen ihres christlichen Antikommunismus mit mehrfachem Studienverbot, tagelangen Stasiverhören und -knast, beruflicher Stigmatisierung und sonstiger staatlicher Drangsalierung jahrzehntelang leben müssen), die kannst du ruhigen Gewissens noch zur Kategorie "frei herumlaufende Verbrecher" dazuaddieren. Das nur, weil du ja hier im Webmoritz der bei weitem glühendste Verfechter von Sozialismus und Kommunismus bist, lieber ret marut.
@ Kalle Blomkvist: Holla die Waldfee! Derart platte Relativierung des NS-Faschismus sieht mensch nicht alle Tage. Deine antikommunistische Position zur DDR sei Dir ja belassen (und können wir gerne an anderer Stelle mal drüber diskutieren), aber die DDR mit der industriellen Massenvernichtung des deutschen Faschismus auf eine Stufe zu stellen, dazu gehört schon eine gehörige Portion Dreistheit eingedenk von Arisierung, jüdischen Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern, Massenerschießungen von jüdischen Menschen und Zivilbevölkerung der besetzten Staaten, sowie einem Vernichtungskrieg, der Millionen von Toten hinterlassen hat.
In der Tat hat das heutige Gedenken an die Opfer des Faschismus auch damit zu tun, ob die (noch lebenden) TäterInnen auch endlich verurteilt werden und die Opfer auch Entschädigungszahlungen erhalten. Deine implizite "Schlußstrichmentalität" wird weder den Opfern noch dem Ausmaß der NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerecht. Überleg mal, was Du hier schreibst und wie das auf Menschen wirken muß, deren Verwandte und Freunde durch deutsche Nazis oder Wehrmachtskriegsverbrecher zwischen 1933 und 1945 ermordet wurden.
PS: Die Kriegsverbrecher befinden sich übrigens nicht "in aller Welt", sondern in Deutschland, quasi direkt vor unserer Haustür. Und daß die von der bundesdeutschen Justiz unbehelligt gelassen werden, ist der wirkliche Skandal!
@ret marut: keine Ahnung was du gelesen hast, aber ich kann da weder eine Relativierung noch einer Gleichsetzung erkennen. Auch habe ich keine Andeutungen darüber gemacht, was denn nun "schlimmer" von beiden sei, sondern dich (da du hier auf webmoritz.de an verschiedenen Stellen der kommunistischste aller Beitragenden bist) darauf hingewiesen dass du dich doch bitte mit Schuldzuweisungen und Anklagen etwas zurückhalten solltest und dir mal angesichts der brutalen Gewaltherrschaft von SED und KPdSU an die eigene Nase fassen solltest was für ein menschenfeindliches System du da eigentlich unterstützt. An meiner ebenfalls vorhandenen Ablehnung der NS-Diktatur ändert dieser Antikommunismus nichts, sondern er erweitert ihn zu einer Ablehnung jeglichen extremistischen Totalitatrismus von links und rechts. Schönen Tag noch. Das war meine letzte Antwort dazu.
auja, am besten auch noch die bundesdeutschen politiker und richter dazu, die für die zahlreichen berufsverbote gegen linke verantwortlich sind.
Es lagen zahlreiche Flyer in der Mensa aus. Da es sich hierbei um eine Gedenkverantsaltung und nicht um eine Demo oder aber eine Party handelte waren diese Flyer bewusst seriös und dezent gestaltet, sodass man sie auch hätte übersehen können. Ich hab sie allerdings nicht übersehen (was gerade weil sie so zurückhaltend, seriös, einer Gedenkveranstaltung würdig war auch sehr schwer war). Manchmal muss man eben doch seine Umwelt bewusster wahrnehmen und nicht nur in der Mensa die Flyer greifen, auf denen Mensaklub, Geologenkeller, KisteKino, Antifa, DKP und LinkeSDS oder Jusos und RCDS draufsteht.
In den übrigen Punkten stimme ich Dir zu. Es gibt in HGW faktisch keine Gedenkkultur und wenn mal doch ein Gedenken stattfindet, dann finden sich nur-wenn überhaupt- eine Handvoll Menschen ein. Das ist traurig und sicherlich auch eine Ursache dafür, dass hier für einige die NPD eine völlig seriöse, normale Partei ist, die eben mal Kinderfeste u.ä. veranstaltet.
In der Mensa wurde, soweit ich es überblicken kann, die Veranstaltung nur am 27. selbst geflyert, und das auch nicht von jemanden, der für die Uni arbeitet, sondern von einem Studenten aus dem linken/linksradikalen Spektrum, der Flyer aus der Augenklinik mitgenommen hatte, wo nen hoher Stapel in einer dunklen Ecke lag.
Ein sehr guter Artikel. Ich war nicht bei der Veranstaltung und es ist mir sehr peinlich. Eine Ausrede zu suchen um das schlechte Gewissen zu vermeiden halte ich für sinnlos. Genau so sinnlos finde ich den Vergleich der beiden Regime in diesem Zusammenhang. Es geht hier um die Opfer und nicht um die Täter.
Schöne Grüße
"Warum kommt fast niemand?"
Ich denke zum einen das die Veranstaltung schlecht beworben war, zum anderen wirkte die Vorstellung, dass Arhur König eine Rede halten würde, für viele sicher eher abstoßend. Das nix als leere Worthülsen zu erwarten sind, kann man sich denken, wenn man sich den sonstigen Umgang der Stadt mit dem Thema anschaut, z.B. die Behinderung des Bündnisses "schon vergessen?".
Es gibt Menschen, die müssen nicht zum Gedenken in irgendwelchen Sälen unter erlauchtem Publikum Reden lauschen, sondern können ihre Solidarität mit den Opfern des Holocaust auch anders zeigen.
Wenn über eine derartige Veranstaltung erst dann berichtet wird, wenn sie bereits vorbei ist und mit den Worten "war ja kaum jemand da" – sage ich: selbst Schuld! Hätte vorher eine Information zur Veranstaltung beispielsweise hier im webmoritz gestanden, wären mit Sicherheit auch mehr Leute gekommen. Nur was man nicht weiss, lockt einen auch nicht.
Daher halte ich derartige Aufruhr für relativ nichtig!