Klischees gibt es über MV reichlich: Raue Inselbewohner, ein hoher Fischbrötchenverzehr und braune Politklandschaft. Doch wer bereit ist über den Tellerrand der Vorurteile zu blicken, wird Erstaunliches entdecken können.
In wenigen Tagen ist Weihnachten und sobald man die letzte Veranstaltung vor den vorlesungsfreien Tagen hinter sich gebracht hat, werden alle sieben Sachen in einer Tasche verstaut und die Wohnung verlassen. Der Weg führt zum nächsten Bahnhof. Viele Menschen werden sich dort bereits zum Ticketautomaten vordrängelt haben, um noch schnell einen Fahrschein zu ziehen, bevor der nächste Zug kommt. Fast alle haben ein gemeinsames Ziel: Es zieht sie über die Weihnachtsfeiertage zu ihrer Familie und zu Freunden.
Die Szenarien innerhalb des Zuges sind dabei immer die gleichen: Sobald man sich einen Platz ergattert und der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, beginnt man zu lesen, Musik zu hören oder lässt einfach die Gedanken bei geschlossenen Augen schweifen. Die Umwelt oder die Orte, die auf der Heimreise durchquert werden, nimmt kaum jemand wahr, dabei hat Mecklenburg-Vorpommern noch so viel mehr zu bieten als graue Bahnschienen, die einen in die eigene Heimat bringen.
Es ist jetzt Sonntag, zehn Uhr, und von dem Gedrängel noch längst keine Spur. Wir, zwei Redakteure und eine Fotografin, machen uns auf den Weg quer durch unser Bundesland, um die Region einmal aus anderen Perspektiven zu betrachten. Der Himmel ist bedeckt und grau, eigentlich kein schöner Tag. Kaum haben wir Greifswald verlassen, ist um uns herum nichts als Natur: weite Felder, ein paar Waldabschnitte, hier und da ein paar Tiere, die noch recht unbeschwert Nahrung zu sich nehmen, bevor der Winter naht. Ein wohl typisches Bild für Mecklenburg-Vorpommern.
Ein paar Stunden später haben wir unser erstes Ziel erreicht: Dömitz. Die Stadt mit knapp 9 400 Einwohnern liegt im Landkreis Ludwigslust. Ganz leicht ist es nicht dorthin zu kommen, denn im Jahr 2000 wurde hier die Bahnhofshaltestelle geschlossen. Die nächste Anbindung liegt mit dem Auto etwa eine halbe Stunde entfernt in der Stadt Ludwigslust, welche sich auf der Strecke zwischen Berlin und Schwerin befindet. Dömitz gibt einem das Gefühl einen Zeitsprung von hunderten von Jahren zurück zu machen. Kein Plattenbau ist zu sehen und auch keine großen Einkaufspassagen. Wir erblicken viele alte Backsteinhäuser und an Stelle von großen beleuchteten Discounterunternehmen steht hier im Zentrum ein altes Gebäude auf dem in weißer Schreibschrift „Kaufhaus“ zu lesen ist. Unser Weg führt zu der Festung, die 1975 als „bedeutendes militär- und kunsthistorisches Bauwerk“ zum Denkmal erklärt wurde.
Die Festungsmauern werden von einem See umschlossen, den man nur über eine Brücke überqueren kann. Auf dem Gelände fällt der ziemlich große Wiesenplatz auf. Um ihn herum stehen mehrere hohe Backsteingebäude. Im Haupthaus treffen wir auf Jürgen Scharnweber, Leiter des sich dort befindenden Museums. Er erzählt uns, dass die Festung im 16. Jahrhundert als militärischer Stützpunkt diente und Fritz Reuter hier sogar eingesessen hätte. Reuter, ein bedeutender Schriftsteller unseres Landes, hatte sich der Burschenschaft „Germania“ angeschlossen, welche zu Zeiten einer herrschenden Monarchie die Demokratie forderten.
Was für uns heute selbstverständlich ist, war damals eine ziemlich utopische Vorstellung. Der preußische König verbot die Burschenschaft, und ihre Mitglieder wurden wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung verfolgt. Reuter, der eigentlich zum Tode durch das Beil verurteilt worden war, saß dann sieben Jahre in Festungshaft. Nach einer mehrmaligen Gefangenenverlagerung war Dömitz sein letzter Inhaftierungsort. Bildlich erklärt uns Scharnweber, unter welch bedenklichen Umständen man sich eine Festungshaft vorstellen könne. Inspiriert durch seine Gefangenschaft fing Fritz Reuter nach seiner Entlassung an zu schreiben.
Die Struktur der Festung, im Umriss ein Fünfeck, hat sich bis heute erhalten. Die Stadt wurde nach demselben Prinzip der Festung entsprechend gebaut. Von oben betrachtet, versetzt uns dieses Bild ins Staunen. Obwohl der Ort ein faszinierendes Ambiente ausstrahlt und das Bemühen da ist, junge Leute in der Heimat zu halten, verlassen viele Familien Dömitz. Im Jahr 2009 betrug die Abwanderungsrate ein Prozent. Scharnweber erklärt uns zudem bedauernd, dass der Wegfall des Haltepunkts natürlich ebenfalls Konsequenzen für den Ort gehabt hätte. Die Mobilität würde deutlich eingeschränkt, da es nach dem Schließen des Bahnhofs keine Alternativen, wie beispielsweise Busse, gegeben habe.
Nicht nur Dömitz ist von einer derartigen Lage betroffen. Laut Aussage des Verkehrsministeriums wird im kommenden Jahr auch Kargow und Klockow im Landkreis Müritz dieses Schicksal ereilen. Auf Nachfrage wurde sachlich erklärt, dass hier deutlich weniger als zwanzig Fahrgäste pro Tag die Haltestelle nutzen würden. Aufgrund des weiteren Ausbaus der Zugstrecke Berlin – Rostock müsse man in beiden Orten einen kompletten Neubau der Bahnhöfe vornehmen. Die Nachfrage sei jedoch zu gering, um damit die Kosten tragen zu können. Freundlich wurde seitens des Verkehrsministeriums aber erwähnt, dass diese Vorgehensweise der Entscheidung zum Schließen einer Bahnhofshaltestelle nicht typisch sei.
Nach eineinhalb Stunden verlassen wir Dömitz und machen uns auf den Weg Richtung Neubukow in Bad Doberan. Dort steht eine alte Windmühle, die 1889 zum ersten Mal ihre Flügel drehte. Während der Fahrt begegnen wir dem gleichen Szenario wie schon zu Beginn des Tages. Wieder fahren wir durch endlos erscheinende Grünanlagen und herbstlich eingekleidete Waldgebiete. Der Himmel erweckt den Anschein immer grauer zu werden und so langsam macht sich der Einbruch der Dämmerung bemerkbar. Neubukow liegt auf der Zugstrecke von Tessin über Rostock nach Wismar. Als wir Neubukow erreichen, ist es bereits dunkel und die Holländer Windmühle ist recht schwer zu finden.
Doch dann erblicken wir sie, versteckt stehend am Rande des knapp 4 000 Einwohner Ortes. Ein wenig enttäuscht müssen wir feststellen, dass trotz noch gültiger Öffnungszeiten niemand da zu sein scheint. Dennoch betrachten wir fasziniert das Bauwerk. Neben ihr steht gleich das dazugehörige Wohnhaus. In unmittelbarer Umgebung erstarren geradezu mehrere moderne Familienhäuser, was für uns den Charme der mehr als einhundert Jahre alten Mühle schlagartig steigen lässt. Hat sie mit ihren rot-weißen Flügeln doch schon eine lange arbeitsreiche Geschichte hinter sich: Mühsam von Joachim Evers für seinen Sohn Heinrich Joachim erbaut, durchlebte sie den Krieg und die Besetzung durch die Russen, welche die Mühle in einem katastrophalen Zustand zurückließen.
Heinrich Albert und Hans (ebenfalls Söhne von Joachim) wollten gemeinsam mit ihr ihre Zukunft gestalten, doch der Traum wurde zerstört, als Hans an der Front fiel. Nach beschwerlicher Neuinstandsetzung wurde die Holländermühle nach dem Wegfall der nachkriegsbedingten Lebensmittelkarten in Auftragsnöte gebracht und musste schlussendlich nach der Wiedervereinigung Deutschlands dem steigenden Konkurrenzkampf weichen. Stundenlang könnte man sich begeistert die Windmühle von allen Seiten betrachten, doch langsam wird es Zeit den Heimweg anzutreten. Erschöpft kehren wir am Abend von der ersten Fahrt zurück, bereiten uns jedoch schon auf die nächste vor.
Ein paar Tage später ist es erneut soweit. Diesmal haben wir einen Fotografen im Gepäck. Heute ist uns das Wetter etwas wohlgesonnener. Der Himmel ist hell, leuchtend und klar, die Sonne schaut vorbei, aber dafür sind die Grade auf dem Thermometer tief gefallen. Zuerst besuchen wir Ducherow im Landkreis Ostvorpommern. Jedem, der mit dem Zug Richtung Berlin oder Elsterwerda fährt, dürfte der Ort bekannt vorkommen. Von den knapp 2 600 Einwohnern ist wenig zu sehen und auch die Bahnhofshaltestelle scheint verlassen. Ein Zug fährt vorbei ohne anzuhalten, niemand will ein- oder aussteigen.
Wir erleben hier einen starken Gegensatz: Rechts von uns steht eine modernisierte Haltestelle und links dagegen unbenutzte alte Bahnhofshäuschen. Auf einem von ihnen ist noch „Ducherow“ zu lesen. Durch Kriegszeiten verlor Ducherow seine direkte Bahnanbindung zum heutigen Swinemünde. Nach dem Krieg wurde die Strecke nicht wieder aufgebaut, zudem gehört Swinemünde bekanntlicherweise nicht mehr zu Deutschland. Im Internet ist nachzulesen, dass eine Wiederinbetriebnahme bevorsteht. Uns jedoch teilte das Verkehrsministerium irritiert mit, dass dies zwar im Gespräch sei und befürwortet werden würde, man jedoch derzeit noch prüfe, wie das aus europäischen Mitteln bezahlt werden könne. Ducherow wird also ein Diskussionspunkt bleiben. Die zusätzliche Anbindung würde mehrere Vorteile mit sich bringen: Zum einen würden Reisende nach Swinemünde zwei Stunden ihrer Zeit einsparen, zum anderen stiege die Bedeutung des Bahnhofs enorm an.
Es geht weiter nach Demmin. Die Hansestadt, die sich im gleichnamigen Landkreis befindet, sieht lebendiger aus als Ducherow, was bei einer wesentlich höheren Einwohnerzahl (circa 12 000) nicht verwunderlich ist. Die Stadt besticht durch die Verbindung alter Bauwerke mit neuem Leben. Mitten im Zentrum kann man das „Luisentor“ mit dem dazugehörigen Pulverturm bestaunen.
Am Hafen bewundern wir das Hanseviertel, doch eigentlich wollen wir zur Sternenwarte. Von Zäunen und Toren umschlossen, auf einem Hügel steht sie direkt neben einer Schule. Bereitwillig teilt uns Günter Behnke, Amtsleiter der Stadt Demmin, mit, dass der ehemalige Wasserturm 1987 zu einer Astronomiestation umgebaut wurde. Er bedauere jedoch, dass derzeit nur zwei Referenten hier einmal im Monat Vorträge halten können und hofft ein Demminer Verein würde sich dieser Sache annehmen. Für Behnke hat sich der Umbau dennoch gelohnt: Eine schöne Variante alte Gebäude mit neuem Inhalt zu füllen. Es ist immer noch sehr kalt.
Unsere Reise neigt sich dem Ende. Wir haben verschiedenste Perspektiven von Mecklenburg-Vorpommern betrachten können: Einsamkeit trotz naher Großstadt, Kulturhochburgen, technische Glanzleistungen in alten Gemäuern und Naturschönheiten im Straßendschungel. Egal ob grüne Felder, einsam gelegene Mühlen, die Vereinigung aus alt und neu oder faszinierende Festungen. Unser Bundesland hat mehr zu bieten als raue Küstenluft und Fischbrötchen, überall kann man Neues und Interessantes entdecken. Man muss eben nur die Perspektive verändern und die kleinen Dinge in den Mittelpunkt der Betrachtung ziehen, dann fallen graue Bahnschienen gar nicht mehr so auf, auf dem Weg in die eigene Heimat. Man muss sich einfach auf das Land einlassen, um es mit anderen Augen zu betrachten und über gängige Vorurteile hinwegsehen zu können.
Eine Reportage von Laura-Ann Schröder und Irene Dimitropoulos mit Photos von Katharina Beutner