Pünktlich, sogar früher als verabredet, steht er wartend da. Er hat weder Ausreden erfunden, um nicht kommen zu müssen, noch den Termin verschoben. Erstaunlich, denn das Aufschieben gehört zu seinem Alltag. Vor allem wenn es um die Uni geht, schiebt er Aufgaben solange vor sich her, bis die Zeit knapp wird. Für ihn ist es eine willkommene Abwechslung, nicht an seine bevorstehende Zwischenprüfung denken zu müssen. Sozusagen mal wieder unter die Leute zu kommen bei dem Lernstress, denn in zwei Wochen ist es soweit. Allerdings hat er noch immer nicht begonnen, sich mit dem Prüfungsstoff auseinanderzusetzen…

„Faul ist er“, würden die Meisten wohl vermuten, doch sie irren sich. Denn obschon Chris Wielandt bewusst seine Aufgaben immer wieder vor sich herschiebt, steckt ein ganz anderer Grund dahinter. Der 21-jährige Student leidet unter Aufschieberitis oder Prokrastination (lat. procrastinare – auf morgen verlegen), einer Störung der Selbststeuerung. Die Betroffenen schieben immer wieder auf, beschäftigen sich mit anderen Dingen, bis die Zeit kaum mehr ausreicht. „Wenn ich eine Seminararbeit schreiben muss, fange ich an, die Wohnung zu putzen oder gehe rauchen“, beschreibt der Lehramtsstudent sein Verhalten.

Er ist einer von vielen, der damit zu kämpfen hat, doch den Meisten ist unbekannt, dass es sich um eine ernsthafte Störung handelt. „Als Krankheit ist es wenig bekannt. Ich denke der Bekanntheitsgrad liegt bei etwa 20 Prozent“, schätzt Prof. Dr. Alfons Hamm, Professor und Lehrstuhlinhaber für Physiologische und Klinische Psychologie. Daher wird das Aufschieben als Faulheit oder Inkonsequenz verstanden. Frau Dr. Jana Kolbe, Sozialberaterin des Studentwerkes erklärt: „Einige Studenten kommen zu mir und erzählen, dass ihr Studium nicht so läuft. Später kommt heraus, dass sie unter Prokrastination leiden. In einer Studie wurde festgestellt, dass 20 Prozent der Bevölkerung in verschiedenen Ländern darunter leiden.“

Kleckern statt Klotzen

Ebenso wie Chris kennen auch Max Winkler und Christina Liedke das Aufschieben. „Meist renne ich mich in Details fest, schlage stundenlang Fremdwörter nach oder sortiere Stifte“, berichtet die 21-Jährige. Auch das Internet ist eine geeignete Ablenkungsquelle und bietet viele Möglichkeiten das Vorgenommene erneut zu verschieben. „Gern gehe ich auf StudiVZ oder ICQ und suche nach Ablenkung“, erläutert der Philosophiestudent Max.

Das eigene Verhalten zu reflektieren ist relativ einfach, doch die Gründe für diese Störung zu finden, eher schwierig. Woran es liegt, lässt sich schwer beurteilen. Aus Sigmund Freuds Sicht lässt sich die Ursache in der Kindheit suchen. „Sind die Eltern sehr streng, erledigen die Kinder Aufgaben oft gar nicht erst, ehe sie den hohen Erwartungen nicht gerecht werden“, meint auch Kolbe.

Der Betroffene.
Stephan ist 25 Jahre alt und studiert im 6. Semester an der Uni Greifswald. Er leidet seit seiner Schulzeit  unter Prokrastination, doch verdrängte er diese Problematik. Erst als andere ihn auf sein Verhalten aufmerksam machten, wurde Stephan bewusst, dass er unter einer ernsthaften Störung leidet.

Wie zeigt sich das Verhalten des Aufschiebens bei dir?
Muss ich eine Hausarbeit schreiben, fange ich damit vier Tage vorher an und immer wenn ich beginnen möchte, kommt mir scheinbar Wichtigeres dazwischen, ich putze beispielsweise stattdessen.

Was für Aufgaben schiebst du auf?
Einfach alles. Ich schiebe vor allem unangenehme Sachen auf und Dinge, zu denen ich gezwungen werde. Früher bei der Arbeit bin ich schon mal morgens liegen geblieben und hab mir Ausreden ausgedacht. Vor kurzem habe ich meinen Führerschein verloren und der Neue ist nun schon seit Wochen fertig, abgeholt habe ich ihn noch immer nicht.
Auch wenn Dinge, die ich erledigen muss, mir Vorteile wie mehr Geld bringen, schiebe ich diese auf und schaffe es nicht einmal zur Post zu gehen. Wenn ich keinen konkreten zeitlichen Termin habe und mir die Zeit selbst einteilen kann, schiebe ich auch auf und wenn ich konkret aktiv werden muss, wie eben eine Hausarbeit schreiben.

Wie fühlst du dich dabei?
In dem Moment, wo ich mich mit jemandem verabrede, obwohl ich beispielsweise an meiner Hausarbeit schreiben müsste, habe ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich dann erstmal beschäftigt bin, nicht mehr.

Siehst du einen Zusammenhang zwischen deinem Studium und dem Aufschieben?
Ja, wäre das Studium strukturierter, hätte ich vielleicht weniger Probleme. Ich glaube, an einer Fachhochschule wäre ich besser aufgehoben, weil es noch diese strenge Schulstruktur hat. An der Uni hingegen hat man viel Eigenverantwortung.

Hat dein Verhalten schon einmal negative Konsequenzen nach sich gezogen?
Aus Strafzetteln wurden auch schon Mahnbescheide und ich musste mehr Geld bezahlen als vorher. Außerdem bin ich bei Prüfungen schon durchgefallen. Bei unerledigten Hausaufgaben bekam ich Sechsen und so war meine Abiturnote dementsprechend schlecht. Das Studium leidet natürlich auch sehr und meine Mutter ist ziemlich genervt.

Unternimmst du etwas dagegen?
Mich stört mein Verhalten sehr, deswegen bin ich auch dabei, es zu ändern. Professionelle Hilfe nehme ich jedoch nicht in Anspruch, ich denke, man schafft das auch alleine. Durch Freunde und jemanden, der mir auf die Finger sieht und mir Parole bietet, geht es besser. Erfolge, aber auch durch negative Konsequenzen, die man erfährt und bei denen man sozusagen „aufwacht“, helfen das Verhalten zu ändern. Man muss sich eben selbst kontrollieren und braucht jemanden, der einen kontrolliert. Seit einem Monat wird es bei mir auch besser.

Wie reagiert dein Umfeld auf dein ständiges Aufschieben?
Insgesamt werde ich als faul angesehen, aber Freunde oder Familie bemerken schon, dass etwas nicht stimmt und sind auch schon mal genervt.

Was würde sich ändern, würdest du nicht mehr Aufschieben?
Meine Freizeit wäre entspannter. Gerade wenn ich nur noch wenig Zeit habe etwas zu erledigen, dann habe ich das immer im Hinterkopf und kann meine „freie“ Zeit nicht richtig genießen.

Das Interview führten Katja Graf und Maria Friebel

Warum Menschen aufschieben, hat jedoch verschiedene Ursachen. So erklärt Hamm: „Es gibt drei Hauptmotivationen. Entweder hat man Angst vor dem Versagen, man versucht, perfekt zu sein oder kann sich nicht lange konzentrieren.“ Auch der Zwang, eine Sache tun zu müssen, kann das Aufschieben auslösen. Chris begründet seine Arbeitsstörung so: „Wenn ich lernen soll, putze ich die Toilette und wenn die Toilette geputzt werden soll, dann lerne ich.“ Gleichzeitig schieben Menschen auf, die das Gefühl haben, den Anforderungen ihrer Umwelt nicht gerecht zu werden. Sie erledigen wichtige Aufgaben solange nicht, bis kaum mehr Zeit dazu bleibt. So gesehen, erscheint dies grotesk, da so ein Versagen erst wahrscheinlich wird. „Lieber werden sie als faul abgetan, als von der Umwelt schlecht bewertet zu werden“, bemerkt Kolbe.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Durch das Aufschieben von Aufgaben lassen die negativen Gefühle nach, die entstehen, würde man sich diesen ungeliebten Tätigkeiten widmen. Doch die Erleichterung hält nur kurzzeitig an. „Zuerst fühle ich mich normal, da ich mir denke, das Aufgeschobene später zu erledigen, aber nach kurzer Zeit habe ich dieses ‚schlechte Gewissen“, reflektiert Christina ihr Verhalten.
Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, pünktlich mit einer Arbeit zu beginnen. Chris berichtet: „Am Anfang denke ich wirklich, ich fange jetzt an zu lernen. Ich setze mich an den Schreibtisch, aber beginne nicht mit der Arbeit.“ Doch wer aufschiebt, ist genauso motiviert wie seine Mitmenschen, ihnen ist ebenso wichtig ihr Ziel zu erreichen. Oft planen sie sogar mehr Zeit zum Arbeiten ein, als Andere. Doch dabei bleibt es meistens auch. „Sie nehmen sich zu viel vor und überschätzen sich damit gewaltig“, erläutert Kolbe.

Der Sache auf den Grund gehen

Das Aufschieben von Tätigkeiten ist bis zu einem gewissen Grad jedoch völlig normal. Prof. Dr. Hamm erläutert:„Der Krankheitswert beginnt erst, wenn man anfängt, darunter zu leiden.“ Es kommt zu schlechten Leistungen, Unzufriedenheit, Zweifeln am Selbstwert, Depressionen oder Angst vor Prüfungen.

Allerdings sind nicht nur Studenten davon betroffen und meist ist das Studium auch nicht der Auslöser. „Schon in der Schule hatte ich Probleme. Nur der Stundenplan und die Hausaufgaben haben mir geholfen“, berichtet Max. Prof. Dr. Hamm sieht dennoch einen Zusammenhang zwischen der Art des Studiums und der Prokrastination: „Je mehr Prüfungen man hat, desto geringer ist die Gefahr aufzuschieben. In den 70er Jahren haben viele Magisterstudenten bis zu 16 Semester studiert, weil das Studium so wenig strukturiert war.“

Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, wurde am Psychologischen Institut der Universität Münster ein mehrwöchiges Gruppentraining erstellt. In diesem lernen die Studenten pünktlich mit der Arbeit zu beginnen, Ablenkungen auszublenden und sich realistische Ziele zu setzen. „Wichtig ist, zu erkennen, warum aufgeschoben wird. So genannte To-Do-Listen bringen nicht viel, denn eine psychologische Betreuung ist meist unumgänglich“, so Kolbe. Auch Hamm hält solche Maßnahmen für wünschenswert. „Etwas Ähnliches ist auch an unserer Universität in Planung, dabei handelt es sich um ein Programm gegen Prüfungsangst. So soll es auch Hilfe gegen das Aufschieben geben.“ Denn mit Ratschlägen getreu dem Motto: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, ist den Betroffenen nicht geholfen.

Von Katja Graf und Maria Friebel