„Ich frag doch nur“
Ich bin schon lange in einem Konflikt mit mir selbst, bin mir unschlüssig. Ich finde es schwer, Position zu beziehen im Angesicht der Frage: „Diskutierst du eigentlich gerne?“. Lange war meine Antwort intuitiv „Nein!“ – Wenn ich an Diskussionen denke, sehe ich ein fantastisches Theater – wie zwei Politiker*innen, die unbeeindruckt vom Ausgang des Fernsehduells weiterhin starr ihrer Partei Position vertreten – ein Auswendiglernen von Argumenten, von Kontern, Strategien – ein Fokus auf Kampf und Ego statt Selbst- und Fremdkonversion. Ich sehe leere Hüllen, die fremdes Feuer spucken.
Auf der anderen Seite finde ich Freude daran, mit Freund*innen zu „philosophieren“. Über Abstraktes und Konkretes, historisches und aktuelles, amüsantes oder spaltendes zu sprechen – im Tandem zwischen lernen und lehren zu schwingen. Was unterscheidet also solche zwei Diskussionen?
Vor allem glaube ich, sind das zwei Sachen: Einmal die Offenheit gegenüber der Gesprächspartner*innen – Offenheit gegenüber ihren Erfahrungen, ihren Meinungen, gegenüber der Möglichkeit, die eigenen Ansichten abzuändern. Andererseits und darin verwachsen sind die dringend vorauszusetzenden, guten Intentionen beider.
Aber wie erkennt man diese – und wie kann man sich gegen schlecht Intentionierte wehren? In diesem Artikel werden vor allem die im Fragen verankerten rhetorischen Fallen behandelt, und erörtert warum wir auf diese regelmäßig hereinfallen.
Alte Muster
Fragen stellen – und andere beantworten – gehört genau so zum Menschsein wie sein aufrechter Gang oder eine einzigartige Schädelstruktur. Wir lieben Fragestunden, Krimis, Sudokus – lesen Interviews und Fachliteratur – wir spionieren, fragen ein heiteres „wie geht´s?“ und sind enttäuscht von einer abschlagenden Antwort. Wir gehen durchs Leben, werfen unterbewusst Fragezeichen – und fangen Antworten – lehren den Kleinsten sofort das strukturierte Fragen, und nutzen „Wer, Was, Wann, Warum?“ auch noch später beim Verfassen von Texten oder dem Halten wichtiger Telefonate.
Vor allem die automatische und schnelle Verarbeitung von Fragen war schon immer für das Menschsein essenziell. Wer sich vor einem Bären verteidigen muss, hat keine Zeit, sorgfältig Verteidigungsstrategien zu durchdenken. Er kann nicht sein exaktes Gewicht, Prankenreichweite und potenzielle Höchstgeschwindigkeit kalkulieren – er hat keine Zeit, um jeden Fluchtweg zu analysieren oder die beste Position zum Totstellen auszutesten. Wir überschlagen Zahlen, schätzen grob ab – und nehmen die erstbeste Körperhaltung ein. Ein Umstand, der uns – auch in Abwesenheit von bedrohlichen Beutegreifern – eine hohe Anfälligkeit für Heuristiken und andere Denkfehler verleiht.
Unser routiniertes Lösungsmuster im Frage-Antwort-Spiel – inklusive der eben genannten Abkürzungen – wird impulsiv auf jede Situation angewandt. Vernehmen wir nur eine zum Satzende höher werdende Stimme oder erkennen im Augenwinkel schemenhaft die krumme Struktur eines Satzzeichens, gehen die Gedanken vom Standpunkt der Frage aus auf Jagd – suchen nach Begründungen, Rechtfertigungen, Lösungen – ohne einmal die Legitimität der Mission selbst kritisch zu hinterfragen.
Die Gesellschaft und der Wortabtausch
„Das Fragen“ oder auch „die Frage“ haben neben der Nezessität als Überlebensreflex auch eine sehr hohe gesellschaftliche Wertschätzung inne. Nicht fragen zu dürfen füllt uns mit Abschätzigkeit – hinter jedem Verbot vermuten wir etwas Fauliges – Demokratie ohne Frage wird zur Diktatur. Denn „fragen“ ist Wissen sammeln, und Wissen ist schließlich gut. Warum würde man abblocken, wenn nicht, um etwas Zwielichtiges zu verbergen? Die Abwesenheit einer Auskunft wird zur Antwort selbst.
Andererseits, trotz aller „Heiligkeit“ der Frage, wird dem Antwortgeben selten mit selbigem Respekt und Verständnis begegnet. Das liegt ganz in seiner komplizierteren Natur – und der Ungeduld des Gegenübers. Auskunft geben erfordert mehr Arbeit und Präzision als das Infragestellen – aber wirkt auf den ersten Blick so einfach. Man muss vorsichtig sein, sich gut artikulieren – am besten nicht zu lange brauchen, denn warum hast du denn die Antwort nicht parat? Es wird viel und häufig gefragt, von derselben oder anderen Personen – dieselbe oder Variationen im Kern identischer Fragen. Man wird im Moment der Betrachtung an den Pranger gestellt und mit Obst beworfen, ohne etwas schuldig sein zu müssen. Nicht ohne Grund empfinden viele Eltern die „Warum?“-Phase ihres Kindes als besonders nervtötend. Gemeinhin Offensichtliches zu erklären und dann mit Zweifel statt Dankbarkeit begegnet zu werden, ist frustrierend. Kontinuierlich mit Schmutz gestreift zu werden, wertet die Stimmung ab.
Es gibt also ein Ungleichgewicht zwischen dem Fragenden und dem Antwortenden. Nicht nur in der mangelnden Balance ihres Aufwands, auch der Blick ist auf den Einen schärfer gerichtet – während der Fragende keinem Rechenschaft schuldig ist. Aus diesem Ungleichgewicht folgt eine Varietät an Kniffen und Tricks, welche findige Populist*innen verdeckt auf breite Massen loslassen – und Laien ungemerkt dem eigenen Sprachgebrauch unterjubeln.
Destruktion statt Debatte
Das Unwetter
Direkt aus dem ungleichen Aufwand folgt eine ganz simple rhetorische Verteidigung: Das Fragenstellen. Klingt vielleicht erstmal langweilig – sind Diskussionen nicht einfach Abtausche von Fragen und Antworten? – ist aber ganz unangenehm effektiv. Wenn Kandidatin A bemerkt, dass Kandidat B tatsächlich gute Argumente vorlegt – oder die eigenen eindeutig entkräftet hat, kann der*die Gegenüber in einem Ansturm von Fragen ertränkt werden. Fragen stellen ist ja gerechtfertigt – also warum das? Woher stammt die Info? Welche Autor*innen waren beteiligt, wie groß die Stichprobe? Welches Land, welches Jahr, welche Sicherheit? Wie kommst du drauf? Warum, weshalb, wieso? Alles in sich durchaus berechtigte Fragen, aber in ihrer Ziellosigkeit und Masse können schlechte Intentionen sichtbar werden.
Auf den Fragenhagel folgt die Desorientierung – mögliche Zuhörer*innen, oder der „Gegner“ selbst, werden erschöpft – vergessen ihren ursprünglichen Punkt und stimmen einem Fortfahren zu weiteren Argumenten zu. Wir nehmen uns ja nicht die Zeit zu entscheiden, ob wir eine Frage akzeptieren – sondern setzen automatisch sofort zum Antworten an. Das tatsächliche Ziel einer Debatte geht dabei verloren. Es ist ja das Finden von Erkenntnissen der eigentliche Sinn – und nicht das k.o. des Gegners oder der Gegnerin im intellektuellen Wattestäbchenboxkampf. Der Fragenstellende behält hier aber seine aufgesetzte Fassade, und kommt ohne verletztes Ehrgefühl durch mangelhafte Argumentation davon.
Die Ölbohrung
Eine andere Version des Fragenansturms – nennen wir sie „Tiefenbohrung“ – wird gerne bei Gesprächen über Begriffe und ihre Definitionen genutzt. Matt Walsh beispielsweise bohrt in seiner Dokumentation „What is a woman?“ zahlreiche Menschen nach der Titelfrage aus, welche er selbst auch nicht zureichend beantworten kann – es unter dem Deckmantel des aufrecht interessierten Bürgers aber auch nicht muss. Dabei hofft er selbstverständlich nicht auf einleuchtende Erkenntnisse, die das Verständnis der Gesellschaft für Transmenschen revolutionieren – sondern gedenkt, seiner Zuschauer*innenschaft Menschen zu präsentieren, welche sich in den sprachlichen Fischernetzen des Journalisten verheddern und aufgrund der Zirkulation von Definitionen nie bei einer ihm zureichenden Erklärung angelangen. Der Journalist fragt, der Befragte kann mangels Existenz einer „unhinterfragbaren Antwort“ nie der Bohrung – dem Ouroboros – entkommen – und gibt auf. Der Journalist steht als letzter, der Zuschauende applaudiert – und sieht sich in seiner oder ihrer Sicht auf die Dinge bestätigt. Das der ganze Spaß andersherum, bei einer Befragung von Matt Walsh genauso abgelaufen wäre, interessiert keine*n.
Unabhängig davon muss natürlich auch immer die dominante Position des*der Journalist*in gegenüber seines*r Interviewpartner*in bedacht werden. Nicht nur verfügt erstere Person über das finale Wort im Schnitt. Sie kann auch das Interview mit dem*der Opponent*in in unbekannte Gebiete führen und – mangels Recherchemöglichkeiten im Gespräch – im Dunkeln tappen lassen, diese Unsicherheit aber im Endprodukt der Zuschauer*innenschaft als Zeichen der eigenen intellektuellen Überlegenheit präsentieren.
Der Borkenkäfer
Ähnlich und anders geht es auf vereinzelten Demonstrationen, Youtube-Kommentaren oder dem amerikanischen Nachrichtensender Fox-News zu. Das Fragenstellen selber dient hier wieder als Schutzschild: Man unterstellt ja nichts! Aber führt Zuhörende direkt auf den Weg des sorgenvollen Misstrauens von vollkommen normalen Sachverhalten.
Alleine, dass jemand fragt, suggeriert ja schon, dass etwas nicht ganz stimmen kann. Ein Haufen Fragen, die man sich selbst nicht beantworten kann – oder mangels tatsächlichem Interesse will – führen zu dem Abbau von Grundvertrauen. Der dauernde Zweifel ,das Ausgesetztsein gegenüber nagenden Fragen, modert und durchgräbt Fundamente, wie es zwischenmenschlich nur Neid und Eifersucht tun. Verstärkt wird das Ganze durch die Ambiguität der Frage selbst. Es sind meist „die da oben“, „andere“, einfach „die“, vielleicht sogar „die Eliten“ – in jedem Fall „nicht wir“. Es baut sich ein sumpfiges Misstrauen auf – und eine verstärkte Abneigung gegen alles, was fremd ist – alles, was man mit „nicht wir“ assoziiert.
Hier wird wieder das Fragenstellen zum politischen Werkzeug. Eine solche Nachrichtensendung hat zwar das Kapital zur Beantwortung der eigenen simplen Fragen – kann sich ein Rechercheteam leisten – sie will aber keine Antworten. Denn ein brüchiges Vertrauen des*der Zuhörenden zu anderen Sendern, zum „Mainstream“, bindet mediale Aufmerksamkeit außerordentlich. Frustrierte und misstrauische Menschen teilen außerdem eher die Sprache eines Sensationssprechenden – jemandem, der in Superlativen spricht – als solche, die formelle Vermittlung von Informationen suchen.
Die Antwort
Es zeigt sich: wichtig ist, nachvollziehen zu können, warum Fragen gestellt werden. Wird von der Person gegenüber erwartet, dass Zeit und Aufwand in Erklärung fließen, so sollte zumindest der Hintergrund der Frage – die eigentliche Motivation dargelegt werden. Seid ihr euch unklar über die Absichten eurer Gesprächspartner*innen? Fühlt ihr euch eingeengt? Dann stellt die Gegenfrage – klärt auf, was hinter euer beiden Fassaden steckt! Welche fundamentalen Ansichten führen euren Diskurs? Sucht ihr tatsächlich nach Antworten oder standen diese schon, bevor das Fragewort den Mund verließ?
Warum fragst du eigentlich, was eine Frau ist? Hast du tatsächliches Interesse an gesellschaftlichen Entwicklungen? Interessierst du dich für den Wandel und Herkunft von Definitionen? Bist du eher verwirrt, möchtest lernen? Oder hast du einfach Angst vor dem Unbekannten? Geht es dir um den Einfluss von Transfrauen auf den Sport? Dann sprechen wir doch darüber, klären wir auf – und lass uns nicht realitätsferne Definitionen, Wortgebilde, das Zentrum unseres Gespräches sein.
Natürlich ist das Fragen stellen selbst, ob im privaten, universitären oder politischen Kontext wichtig – ohne Fragen wäre Lernen unmöglich, und eine Verbesserung der Umstände außerhalb unserer Reichweite. Dennoch müssen wir uns klar werden, welche Privilegien wir dem*der Fragestellenden zusprechen und empathisch dem*der Antwortenden gegenüber sein. Wir müssen uns trauen zu hinterfragen, was tatsächlich Sinnvolles von Fallen und trojanischen Pferden unterscheidet. Auf die Qualität und das Motiv hinter Fragen zu achten, erspart Ungerechtigkeiten – und schafft mehr Raum für qualitativ Hochwertiges.
Beitragsbild: Karolina Grabowska auf pexels