Für viel Aufregung sorgt seit Anfang der Woche ein von Nils Dicaz unter dem Titel „Für wen gilt das Gesetz des Dschungels?“ verfasster Flyer. In diesem prangert der freischaffende Künstler und Dozent am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald die vom designierten Intendanten Dirk Löschner, der ab 1. August 2012 seine Arbeit aufnehmen wird, ausgesprochenen Kündigungen von 15 Mitarbeitern des Theaters Vorpommern, vornehmlich Mitglieder des Schauspielensembles, an. Doch gibt es neben personellen Problemen noch große finanzielle Schwierigkeiten und konzeptionelle Ungewissheit für die Zukunft. Aber der Reihe nach.

Fachfremde Geschäftsführung und desolate Finanzlage

Als im Mai letzten Jahres die Verträge sowohl des kaufmännischen Direktors Hans Peter Ickrath als auch des damaligen Intendanten Anton Nekovar auf Bitte des Aufsichtsrates von den Gesellschaftern fristlos aufgelöst wurden, wehte zunächst ein Hauch von Erleichterung und Aufbruchstimmung durch die Flure des Theaters. Die kommissarische Leitung übernahmen die beiden Geschäftsführer Dr. Rainer Steffens und Hans-Walter Westphal und sollten das Theater auf Kurs halten bis sich geeignete Nachfolger gefunden hätten. Was folgte, waren allerdings hauptsächlich solide teilweise aber auch fade und uninspirierte Aufführungen (Rezension zu Livia,13 in Ausgabe 92 des moritz Magazins), die nur zu sehr den kreativen Notstand und die Fachfremdheit Übergangsführung verdeutlichten. Doch die Intendantensuche verlief schleppend und undurchsichtig, zusätzlich erschwert durch das hohe Anforderungsprofil, das dem Intendanten neben künstlerischer Eignung auch betriebswirtschaftliche Kompetenzen in Hinblick auf die notwendige Umstrukturierung und Neuausrichtung des Theaters abverlangte.

Die kommissarische Doppelspitze: Hans Walter Westphal (l.) und Dr. Rainer Steffens (r.)

Ferner stehen neben der vakanten Intendanz noch erhebliche finanzielle Defizite im Raum, die nur schwer in den Griff zu kriegen sein werden. So rechnet man für das kommende Jahr mit einem Defizit von rund 725 000 Euro. Aber es sind nicht nur die erdrückenden Zahlen allein, die den Blick in die Zukunft trüben. Auch die Bedingungen, unter denen die Mitarbeiter des Hauses angestellt sind, sind besorgniserregend. Um einen reibungslosen, alltäglichen Theaterbetrieb zu ermöglichen, verzichten die Mitarbeiter bereits seit Jahren auf Tariferhöhungen und nehmen sogar Gehaltsabsenkungen in Kauf. Zwar schützt der aktuelle Haustarif die Angestellten im Gegenzug vor betriebsbedingten Kündigungen, doch läuft dieser zum Jahresende aus. Verhandlungen um einen neuen Haustarif, der ebenfalls einen Gehaltsverzicht für die Mitarbeiter vorsehe, lehnte die Gewerkschaft ver.di Ende März angesichts des zusätzlich angestrebten Stellenabbaus rigoros ab. Käme es nicht zum Abschluss eines neuen Haustarifes müssten, laut einem von der Interimsgeschäftsführung erarbeiteten Prüfbericht 54 der insgesamt 277 Stellen gestrichen werden, um die finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen – damit wäre wohl  der Vorhang für den Fortbestand des Theaters endgültig gefallen (OZ vom 8.3.2011). Zu allem Überfluss erweist sich der Betrieb der Stadthalle trotz Sanierung als weitere finanzielle Bürde, die allein mit Ausfällen von 75 000 Euro im ersten Wirtschaftsjahr (2010) zu Buche schlägt, woran sich, laut dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Andreas Kerath gegenüber der OZ (2.4.2011), auf längere Sicht auch nicht viel ändern wird. Keine leichte Aufgabe also für den neuen Intendanten.

Löschner soll Fortbestand des Theaters sichern und bringt personelle Veränderungen mit

Am 29. April konnte das Theater dann endlich weißen Rauch aufsteigen lassen. Mit Dirk Löschner, dem derzeitigen Intendanten des Theaters der Altmark im sachsen-anhaltischen Stendal, hatte man einen Intendanten gefunden, der neben künstlerischer Qualifikation auch ein abgeschlossenes Studium der Kommunikations- und Wirtschaftswissenschaften vorweisen konnte und in der Lage schien, das Theater neu auszurichten und dessen Finanzen zu begradigen. Bei seiner derzeitigen Arbeit im Stendal setzt Löschner vermehrt auf junge Schauspieler, stärkt das Jugend- und Kindertheater sowie die Theaterpädagogik und weist ein Gespür für moderne Lesarten klassischer Stücke wie „Faust“ oder „Ajax“ auf, ohne jedoch das Auge für neue Stoffe zu verlieren – und hat damit Erfolg.

Vertrautes Bild im Theater Vorpommern...

Erfolg, den er auch mit an die neue Wirkungsstätte nehmen möchte, nicht nur im übertragenen Sinne. So wolle er auf jeden Fall seinen Bruder Sascha Löschner, mit dem er auch zurzeit in Stendal zusammenarbeitet, als Chefdramaturgen am Theater Vorpommern einsetzen. Vorwürfe der Vetternwirtschaft lässt er dabei aber nicht gelten, so seien allein professionelle Gründe für die Entscheidung verantwortlich. „Wir beide sind ein eingespieltes Team. Davon kann sich gern jeder, der will, hier in Stendal überzeugen.“, erklärte der 44-jährige offensiv gegenüber der OZ. Weil Löschner es aber nicht bei seinem Bruder belassen möchte und für neuen Schwung sorgen wolle, sehe er sich in Anbetracht der anstehenden Vertragsfristen zur automatischen Verlängerung einiger Verträge gezwungen, schnell zu reagieren und von seinem „Recht auf Veränderung“ im Falle eines Intendantenwechsels Gebrauch zu machen.

Dicaz’ Kritik am Besonderen des Alltäglichen greift zu kurz

Ein Kommentar von Felix Kremser

Dass es mit Katja Klemt, Eva-Maria Blumentraht, Anke Neubauer, Marta Dittrich, Christian Holm und Hannes Rittig auch über das Theater hinaus kulturell engagierte Mitarbeiter trifft ist absolut bedauerlich. Wer will dem neuen Intendanten aber die Möglichkeit absprechen, wenn sie schon besteht, mit Leuten zusammenzuarbeiten, von denen er weiß, welche Sprache sie sprechen und zu denen er volles Vertrauen hat, insbesondere vor dem Hintergrund der angespannten Situation am Theater Vorpommern und Löschners doppelter Verantwortung als kaufmännischer Direktor und Intendant? Am Ende muss sich schließlich auch Dirk Löschner am Erfolg messen lassen. Doch nicht zuletzt dürfte auch die schleppende und fast schon geheime Intendantensuche des – wohl gemerkt öffentlichen! – Theaters ihren Teil zum derzeitigen Unmut beigetragen haben. Indem man erst Ende April zu einer Entscheidung gelangt war, gab man Löschner alles andere als viel Zeit, um sich einen Überblick über die Situation und Mitglieder des Hauses machen zu können. Besonders vor dem Hintergrund, dass wichtige Vertragssituationen geklärt werden mussten, ist dieses Verhalten nicht nachzuvollziehen.

Insofern lässt sich der von Dicaz erhobene Zeigefinger auch als Kritik an der gegenwärtigen Interimsgeschäftsführung deuten, Öffentlichkeit und offenbar auch Mitarbeiter weitestgehend über die Zukunft des Hauses im Unklaren gehalten zu haben. So wirkt ein Vorgang, der an Theatern gang und gäbe ist, wie das abgekartete Spiel feuerwütiger Geschäftsführer und eines despotischen Intendanten. Durch die explizite Nennung und Anklage im Wahlkampf befindlicher Politiker, sowie einen tiefen Griff in die emotional ausgekleidete Polemikkiste spitzt Dicaz dieses Bild weiter zu, wodurch seinem Flyer jedoch so eher ein Hauch blindwütiger Rache statt sachlicher Auseinandersetzung anhaftet. Zwar versucht er mit großen Begriffen wie sozialer und moralischer Verantwortung das Unglück, dass kulturelle Einrichtungen auch an wirtschaftliche Interessen gebunden sind, anzureißen, doch lässt er außer Acht, dass sich diese Verantwortung nicht nur auf die Einzelnen, die von den Nichtverlängerungen betroffenen “Väter und Mütter von Kleinkindern, allein erziehend oder familiär an die Region gebunden” bezieht. Vielmehr trägt Löschner mit seiner Aufgabe, insbesondere angesichts der ernsten Lage des Theaters, die moralische und soziale Verantwortung für ein zentrales Organ der Greifswalder Kulturlandschaft, dessen Wegfall oder drastische Beschneidung gravierende Konsequenzen für die gesamte Region hätte! Insofern können die ausgesprochenen Nichtverlängerungen durchaus auch als Zeichen gesehen werden, dass sich Löschner eben dieser Verantwortung bewusst ist und ihr durch neue Impulse am Theater nachkommen möchte. Denn wozu engagiert man schließlich einen neuen Intendanten, wenn nicht für neue Impulse? Und sollte dieser nicht selbst am besten wissen, welche Veränderungen er vornehmen muss, um seine Ideen umsetzen zu können? Letztlich wird sich zeigen müssen, wie sinnvoll Löschners Maßnahmen waren und ob er sowohl mit der pikanten Situation des Theaters als auch mit dem Wechsel an ein größeres Theater zurechtkommt. Schade bleibt allerdings, dass Dicaz’ durchaus gerechtfertigte und nachvollziehbare Kritik lediglich an der Oberfläche bleibt und mehr eine Aufforderung zum Bananenwerfen ist, denn zu einer tiefer gehenden Hinterfragung der Kulturpolitik der Stadt und des Landes.

Fotos: Theater – Simon Voigt/ webmoritz Archiv; Sitzreihe und Doppelspitze – Torsten Heil