Das Landgericht Köln hat in seinem berühmten Urteil vom 7. Mai 2012 die religiöse Beschneidung als rechtswidrige Körperverletzung bewertet. moritz suchte in Greifswald nach verschiedenen Meinungen – diesmal von einem jüdischen Professor.

 

Das Landgericht Köln hat in seinem Urteil vom 7. Mai 2012 die Beschneidung als Körperverletzung bewertet.

Also warum spricht der moritz mit mir erst jetzt darüber? (lacht) Vielleicht hat es mit göttlicher Vorsehung zu tun (lacht weiter), da der jetzige Zeitpunkt eigentlich wunderbar zu diesem Thema passt. Zwischen dem 8. und 16. Dezember dieses Jahres findet nämlich das Hanukkah-Fest statt. An Hanukkah feiert das Judentum den Sieg der Makkabäer gegen die Seleukiden und die Neueinweihung des Tempels in Jerusalem, um 164 vor unserer Zeit, nach dessen Plünderung durch die Besetzer. Die Neueinweihung des Tempels ermöglichte es, dass Juden ihre Bräuche wieder ungehindert praktizieren konnten, welche die Besetzer zu unterbinden versuchten. Im ersten Buch der Makkabäer lesen wir, wie der Syrische König Antiochus Epiphanes die Beschneidung verbot. Auch wenn dieser Text für Juden nicht als biblisch gilt, bekommt man dennoch einen Eindruck davon, wie das Beschneidungsverbot aus der Sicht des jüdischen Kollektivgedächtnisses gesehen wird, nämlich als ein wichtiger Teil des Versuches, das Judentum insgesamt zu annullieren.

Wann haben Sie von diesem Urteil zum ersten Mal gehört?

Ziemlich sofort danach. Ich erinnere mich sehr gut daran Berichte darüber im Radio gehört zu haben. Und seitdem – natürlich – taucht das Thema innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinde immer wieder auf.

Wie empfinden Sie das Urteil?

Einerseits kann ich nicht sagen, dass ich sehr überrascht bin. In der letzten Zeit gab es in verschiedenen Ländern Versuche, die Beschneidung zu verbieten oder stark zu regeln. In San Francisco 2011 gab es sogar eine Volksabstimmung über ein Beschneidungsverbot, welches sich glücklicherweise nicht durchsetzte.

Andererseits aber ist es sehr überraschend, dass gerade in Deutschland solch ein Urteil gefällt werden konnte und obendrein die Mehrheit der Bevölkerung, laut der Umfrage, die ich gesehen habe, diesem Urteil zustimmte. Ich muss ehrlich sagen, dass diese ganze Geschichte sehr peinlich für Deutschland ist. Ich hätte gedacht oder gehofft, dass man hier wegen der Vergangenheit sensibler mit dem Thema umgehen würde. Ich frage mich, ob man wirklich aus dieser schwierigen Geschichte etwas gelernt hat. Und ich sage das nicht nur in Bezug auf das Judentum, sondern auch auf den Islam. Lassen Sie uns die Juden für einen Moment vergessen. Was sagt dieses Urteil den vier Millionen Muslimen, die hier leben? Es gibt keinen leichteren oder sichereren Weg, sich von ihnen weiter zu entfremden als diesen. Was das Judentum betrifft: unsere Zahlen sind natürlich viel niedriger, vielleicht gibt es 200.000 von uns hier. Aber wir sind symbolisch sehr wichtig. Was bedeutet es, wenn kaum 70 Jahre nach der Shoa ein existentielles Merkmal des Judentums verboten werden kann? Deswegen hat das Urteil so große Unsicherheit unter den Juden in Deutschland geweckt.

Um es zusammenzufassen: Im Oktober 2010 wurde vom damaligen Bundespräsidenten Wulff geäußert, dass das Judentum und inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehören. Das Kölner Urteil hat ein riesengroßes Fragezeichnen hinter diese Aussage gestellt.

Obwohl das Urteil möglicherweise auch eine positive Folge hatte: es trägt vielleicht dazu bei, die jüdisch-muslimischen Beziehungen in Deutschland zu verbessern.

Hat Sie die öffentliche Debatte zu diesem Thema überrascht?

Ja, in einer Hinsicht: dass Beschneidung hier so negativ beurteilt wird. In den USA, wo ich aufgewachsen bin, werden Beschneidungen für Jungen normalerweise im Krankenhaus nach der Geburt angeboten.

Warum und wann findet eine Beschneidung im Judentum statt?

Beschneidung wird im Judentum als Berit Milah gekennzeichnet. Milah heißt Beschneidung, Berit Bund. Das heißt, die Beschneidung ist nicht nur Brauch, sondern markiert den Eintritt in die Gemeinschaft. Zum ersten und ausführlichsten Mal taucht  Berit Milah in der Bibel in Genesis 17,9-14 auf. Hier befiehlt Gott Abraham die Beschneidung für seine Söhne und für alle männlichen Angehörigen seines Haushalts am achten Tag des Lebens. Sie gilt gleichzeitig als der Bund selbst zwischen Gott und Mensch und als Zeichen für diesen Bund. Daneben dient die Berit Milah der Absonderung Israels: Auch wenn andere Völker oder Religionen, etwa der Islam, die Beschneidung durchführen, hat die Berit Milah im Judentum einen ganz besonderen Platz. Zum Beispiel selbst wenn der achte Tag nach der Geburt auf einen Sabbat oder sogar Yom Kippur, dem Versöhnungstag, fällt, findet die Berit Milah trotzdem statt. Da normalerweise am Sabbat keine Arbeit gemacht werden darf und der Versöhnungstag der wichtigste Tag des Jahres ist, zeigt dies ganz deutlich, wie wichtig und zentral dieser Brauch für das Judentum ist.

Im Falle der Konversion eines Mannes zum Judentum, erfolgt die Berit Milah auch, aber normalerweise nur durch die Entnahme eines Blutstropfens. Da die Berit Milah den Eingang in den Bund mit Gott darstellt, erfolgt dieses Verfahren selbst dann, wenn der Konvertit schon beschnitten ist.

Ist die Beschneidung religiöse Pflicht?

Ja, und könnte sogar als die Pflicht der Pflichten beschrieben werden: im Talmud wird gesagt: “Bedeutend ist die Beschneidung, da sie alle Gebote aufwiegt” (bNed 32a).

Könnte die Beschneidung aufgeschoben werden und der Junge sich im Jugendalter bewusst dafür entscheiden?

Aus gesundheitlichen Gründen wird die Berit Milah ohne Zweifel verschoben, wird aber sobald wie möglich vollzogen. Allerdings spielt es keine Rolle, ob der Junge in die Beschneidung einwilligen kann. Dies hat mit eben dem Charakter des Befehls Gottes zu tun: Jeder Vater im Judentum ist verpflichtet, seinen Sohn beschneiden zu lassen, nicht jeder Mann sich selbst.

Haben Sie einer Berit Milah schon beigewohnt?

Ja, mehrmals. Ich bin fast sicher, dass die erste meine eigene war, aber leider sind die Erinnerungen an diesen Zeitpunkt doch ziemlich dämmerig. Aber im Ernst: Ich habe mehreren beigewohnt. Es ist ein schöner Anlass: Normalerweise sind viele Leute (jüdisch und nicht jüdisch) dabei, es wird gut gegessen und gefeiert. Man hofft auf die Zukunft, dass genau “wie das Kind in das Bündnis eingetreten ist, so möge es auch in das Studium der Tora, unter den Hochzeitsbaldachin und zu guten Werken treten,” wie es im Talmud steht (bShabbat 137b).

Sind Sie von Freunden und Bekannten, auch aus den USA auf das Thema angesprochen worden?

Ja, man fragt besorgt: Was genau passiert in Deutschland? Wie wird versucht damit umzugehen? Ich versuche zu erklären, dass das Kölner Urteil nicht bindend für ganz Deutschland ist. Aber ehrlich gesagt, ich bin erst vor zwei Jahren hierher gekommen, mein Verständnis des deutschen Rechtssystems ist noch gering.

Teilen Sie die Meinung des Berliner Gemeinderabbiners Yitshak Ehrenberg, das Urteil tötet das Judentum in Deutschland?

Das Urteil selbst tötet das Judentum in Deutschland nicht, aber es bringt es, sozusagen, zum Bluten. Und wenn keine gesetzliche Regelung der Beschneidung folgt, wie sie etwa nun im Bundestag läuft, dann wird es ernste Folgen für das jüdische Leben hier haben. Dort, wo die Beschneidung nicht stattfinden kann, kann es kein richtiges jüdisches Leben geben. Im diesem Zusammenhang möchte ich betonen: das Judentum strebt danach, sich seiner Umwelt anzupassen. Es gibt sogar ein wichtiges Prinzip: das Gesetz des Landes ist das Gesetz für Juden. Also bei vielen anderen religiösen Vorschriften kann man sagen, okay, das ist etwas, das wir machen sollen, aber hier ist es nicht erlaubt. Aber bei einer so zentralen Pflicht wie der  Beschneidung ist das schwierig. Das Urteil ist deswegen für uns quasi als ob man den Christen sagen würde, die Taufe sei ein Strafakt.

Daniel Stein Kokin ist Juniorprofessor für Jüdische Literatur und Kultur an der Universität Greifswald

Es ist für mich persönlich nicht so interessant oder wichtig festzustellen, ob eine Aussage antisemitisch ist oder nicht. Das lasse ich gerne andere entscheiden, die sich um den Antisemitismus kümmern. Natürlich ist es aber nicht schön, wenn als Beispiel Marlene Rupprecht aus der SPD erklärt: „Wir hatten den Holocaust, also haben wir jahrhundertelang nichts zu kritisieren.”

Ich sehe das anders: Es ist durchaus erlaubt das Judentum oder jüdische Bräuche zu kritisieren. Man kann deshalb auch sagen: Ich bin gegen die rituelle Beschneidung. Aber dann muss man auch anerkennen, dass es einem wichtiger ist, eine angebliche „Körperverletzung“ zu verbieten als tolerant anderen Religionen gegenüber zu sein. Meinen die Gegner der Beschneidung das wirklich? Verstehen sie, was ihre Position tatsächlich bedeutet? Ebenso würde ich die Gegner der rituellen Beschneidung auffordern, sorgfältig darüber nachzudenken, warum ihnen dieses Thema eigentlich so wichtig ist. Ist es wirklich ein größeres Problem in Deutschland, dass einige jüdische und muslimische Eltern ihre Kinder beschneiden, als, sagen wir, dass Teenagers freien Zugang zu Zigaretten überall in diesem Lande haben? Man befürchtet, dass sich hinter den schön klingenden Forderungen zum Wohl des Kindes tiefsitzende Vorurteile gegen andere Kulturen verstecken.

Was halten Sie vom alternativen Berit Schalom, bei dem auf die Beschneidung verzichtet wird?

Berit Schalom, übersetzt Friedendsbund, ist eine jüdische Namensgebungszeremonie ohne Beschneidung, also „Berit ohne Schnitt“, wie der Titel eines vor Kurzem erschienenen Artikels in der Jüdischen Allgemeinen hieß. Natürlich ist es eine interessante Alternative, allerdings akzeptiert es bisher nur ein sehr kleiner Anteil des jüdischen Volkes. Gegen das Kölner Urteil haben sich sowohl die Reformer als auch die Orthodoxen, also fast das gesamte jüdische Spektrum in Deutschland, geäußert.

Spezifisch zum Berit Schalom habe ich zwei Bemerkungen: Erstens, es ist theoretisch möglich, dass das Judentum entscheiden wird, die Beschneidung symbolisch anstatt physisch durchzuführen. Früher gab es Tieropfer im Jerusalemer Tempel, heute stattdessen gibt es an ihrer Stelle Gebete. Die Opfer selbst tauchen heute nur symbolisch in der Liturgie auf. Man könnte sich sehr gut vorstellen, dass ähnliche Prozesse auch künftig passieren werden. Allerdings müssen sie intern erfolgen. Besonders an einem Ort wie Deutschland mit seiner Geschichte. Die Entscheidung des Gerichts gegen die Beschneidung und die Rufe einiger Politiker nach symbolischer Beschneidung als Ersatzritual bewirken innerhalb der jüdischen Gemeinde eher eine verstärkte Unterstützung der Berit Milah. Gerade wie zur Zeit der Makkabäer: im zweiten Buch der Makkabäer lesen wir über Mütter, die für die Beschneidung ihrer Söhne sogar den Märtyrertod in Kauf nahmen.

Und zweitens: Auch wenn ich so einen „Entbeschneidungsprozess“ – lassen Sie uns es so nennen –  für möglich halte, erwarte ich ihn sobald nicht – zumindest, was das normative, meistverbreitete Judentum betrifft. Das Judentum ist ganzheitlich, es lebt vom bräuchlichen Tun. Das Tun kann allegorisch erklärt und ausgelegt werden, aber bleibt immer fester Bestandteil. Und wenn es sich aber zur reinen Allegorie wandelt, also Allegorie anstatt Praxis, ist das immer ein Zeichen für die künftige Auflösung des Judentums. Es gab, gibt und wird immer Juden geben, die auf echte Beschneidung verzichten. Aber das Judentum selbst, also die Mehrheit der Juden, wird an der Beschneidung festhalten.

Wenn der Bundestag den aktuellen Regierungsentwurf verabschiedet, gibt es eine Straffreiheit für religiöse Knabenbeschneidung. Denken Sie, das Thema ist dann aus der Welt?

Natürlich nicht. Da die Beschneidung, vor allem die Berit Milah, immer diskutiert wurde und umstritten war, ist es schwierig sich vorzustellen, dass das in Zukunft nicht weiter der Fall sein sollte.

Ich denke, dass das Thema heutzutage so wichtig ist, weil es der individuellen Entfaltung des Menschen zu widersprechen scheint. Die moderne säkulare Gesellschaft basiert auf der Idee, auf dem Mythos könnte man sogar sagen, dass jeder Mensch über sein Schicksal, seine Identität für sich allein entscheidet. Das ist in vielerlei Hinsicht richtig und gut so! Aber darüber wird oft vergessen oder vernachlässigt, inwiefern wir unvermeidlich von den Umständen unseres Lebens, vor allem unserer Familiengeschichte geprägt sind. Unsere Individualität ist nicht so rein oder klar, wie wir uns das einreden wollen. Die überwiegende Mehrheit der Leute wählt nämlich ihre Kultur, Religion und Staatsangehörigkeit nicht aus. Das mag nicht so aufklärerisch oder rational klingen, aber ist tatsächlich so. Beschneidung spiegelt ganz deutlich die Grenze unserer Selbstbestimmung wieder und erinnert uns daran, dass jede Tradition, jede Identität immer von Eltern ihren Kindern überliefert wird. Während manche Leute, vor allem in Europa, auf solche Transmissionsverfahren weitgehend verzichtet haben, zeigt die Beschneidung unter Juden und Muslimen jedoch, dass sich andere Gruppen noch sehr aktiv um das Weiterleben ihrer spezifischen Identität kümmern. Kurz gesagt, was schlussendlich hier auf dem Spiel steht, ist inwiefern Eltern ihre Kinder prägen dürfen. Für manche in Deutschland lautet die Antwort: Nicht sehr viel. Aber eine Gesellschaft, die so entscheidet, hat keine Zukunft. Wie Thilo Sarazzin, nicht genau der Typ, den ich normalerweise gerne zitiere, es formuliert hat: Deutschland schafft sich ab.

Ein Interview von Daniel Focke; Foto und Grafik von Daniel Focke

 

Anmerkung: Der Kommentarbereich zu diesem Artikel musste leider geschlossen werden, da die Beteiligten mehr und mehr in Beleidigungen und Hetze gegenüber anderen verfallen sind und ein Wandel hin zu einer konstruktiven Diskussion nicht mehr absehbar war. Fragen und Anmerkungen bitte an web@moritz-medien.de. (Simon Voigt, Chefredaktion, 3. Februar 2013, 16:30 Uhr)