moritz-Redakteure Kosa und Tremmel waren ein Wochenende in der Nachbarmetropole Szczecin (Stettin) zum Sightseeing, Shopping und Clubbing.

Magnet der Großstadt. Bedingungslos wirkt diese Kraft auf Menschen in Orten ohne Straßenbahn, gleich einem Naturgesetz: „Willste wat erleben, muss’de inne große Stadt.“ Stichworte: Sightseeing, Shopping, Clubbing. Uns Greifswalder würde es demzufolge ins nahe Stettin ziehen, oder?

Die polnische Grenzmetropole ist mit 420.000 Einwohnern etwas größer als Rostock. Die Trams der Stettiner Verkehrsbetriebe transportieren jedoch selten einen Greifswalder in Großstadtlaune. Es scheint, der deutsche Teil der Provinzbevölkerung meidet sein natürliches Oberzentrum.

Wir machen uns auf den Weg, um zu schauen, was die ehemalige Pommernhauptstadt ihren Umlandbewohnern bieten kann. Das Mecklenburg-Vorpommern-Ticket soll uns nach Szczecin Glowny bringen. Bevor wir jedoch im Stettiner Hauptbahnhof einrollen, müssen wir auf die DB-Bummelbahn dorthin warten. Nicht irgendwo. In Pasewalk. Neunzig Minuten lang. Eine Zeitspanne, die das Wort „umsteigen“ in seiner Bedeutung arg strapaziert. Die Fahrt Greifswald – Stettin dauert etwas mehr als drei Stunden.
Wir machen unseren Stadtrundgang. Suchen die Innenstadt und finden sie nicht. Lange Einkaufsboulevards mit Patisserien, Friseuren und Modeboutiquen lassen uns stets vergeblich hoffen, dass der Stadtkern um die Ecke ist. Doch um die Ecke wartet die nächste Ladenmeile. Die Sehenswürdigkeiten, das Schloss der Pommernherzöge, der gotische Dom, die Oderterrassen, sie alle liegen weit auseinander. Die im Krieg völlig zerstörte Altstadt ist in weiten Teilen eine Baustelle. Dazwischen Wohngebiete, Autotrassen, unaufregende Ladenzeilen. Stettin kommt nicht auf den Punkt. Wir grübeln jetzt ernsthaft, wie man die Stadt noch als Reiseziel verkaufen kann.
Bingo: „Bigos!“ Stettin ist doch das Tor zu Polen. Beschreiben wir, was polnisch ist. Fremdheitswahrnehmungen.

Eine Stadt bekommt Farbe

Zuerst: Kioske. Das sind kleine Hütten aus Holz oder Metall. Manchmal sind sie begehbar, meistens aber hockt ein Mütterchen hinter einem klappbaren Glasfensterchen. Hier bekommst du alles, was du schnell brauchst. Äpfel und Apfelplundertaschen, Rasierklingen und Nelken, Gazeta Wyborcza, Telefonkarten und Zigaretten. Die Kioske stehen an jeder Straßenecke. Noch in der weit entlegensten Plattenbausiedlung stehen gleich mehrere nebeneinander. Ein Metzger, ein Schreibwarenhändler, ein Friseur und ein stinknormaler Zeitungskiosk. Dieser Budenzauber wird durch rudimentären Straßenverkauf ergänzt: Bauern veräußern Zwiebeln und Kartoffeln aus der Pappkiste. Vor den großen Supermärkten stehen junge Verkäufer an einem Thekenwägelchen mit Sonnenschirm und bauen dir einen Hot Dog zusammen: Brötchen, Wurst, Weißkraut, Paprikaschnitzel und Senf.
Stettiner Fassaden. Der Zahn der Zeit nagt am Putz der Gründerzeithäuser. Aus den bröckligen Simsritzen wachsen Pappel- und Akazientriebe über die gusseisernen Balkone. Ihr Grün konkurriert mit dem Grau der Kabelbäume von Radio- und TV-Antennen. Vor 15 Jahren kamen kontinuierlich schwarze, weiße und graue Satellitenschüsseln dazu. An den Hausaufgängen pappen Werbeschilder für Tanz-, Fahr- und Sprachschulen. Mit der Reklame kam die bunte Farbe zurück. Sollten wir ausschließlich die Farbe der Stadtgebäude bestimmen, müsste ein passender Farbname erst erfunden werden. Nein, grau ist es nicht. Keine Plattenbauwüsten. Die Szenerie der Bürgerhäuser hat ihren eigenen Charme und eine Farbe, die entstünde, wenn Steine rosten könnten. Verwittertes Fassaden-Rot, -Gelb und -Weiß; im Schulmalkasten hieße eine solche Farbe vielleicht „Kombinat“.

Menschen zwischen Eleganz und Protz

Die Menschen. Farbe auch hier. Frauen schminken sich akzentuierter als bei uns daheim. Der Kleidungsstil ist wohltuend anders: adrette Kostüme, Röcke bis kurz über die Knie, Stiefel bis kurz darunter. Damit wir uns nicht falsch verstehen: das Outfit der Damen ist elegant und geschmackvoll. Dann gibt es Damen um die 40. Ab diesem Alter scheinen sich Pelzmäntel gesteigerter Beliebtheit zu erfreuen. Zwischen Eleganz und Protz schleicht feminine Neutralität: Nonnen, junge und alte, in schwarzer, grauer und weißer Ordenstracht unter schlichtem Kopftuch.
Bei den Jungs sind Kurzhaarschnitte bis hin zur Glatze recht en vogue. Ansonsten bleibt ihr Äußeres eher unauffällig. Wir sehen viele alte Leute, deren Kleiderordnung sich seit 25 Jahren wenig geändert zu haben scheint. Das schaut in etwa so aus wie beim jährlichen Rosa-Luxemburg-Gedenkmarsch in Berlin, Reihe eins.

Bigos, Bordell und Benzin

Deutsche Menschen treffen wir auch. Stets an exponiertem Ort fallen sie uns ins Ohr. Zum Beispiel im „Best Restaurant“ Colorado, einem Panoramacaférestaurant, dass gleich einem hölzernen Krähennest an der Oderterrasse über den Anlegestellen für Kreuzfahrtdampfer hängt. Hier sitzen die deutsche Bigos- und die Bordellfraktion an getrennten Tischen. Rentnerpärchen auf Polen- oder Heimatentdeckungstour. Männerkegelvereine auf Erlebnisfahrt. Wir haben keine Chance, unser Küchenpolnisch zu testen. Die Bedienung spricht fließend Deutsch, die Speisekarte ist dreisprachig ausgewiesen. Gleiches Bild im Cafe 22, einem Panoramacafe auf der 22. Etage. In den unteren Etagen dieses „Wolkenkratzers“ wütet der Einkaufstrubel. Shopping in Stettin hat hier sein Zentrum, im Galaxy. Die riesige Mall bietet alles: Boutiquen, Hypermarkt, Eiscafés und sogar eine 15 Meter hohe Kletterwand für Alpinisten. Der riesige Supermarkt einer französischen Kette steht seinen Filialbauten im Mutterland in nichts nach. Es sei hier nur die riesige Frischfischtheke auf Eis erwähnt. Das Angebot ist erschlagend. An den endlosen Regalen für Bier und Wodka treffen wir wieder auf Deutsche. Quasi die dritte Kohorte, die Benzin- und Butterfraktion. Der Service ist beeindruckend. Jede Abteilung hat zwei junge Menschen, die Probierhäppchen parat halten und die Kundschaft beraten. Es kann in Stettin für junge Leute nicht sehr schwer sein, einen Nebenjob zu finden. Shopping in Stettin bietet ein Kontrastprogramm. Einerseits das bonusmeilenverdächtige Herumschieben des Einkaufswagens durch die Hallen der Einkaufstempel, andererseits die anheimelnde Atmosphäre über den Ladentheken der kleinen Geschäfte und Kioske.
Am Abend treffen wir uns mit polnischen Freunden zum Programmpunkt Clubbing. Wir haben uns einen ungünstigen Tag ausgesucht. Es ist Samstag vor dem ersten Advent. Clubs sind zahlreich, aber heute besonders überfüllt. In den beliebtesten Gewölbekellerdiskos sind alle Tische reserviert. Das junge Polen trifft sich heute offiziell ein letztes Mal zum Trinken und Tanzen, denn es gehört zum guten Ton in der Adventszeit, die Füße still zu halten. Jedenfalls offiziell und mit Augenzwinkern. Wir schaffen es, im Patio einen Tisch zu ergattern. Zwar hätten wir lieber das Rocker oder Pinokio unsicher gemacht, aber noch um zwei Uhr warten dort Menschentrauben auf Einlass. Die unerhörten Eintrittspreise können nicht schrecken. Etwa 10 Euro verlangt an diesem Karnevalssamstag das Rocker. Im Patio zahlen wir nur ein Viertel und steigen in den Keller hinab. Das gemütliche Ambiente, so erfahren wir, ist recht typisch. Es gibt mehrere Mauersteinkavernen, die miteinander verbunden sind. Ein Tresenraum, Räume mit langen Tafeln und Sitzbänken und schließlich das Tanzgewölbe. Gut, dass man nicht Tanzen muss, denn House Musik gehört zu unseren off-limits. Im Übrigen die beliebteste und häufigste Stilrichtung in Stettiner Clubs. Das nächste Mal, beschwören uns die Freunde, gehen wir ins Rocker.

Das nächste Mal wird alles besser

Jetzt sollen wir von Stettin erzählen, ob es uns gefallen hat. Unsere Höflichkeit hat Grenzen. Trotzdem bleibt die Gastfreundschaft der Freunde herzlich: „Kommt im Januar wieder, wenn Schnee liegt.“ Ein Skihang mit Schlepplift und Schneekanonen liegt am Stadtrand. „Und im Sommer müsst ihr auch kommen. Dann sind die Bäume grün und wir gehen in die Biergärten. Oder wir fahren mit dem Segelboot auf den Dabie-See hinaus, gleich hinter der Stadt, und campen wild auf einer der Inseln. Lagerfeuer und polnische Gitarrenmusik inklusive.“
Wenn das so ist, sagen wir am nächsten Morgen, wollen wir gern wiederkommen. Doch zunächst müssen wir in unsere Provinz zurück. Diesmal mit dem Wochenendticket in drei Stunden über Angermünde.

Geschrieben von Robert Tremmel