Bis zu viermal am Tag ist der Greifswalder Rettungshubschrauber über der Stadt zu hören. Doch seine Piloten bleiben unsichtbar.
Im Inneren des Hubschraubers ist die dreiköpfige Besatzung hochkonzentriert: Burkhard Piper, der Pilot, steuert den Rettungsflieger mit routinierten Bewegungen. Dabei blickt er immer wieder auf den Navigationsmonitor zu seiner Linken, auf dem bereits in hellblauer Farbe die langgestreckten Umrisse von Hiddensee sichtbar werden. Zwischendurch fliegen über Kopfhörer Funksprüche hin und her. Die Rotorblätter zerschneiden die kalte Winterluft, und aus dem Fenster sieht man den vereisten Bodden, dahinter den dunkelgrauen Horizont.
Die Sicht ist schlecht und die Hubschrauberinsassen diskutieren hin und her, wo man am besten landen könnte. Die Rettungsassistentin gibt per Funk an die Leitstelle durch: „Christoph 47 übernimmt“. Christoph 47, so lautet der Funkrufname des in Greifswald stationierten Rettungshubschraubers. An diesem Tag ist es das erste Mal, dass er in die Luft steigen darf, denn bis mittags waren die Wetterverhältnisse so schlecht, dass er nicht zum Dienst angemeldet werden konnte. In einem Winter wie diesem heißt es jeden Tag aufs Neue einschätzen, ob Christoph fliegen darf.
Der Dienst von Pilot Burkhard Piper beginnt unabhängig davon morgens um sieben und dauert bis Sonnenuntergang. Wenn er sich nicht gerade in der Luft befindet, ist sein Arbeitsplatz die Luftrettungsstation, ein kleiner Flachbau gleich neben der Notaufnahme des Uniklinikums. Dort arbeiten auch die weiteren Besatzungsmitgliedern des Fliegers: Schwester Karin – sie ist zugleich Rettungsassistentin und Copilotin – und ein Notarzt. Dieser graue Februartag beginnt im Stationsbüro mit den üblichen Morgenroutinen: Burkhard Piper steigt in seinen neonorangen Luftrettungsanzug und rüstet sich damit für einen neuen Tag als Lebensretter.
Der prüfende Blick auf das Fax vom Wetterdienst verheißt nichts Gutes. Zwar schneit es heute nicht, aber die dichte Wolkendecke steht wie eine undurchdringbare graue Wand am Horizont, hinzu kommen Vereisungen in der Luft. Zu gering sind die Sichtweiten, als das man einen Einsatz riskieren könnte. Schwester Karin telefoniert und erklärt resigniert: „Was hilft’s. Wir wollen ja heute Abend alle heil wieder nach Hause kommen.“ Während einer Kaffeepause hat Piper so Gelegenheit, von seiner Ausbildung zum Hubschrauberführer bei der NVA zu berichten. Damals gehörte er dem ersten Jahrgang in der DDR an, der einen Hubschrauberlehrgang absolvieren durfte, erzählt der 55-Jährige und rührt unterdessen in seiner Tasse. Seit 17 Jahren arbeitet er nun bei der Luftrettung in Greifswald.
Sein Beruf scheint offenbar sein Schicksal zu sein. – Schmunzelnd berichtet er aus seiner Kindheit: „Schon als Sechsjähriger soll ich zu meiner Oma gesagt haben: ,Wenn du einmal krank wirst; ich komme mit dem Hubschrauber und hole dich ab!‘ Ich hatte schon als Kind immer ein Faible für die Fliegerei. Sobald ich etwas rotieren hörte, musste ich gucken, woher das kam.“ Für die medizinische Rettung ist der Pilot allerdings im Normalfall nicht mitverantwortlich. „Der Pilot soll sich nur auf den Flug konzentrieren, soll psychologisch frei sein vom Zustand des Patienten. Das heißt, es soll uns egal sein, ob wir eine Kiste Sand oder ein Kind hinten drin haben – aber davon ist man natürlich nie ganz frei!“
Zwölf Uhr hat sich die Sicht endlich gebessert und Christoph 47 kann als einsatzbereit angemeldet werden. „Jetzt wird’s ernst!“, kündigt Piper an. Keine zehn Minuten später ertönt bereits zum ersten Mal für heute das laute Piepersignal. „Christoph 47 bitte kommen, ein Einsatz auf Hiddensee!“ Nun werden die drei Besatzungsmitglieder aktiv, schnüren die leuchtend orangen Rettungsanzüge zu und begeben sich eilig nach draußen, wo der Hubschrauber aus der Halle gefahren wird und der Rotor bereits beginnt, sich schnell zu drehen. An Bord müssen sich alle vierfach festschnallen und die riesigen weißen Helme mit den eingebauten Funkkopfhörern aufsetzen, während das signalrote Fluggerät schon senkrecht in die Luft steigt und die Stadt gen Norden verlässt.
Es ist sehr eng, die Maschine vibriert beim Fliegen heftig, und die Rotorgeräusche sind so laut, dass man sein eigenes Wort an Bord unmöglich verstehen kann. Gleichzeitig dringen unentwegt Funksprüche von verschiedenen Seiten zu Pilot Burkhard Piper: Vom Arzt, der bereits vor Ort ist, von der Notrufzentrale, und von den Besatzungsmitgliedern. „Vorsicht, auf zwölf ist ein Schornstein“, weist Karin ihn über Kopfhörer auf Hindernisse hin. „Und da sind wieder Hochspannungen!“ Aber Burkhard Piper ist ein Veteran in der Luft, er steuert den Hubschrauber mit ruhigen und sicheren Bewegungen, den Blick konzentriert nach vorne gerichtet.
Plötzlich muss er eine enge Kurve fliegen, und der Flieger neigt sich weit zur linken Seite, bis er samt Insassen fast senkrecht in der Luft liegt. Das hindert den routinierten Piloten nicht daran, unterwegs auf die Fauna der Vorpommerschen Boddenlandschaft aufmerksam zu machen: „Guckt mal, da ist ein Seeadlerpärchen auf dem Eis!“ Der Hubschrauber wird am Hafen von Vitte gebraucht, dort ist eine Frau gestürzt, vermutlich hat sie sich etwas gebrochen. Doch das Landen ist ein heikles Unterfangen bei den Wetterverhältnissen. Zu der schlechten Sicht kommt die weiße Schneedecke über der Landschaft hinzu, sodass man kaum erkennen kann, wo die Insel anfängt und Wasser und Eis aufhören.
Nach ca. zehn Minuten Flug und intensiver Suche nach einem geeigneten Landeplatz in dem verschneiten Gelände kann der Flieger dennoch in Vitte niedergehen und die Verletzte mit einer Trage an Bord laden. Sie muss ins Krankenhaus, aber da Hiddensee von der Außenwelt abgeschnitten ist, führt der einzige Weg von der Insel herunter durch die Luft. Obwohl die Sichtverhältnisse auf dem Weg nach Stralsund weitaus besser wären, erfüllt Piper die Bitte der Patientin und fliegt sie auf ihren Wunsch hin auch über die schwierigere Route in das nähergelegene Krankenhaus nach Bergen.
Rügen und Hiddensee sind die äußersten Grenzen des Einsatzgebietes von Christoph 47, denn dieses ist mit einem Radius von 50 Kilometern um Greifswald herum bemessen. „Hauptsächlich werden wir allerdings weniger wegen Unfällen alarmiert, sondern meistens wegen Erkrankungen, wie Herzinfarkten und Schlaganfällen“, kann Piper zurück in der Station berichten. Doch nicht immer bleibt es bei einem bloßen Transport ins Krankenhaus.
Manche Tage sind auch schwarze Tage für Burkhard Piper und seine Kollegen. „Einmal gab es einen Unfall, wo ein PKW brannte und auch Kinder beteiligt waren, die nicht mehr zu retten waren. Der Überlebende, der selbst schwer verletzt war, fragte dann, was mit seinen Kindern passiert ist…“, erinnert sich der Pilot und blickt in die Ferne, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Mit leiser Stimme erzählt er weiter: „Die drei Kinder auf der Rückbank waren völlig miteinander verschmolzen und den Geruch von angebranntem Fleisch würde ich immer wieder erkennen. Was sich über den Geruchssinn manifestiert, bleibt immer besonders in Erinnerung.“ Das Erlebte verarbeiten die Retter in der Regel, indem sie untereinander darüber sprechen und sich im Team über ihre Gefühle austauschen.
Zurück im Stationsbüro in Greifswald ist es wieder Zeit für eine gemeinsame Kaffeepause. Doch kaum sind die Tassen zur Hälfte leergetrunken, ertönt erneut der laute Fiepton des Piepers. Ein Bauarbeiter ist bei Karlsburg, ungefähr 20 Kilometer südlich von Greifswald, plötzlich akut erkrankt und braucht schnell einen Notarzt. Wieder heißt es anziehen, einsteigen, anschnallen und losfliegen. Der Hubschrauber verlässt Greifswald Richtung Südosten und landet wenige Minuten später auf einem Feld im knietiefen Schnee.
Dieser stiebt heftig empor, als sich der Helikopter dem Boden nähert, bis man aus dem Fenster nur noch eine weiße Wolke aus Flocken sieht. Die Besatzung muss sich langsam durch die Schneedecke zum Straßenrand durchkämpfen, sinkt bei jedem Schritt 30 Zentimeter tief ein. Nach einigen Gesprächen mit den Kollegen des Erkrankten beschließt der Notarzt, beim Patienten zu bleiben und im Krankenwagen zurückzufahren, während der Hubschrauber wieder Richtung Greifswald fliegt.
Für heute soll es bei diesen zwei Einsätzen bleiben. Eine Stunde Flugzeit insgesamt. Um 17.15 Uhr kann Christoph wieder vom Dienst abgemeldet werden. Morgen um sieben wird Burkhard Piper erneut den Anzug der roten Retter überstreifen. Ob er sich jemals gewünscht hat, etwas anderes zu machen? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen und wird von einem glücklichen Lächeln begleitet: „Nie, das ist der Traumberuf!“ Und nach einer kurzen Denkpause fügt er hinzu: “… wenn man das, was man gelernt hat, anwenden kann, um anderen Menschen zu helfen.“
Eine Reportage von Christiane Müller