Laut skandierende Demonstranten mit Schildern und Transparenten – “Bildung ist keine Ware!”, “Wien ist überall!”, “Reiche Eltern für alle!” – ziehen ins Audimax ein und verkünden lauthals: Das Audimax ist besetzt! Euphorische Reden, tobende Massen und am Ende wird das ganze von einer Hundertschaft der Polizei aufgelöst.
So hatten sich das einige der knapp zehn Pressevertreter wohl erhofft, als sie sich am Montag dem 9. November in die Rubenowstraße begaben. Stattdessen fanden sie ein paar verirrte Gestalten, die rauchend vor dem Eingang des Auditorium Maximum standen und nichts von der Aktion gehört hatten. Drinnen sah es nicht wesentlich anders aus. Neben den studentischen Medien, der Ostseezeitung und GreifswaldTV waren selbst der Pressesprecher der Universität und der Kanzler vor Ort. Doch auch eine Stunde nach der über Mundpropaganda verabredeten Zeit, konnten sie kaum mehr als 30 angehende Aktivisten zählen.
Inzwischen machte die Nachricht die Runde, dass die Besetzung im Hörsaal 3 stattfinden soll, weil dieser im Moment frei war. Dort erklärte man jedoch der Presse, dass sie falsch informiert sei. Hierbei handele es sich nicht um eine Besetzung. Es soll nur in nicht öffentlicher Runde diskutiert werden, wie man an den anstehenden Bildungsstreik herangehen will. Nachdem die Kameras auf Bitten der Versammelten den Raum verlassen hatten, stellte sich heraus, dass das nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Auf Initiative einiger hochschulpolitisch aktiven Studierenden wollte man sehen, wie viele Leute sich mobilisieren lassen würden, um eine Besetzung des Audimax in Angriff zu nehmen. Die unterste Grenze: 50 Studierende.
Beim Anblick der 35 Aktivisten wurde schnell klar, dass es nicht so einfach sein würde. Der webMoritz twitterte dazu zynisch: „Mit dieser Anzahl an Leuten könnte man eher ein Klo besetzen”. Trotzdem zogen die Leute nicht ungetaner Dinge wieder ab. Es begann eine ausgiebige Diskussion darüber, ob eine so drastische Maßnahme in Greifswald überhaupt nötig sei, ob es überhaupt sinnvoll ist, mit einer so kleinen Gruppe eine Besetzung zu starten. Schnell wurde klar: Gegen Studiengebühren kann in Greifswald nicht protestiert werden. Daraus zu schließen, dass es an der Universität Greifswald keine Probleme gibt, wäre aber falsch. Immer wieder wurde der Zustand des Institutes für Anglistik/Amerikanistik erwähnt. Die „Fachidiotie” der General-Studies in Greifswald, der verschulte Bachelor und die zulassungsbeschränkten Master-Studiengänge wurden kritisiert. Nicht zuletzt wurde auch gefordert, sich solidarisch mit den anderen, zu diesem Zeitpunkt vor allem österreichischen Universitäten, zu zeigen. Auch wurden andere Aktionsformen diskutiert – sollte man nicht besser das Rektorat besetzen oder einfach nur Flyer verteilen? Es wurde abgestimmt. Eine knappe Mehrheit war dafür und so war es beschlossen: Das Audimax ist besetzt!
Nach dieser eher inoffiziellen Besprechung zogen die Aktivisten in den Hörsaal 4 um. Die Mobilisierung weiterer Studierenden wurde jetzt vor allem angedacht. Konkret wurde ein eigener Blog eingerichtet, weil man den vom Bildungsstreik wegen Zwistigkeiten mit dem Allgemeinen Studierenden Ausschuss (AStA) nicht nutzen konnte, es wurde ein Twitter-Konto angelegt, StudiVZ- und Facebook-Gruppen gegründet. Doch mit der Internetpräsenz schien man eher Aufmerksamkeit bei den schon besetzten Hörsälen in Deutschland und Österreich hervorzurufen, als bei den Greifswalder Studierenden. Gleichzeitig wurde in der inzwischen gegründeten „AG Forderungen” eine Grundsatzerklärung erarbeitet, in der die Situation des Bildungssystems beschrieben und konkrete Forderungen aufgestellt wurden. Unter anderem wird der „Erhalt des Status der Volluniversität” gefordert.
Nachdem das versammelte Plenum die Grundsatzerklärung einstimmig angenommen hatte, wurde auf den Schlüsseldienst gewartet, der das Audimax eigentlich abschließen soll. Um 22 Uhr dann die Erleichterung: Die Besetzung wird vom Rektorat geduldet. Langsam kommt in den Köpfen an, was durch den wackeligen Beschluss nur der Form nach galt. Inzwischen wurde der Kontakt mit den anderen besetzten Universitäten hergestellt, Greifswald findet sich jetzt neben Wien, Heidelberg, München und diversen anderen Städten auf der Liste der besetzten Universitäten wieder. Das Gefühl, einer nationalen bis internationalen Bewegung anzugehören, verstärkt sich in den nächsten Tagen bei jeder Meldung über eine weitere besetzte Universität oder eine Aktion im Rahmen der Bildungsproteste. Ausgehend von Österreich, wo seit Ende Oktober neun Unis durchgehend besetzt sind, werden es am Ende weltweit mehr als 70 sein, darunter Städte aus England, Dänemark, Polen, Serbien, den Vereinigten Staaten und einigen mehr.
Diese globale Ausweitung der Proteste haben die Greifswalder Besetzer am Montag nur erahnen können. Trotzdem richteten sie sich häuslich im Hörsaal 4 ein. Etwa 20 Besetzer verbrachten die ganze Nacht im Audimax und frühstückten morgens dort. Bis zum großen Plenum um 16 Uhr wollte man möglichst viele Leute mobilisieren. Gleichzeitig hatte die unvorbereitete Gruppe alle Hände voll damit zu tun, die Besetzung möglichst richtliniengerecht zu halten. Um zum Beispiel einen alternativen Raumplan zu erstellen, suchten verschiedene Leute die umliegenden Hörsäle und Seminarräume ab, um Ausweichmöglichkeiten zu finden. Die Besetzer erklärten, dass sie niemanden „daran hindern wollen, sein Recht auf Bildung in Anspruch zu nehmen”. Auch das Gros der involvierten Studierenden ging trotz des Protestes weiterhin zu den regulären Vorlesungen. Zum großen Plenum erscheinen am Dienstag rund 100 Leute. Und obwohl die Besetzer sich bemühten, durch Filmvorführungen und Vorträge den inhaltlichen Anreiz zu geben, konnte diese Zahl bis zum Ende nicht mehr erreicht werden. Bis zur Beendigung der Besetzung am Freitag, an die sich eine spontane Demonstration durch die Stadt mit Kundgebung der Forderungen auf dem Marktplatz anschloss, waren zeitweise nur noch vier Leute im Audimax.
Bei all ihren Bemühungen standen die Besetzer alleine da, von Anfang an hat sich der AStA von der Besetzung als Aktionsform distanziert. Die inhaltlichen Forderungen unterstütze er natürlich, doch wurde den Besetzern vorgeworfen, dass sie den Lehrbetrieb störten, was durch die alternativen Raumpläne nur geringfügig der Fall war. Außerdem sagte Pedro Sithoe, stellvertretender AStA-Vorsitzender in der Pressemitteilung zur Besetzung, dass man „Protestaktionen mit Augenmaß planen müsse, damit sie ihre öffentliche Wirksamkeit bei großen Einschnitten wie beispielsweise einer Einführung von Studiengebühren nicht verlieren“. Auf Nachfrage einiger Parlamentarier des Studierendenparlaments (StuPa) erklärte AstA-Vorsitzende Solvejg Jensen, dass man die Besetzung nicht unterstützen könne, weil sie illegal sei. Das war aber juristisch gesehen nicht der Fall. Laut § 123 des Strafgesetzbuches wäre der Straftatbestand des Hausfriedensbruches erst dann eingetreten, wenn die Besetzer auch nach Aufforderung das Audimax nicht geräumt und der Rektor daraufhin Anzeige erstattet hätte.
Die ablehnende Haltung des Greifswalder AStA ist nicht selbstverständlich. In vielen Städten haben sich die ASten hinter die Besetzungen gestellt, wenn auch viele sich aus der eigentlichen Organisation herausgehalten haben, um Ansprechpartner für Gegner der Besetzung zu sein. Hier in Greifswald trat der AStA lediglich kurzfristig als Vermittler zwischen Rektorat und Aktivisten auf, wodurch das Rektorat den Aktivisten nun einen Raum in der Slawistik zugesagt hat, in dem sie mindestens ein Jahr lang an ihren Forderungen arbeiten und weitere Aktionen planen können. In diesem Raum organisierte die Gruppe, die sich inzwischen „Bildungsbündnis Greifswald” nennt, unter anderem am 17. November den Smartmob, ein politischer Flashmob, an der Europakreuzung, der unter dem Motto „Bildungsstau” stand.
Während einer Viertelstunde legten rund 400 Studierende und hier erstmals auch Schüler die Europakreuzung lahm. Die Polizei erfuhr aber im Vorfeld davon – Gerüchten zufolge hat sie sich über meinVZ in die Gruppe “Flashmob Greifswald” eingeschrieben – und wollte die als unangemeldete Demonstration eingestufte Aktion erst auflösen, gab es aber angesichts der Überzahl der Aktivisten auf. Gegen die vermeintlichen Hauptorganisatoren wurde Strafanzeige erstattet. Da es aber keine Beweise dafür gibt, dass diese wirklich die Hauptorganisatoren waren, ist damit zu rechnen, dass die Verfahren eingestellt werden. Daneben gab es noch andere Aktionen im Rahmen des zweiwöchigen Bildungsstreikes. Zum Beispiel wurde die Fassade des Institutes für Anglistik und Amerikanistik mit selbst genähten Patchwork-Tüchern verhüllt, um auf den maroden Zustand des Gebäudes hinzuweisen. Außerdem wurde von den Jusos eine symbolische „Masterhürde” vor dem StuPa errichtet, die einige der alteingesessenen StuPisten mit dem Kommentar umgingen, dass sie noch Magister- Studenten seien. Inzwischen suchen sowohl AStA als auch Bildungsbündnis die Zusammenarbeit, um ihren gemeinsamen Forderungen geeint Nachdruck zu verleihen. Gleichzeitig sucht das Bildungsbündnis den Kontakt zu den Greifswalder Schülern, auch hier gibt es so einige Missstände und den Wunsch, verstärkt mit den Studierenden zusammenzuarbeiten.
Tobende Massen, euphorische Reden und eine spektakuläre Räumung durch die Polizei, all das hat es hier in Greifswald nicht gegeben. Stattdessen gab es einen in jeder Hinsicht friedlichen und umgänglichen Protest, der vom Rektorat geduldet, von der Mehrheit der Studierenden nicht wahrgenommen und vom AStA verdammt wurde, während gleichzeitig zahlreiche Gruppierungen und Organisationen, wie zum Beispiel die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, die Piratenpartei oder der Fachschaftsrat der Physik und noch viele andere Solidarität mit den Besetzern bekundet haben. Und was hat es gebracht? In Greifswald wurde angekündigt, dass zumindest die Fassade des Institutes für Anglistik und Amerikanistik renoviert und eine Arbeitsgruppe zur Reform der Bachelor-Studiengänge gegründet werden soll. Weiter hat das Rektorat verlauten lassen, dass es größtenteils hinter den Forderungen steht, aber bei vielen Sachen nichts machen kann, da sei das Land gefragt. Das Land wiederum verweist auf die universitäre Verwaltung, Bundesbildungsministerin Schavan auf beide. Deutschlandweit gesehen haben die Proteste sicherlich dafür gesorgt, dass die Bildungspolitik wieder auf der Tagesordnung steht. Was daraus wird, ist abzuwarten. Derweil begnügt man sich damit, sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben, anstatt der rhetorisch schon längst eröffneten Bildungsoffensive nun auch Taten folgen zu lassen. Mit den weltweiten Protesten hat eine totgesagte Generation gezeigt, dass mit ihr politisch durchaus zu rechnen ist. Dass Greifswald das ein wenig gelassener sieht, ist wohl schon immer so gewesen.
Ein Artikel von Patrice Wangen
Kommentar von Alexander Müller
Verkehrte Welt beim Bildungsstreik in Greifswald. Eine Handvoll Studierende mühte sich hier ab, 50 Abenteurer für eine Hörsaalbesetzung zusammenzutrommeln, einfach um einmal zu schauen, ob so etwas hier möglich ist. Erst anschließend wurden in langer Nachtarbeit ein paar Probleme herbeigeredet, um sich selbst zu legitimieren. Viel zu unausgegoren und verschult sei der Bachelor, ein Master durch seine Zulassungsbeschränkung für viele kaum zugänglich. Doch die geringe Beteiligung an der Besetzung, zum Schluss waren es noch drei von 12000 Studierenden, zeigt, dass der Großteil der Studierendenschaft nicht jammern, sondern Leistung bringen will. Wir sind eine pragmatische Generation, das stellte die ZEIT in ihrer Campusausgabe vor einigen Monaten fest. Wir kennen unsere Ziele und so steinig der Weg dorthin auch sein mag, wir sind bereit ihn zu gehen. Hier in Greifswald halten sich die Steine jedoch in Grenzen. Wir haben keine Studiengebühren, eine entspannte Situation in der Lehre und völlig unterbelegte Masterstudiengänge. So bleibt der Greifswalder Bildungsstreik nichts weiter als eine symbolische Solidarisierung mit Universitätsstandorten mit schwierigeren Bedingungen. Geschichte wird woanders geschrieben.
Kommentar von Daniel Focke
9. November, die Republik feiert 20 Jahre Mauerfall. Zehn Jahre Bildungsmisere dachten sich einige Studierenden im Audimax. Streiken wie in Wien oder anderswo. Greifswald sollte sich beteiligen. Solidarität mit Studierenden deutschlandweit, die schon mit Studiengebühren kämpfen, die stärkere Kürzungen ertragen und den mangelhaften Bologna-Prozess beklagen. Solidarität mit Studierenden, welche Aufmerksamkeit für eine bessere Hochschulbildung fordern und dafür mit Strafanzeigen und Exmatrikulationsdrohungen „belohnt“ werden. Aber: In Universitäten gibt es (noch) keine Fließbänder, Montagehallen und Werkstätten, welche bei einem Streik still stehen. Keine Produktion wird angehalten – kein Politiker kommt, um zu besänftigen. Eine Hochschulbesetzung ist immer nur symbolisch. Und dieser symbolische Akt ist auch in Greifswald gelungen. Es geht auch darum zu respektieren, dass es in der Welt, in Deutschland und auch hier in Greifswald Menschen gibt die Nein sagen. Nein, zu einer offiziellen Hochschulbildung, welche hinter dem zurückbleibt, was ein selbstbestimmtes Studium ausmacht. Nein sagen, für andere, welche die Probleme nicht kommen sehen – oder sehen wollen. Aber auch hier: Überfüllte Hörsäle, baufällige Räume, unrealistische Studienordnungen. Probleme auch für Dozenten, Profs und Mitarbeiter der Uni. Es wurde wieder ein stärkeres Bewusstsein geschaffen und nun engagieren sich auch mehr Personen, vernetzen sich und erarbeiten Lösungsmöglichkeiten. Ein kleiner Erfolg für eine kleine Universität.