Der Suchtforscher Dr. Chistian Meyer vom Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin in Greifswald über die Trinkexzesse von Studenten und den sozialen Druck, nicht damit aufzuhören.
moritz Herr Dr. Meyer, ich habe neun Wochen versucht, ohne einen Tropfen Alkohol auszukommen. Was glauben Sie, wie ist es ausgegangen?
Meyer Ich traue Ihnen durchaus zu, es geschafft zu haben. Aber ich glaube, Sie werden dabei deutlichen sozialen Druck gespürt haben, wieder mit dem Trinken anzufangen.
moritz Nach fünf Wochen habe ich aufgegeben. Verwundert Sie das?
Meyer Das ist eine ganz individuelle Sache, wie jemand auf eine solche Drucksituation reagiert. Einflussfaktoren sind beispielsweise das soziale Umfeld, das Geschlecht oder der Bildungsgrad. Dabei ist gerade das Wissen um die Gefährlichkeit von Alkohol bei den meisten Menschen sehr gering. Ganz im Gegensatz zum Tabak, bei dem jeder weiß, dass er einem schadet, lässt die Alkoholindustrie die Leute glauben, dass ein gewisses Maß an Alkohol der Gesundheit sogar zuträglich ist. Eltern leben ihren Kindern den Konsum von Alkohol als etwas völlig alltägliches vor. So ist in Deutschland eine so genannte „Wet-Drinking-Culture“ entstanden.
moritz Aus dem Jahrbuch Sucht 2009, an dem Sie mitgearbeitet haben, geht hervor, dass der Alkoholverbrauch Deutschlands einer der höchsten in der Europäischen Union ist.
Meyer Deutschland ist sogar einer der größten Alkohol-pro-Kopf Verbraucher weltweit. Der Durchschnittsdeutsche trinkt zehn Liter reinen Alkohol pro Jahr, Greise und Babys mit eingerechnet. Ein Positivbeispiel dagegen wäre Schweden, mit nur knapp sechs Litern Jahresverbrauch. Dort sind die kulturellen Faktoren ganz andere. Die Grenze, was als normal angesehen wird, ist dort wesentlich niedriger als bei uns.
moritz Was hat dieser hohe Alkoholkonsum für gesellschaftliche Folgen?
Meyer Er ist extrem teuer für die Gesellschaft. Jährlich entstehen 20 Milliarden Euro alkoholbedingte Kosten. Das sind nicht nur Behandlungskosten, sondern auch Produktivitätsverluste, die durch Alkoholkonsum entstehen.
moritz Studenten kommen statistisch gesehen aus Haushalten mit einem höheren Bildungsniveau. Trinken Studenten deswegen weniger?
Meyer Bildung ist ganz allgemein betrachtet ein Schutzfaktor gegen alkoholbezogene Probleme. Nichtsdestotrotz findet man gerade in dieser speziellen Altersgruppe häufig auftretendes Rauschtrinken, was ein massives Problem darstellt. Egal, wie gebildet man ist, niemand kann sich sicher fühlen, kein Alkoholproblem zu bekommen.
moritz Obwohl der Alkoholkonsum insgesamt leicht rückläufig ist, nimmt er unter jungen Menschen massiv zu. Woran liegt das?
Meyer Diese massiven Schwankungen stellen oft kurzfristige Trends dar, die zeigen, was gerade angesagt ist. Was ich aber nicht glaube ist, dass daraus eine grundsätzliche Entwicklung abzuleiten ist. Jedoch haben wir diese Zahlen nun mal und ihnen muss entgegen gewirkt werden. Gerade das Rauschtrinken, also der episodisch erhöhte Konsum, ist bei Studenten sehr häufig. Es gibt eine Studie aus Marburg, bei der über 1000 Studenten zu ihrem Alkoholkonsum befragt wurden. Man hat herausgefunden, dass 62 Prozent der Befragten die Schwelle zum Rauschtrinken in den letzten 30 Tagen überschritten haben.
moritz Wo genau liegt diese Schwelle?
Meyer Da streiten sich die Fachleute drüber. In der besagten Studie werden fünf alkoholische Getränke für Männer und vier für Frauen als Maßstab für Rauschtrinken angelegt.
moritz Hat solches Rauschtrinken Auswirkungen auf die Erfolgsaussichten eines Studiums?
Meyer Es gibt dort meines Wissens keine konkreten Zahlen, aber man würde schon dann von Missbrauch sprechen, wenn jemand nach einer durchzechten Nacht seine Vorlesung am nächsten Morgen verpasst. Tritt das häufiger auf hat man schon ein klares Störungsbild. Von diesem Punkt an ist es kein allzu weiter Weg mehr, dass man schwerwiegendere Probleme entwickelt. Dass Beziehungen in die Brüche gehen oder sich körperliche Abhängigkeiten einstellen.
moritz Ab wann kann man von Sucht sprechen? Wenn man häufig ein paar Bier mit seinen Freunden trinkt oder wenn man sich jedes Wochenende abschießt? Gibt es da eine Definition?
Meyer Der Suchtbegriff ist in der Tat schwammig. In der Suchtforschung haben wir drei Kategorien. Die erste Kategorie ist der riskante Alkoholkonsum. In diesem Stadium liegt zwar noch keine Störung vor, aber es existiert ein erhöhtes Risiko durch den Alkoholkonsum gesundheitliche Folgeschäden zu erleiden. Die zweite Kategorie ist der Alkoholmissbrauch. Auf dieser Stufe ist man zwar noch immer nicht abhängig, jedoch durch den Alkohol stark beeinträchtigt in den verschiedensten Lebensbereichen. Die dritte und schwerwiegendste Kategorie, die Alkoholabhängigkeit, ist unabhängig vom eigentlichen Konsum definiert. Sie wird erfasst durch ein Set aus sieben Kriterien. Diese bestehen zum einen aus körperlichen Symptomen, wie das berühmte Zittern beim Alkoholentzug. Zum anderen besteht es aber auch aus Kriterien im psychischen und sozialen Bereich. Zum Beispiel, wenn jemand enorm viel Zeit dafür aufwendet, sich Alkohol zu beschaffen oder um sich von seinem Rausch wieder zu erholen. Wenn drei dieser Kriterien innerhalb von 12 Monaten erfüllt sind, sprechen wir Wissenschaftler von einer Alkoholabhängigkeit.
moritz Nehmen Studenten die Gefahren von überhöhtem Alkoholkonsum überhaupt wahr? StudiVZ-Gruppen wie „Wenn du zum zweiten Mal kotzen gehst, geh ich zum ersten Mal pissen“ lassen auf das genaue Gegenteil schließen, nämlich dass Saufen schick ist.
Meyer Die Einordnung des eigenen Konsums im Vergleich zu anderen ist ein wichtiger Faktor. Gerade im Studentenmilieu und besonders unter männlichen Studenten ist es üblich, mit seinem Alkoholkonsum zu prahlen. Alle tun so, als wenn sie wahnsinnig viel Alkohol vertragen und das animiert wiederum andere, auch soviel zu trinken. Den Leuten muss aber klar werden, wie extrem ihr Verhalten ist, jeden Abend besoffen zu sein. Denn diese Einsicht führt dazu, dass man seinen Konsum beschränkt oder sich zumindest mit ihm auseinandersetzt. Daher müssen all jene, die vernünftig mit Alkohol umgehen, dies ihrem Umfeld auch offen zeigen und dürfen sich nicht verstecken.
moritz In Ihrem Bericht steht, dass junge Menschen durch Preise und Verfügbarkeit in ihrem Alkoholkonsum beeinflusst werden. In Greifswald gibt es eine sehr ausgeprägte Club- und Kneipenszene. Wird man hier zum Saufen angestiftet?
Meyer Absolut. Das ist ja generell in Deutschland so und das ist auch einer der Hauptgründe, warum bei uns der Alkoholkonsum im Vergleich zu anderen Ländern so hoch ist. Möglichkeiten dem entgegenzuwirken wären beispielsweise ein Verbot des Alkoholverkaufs an Tankstellen oder eine gesetzliche Sperrstunde, aber von solch konsequenten staatlichen Maßnahmen sind wir in Deutschland weit entfernt. Dazu sind die Interessen der Industrie einfach zu massiv.
moritz Gibt es einen Zusammenhang zwischen erhöhtem Alkoholkonsum und großem Leistungsdruck, beispielsweise im Studium?
Meyer Das ist sicherlich nur eine Teilfacette. Es kann bei einigen Menschen ein Mechanismus sein, erhöhtem Leistungsdruck mit Alkohol zu bekämpfen. Eine Lösung, die erwiesenermaßen schlecht funktioniert, denn unsere Leistungsfähigkeit sinkt beim Trinken bekanntlich. Wenn man dann versucht Schlafstörungen mit Alkohol entgegenzuwirken, dann sind das die ersten Prozesse, die in einer alkoholbezogenen Störung münden.
moritz In den Medien wird viel berichtet über das Phänomen der Abifahrten und des damit verbundenen organisierten Abschießens. Sind diese Fahrten nur das letzte Auskosten der jugendlichen Freiheit, um dann dem Ernst des Lebens entgegen zu treten? Oder ist die Lage viel ernster und dort wird eine Generation von Alkoholikern herangezüchtet?
Meyer Ich will das nicht verharmlosen, aber es gibt in manchen Kulturen Hinweise, dass wenn Alkoholkonsum rituell eingebunden ist, es mit weniger Risiko verbunden ist, als das allabendliche Sixpack vor dem Fernseher. Nichtsdestotrotz ist die Wahrscheinlichkeit nach einem solchen Exzess am Alkohol hängen zu bleiben deutlich größer. Und es schürt wieder diese Akzeptanz, die wir haben. Solche Ereignisse verschieben die Norm und machen derartige Besäufnisse sozial zulässig. Das sollte nicht sein.
moritz Präventivprogramme als auch wissenschaftliche Untersuchungen sind meistens auf die Gruppe der bis 18-Jährigen gemünzt. Ist man mit seinem 18. Geburtstag automatisch in der Lage, verantwortungsvoll mit Alkohol umzugehen?
Meyer Ich finde es gut, dass Ihnen das aufgefallen ist. Mich regt dieser Niedlichkeitseffekt schon sehr lange auf. Es ist unstrittig, dass man Kinder vor Alkohol schützen muss, aber dann ab dem 18. Lebensjahr einen Schnitt zu machen und die Leute ihrem Schicksal zu überlassen finde ich absurd. Wir haben alle eine Verantwortung für die Gestaltung unserer Gesellschaft. Dazu gehören auch die Konsumbedingungen für Alkohol und die hören mit dem 19. Lebensjahr nicht auf zu existieren. Wir müssen auch bedenken, dass wir die Früchte unserer Präventionsarbeit bei Kindern vielleicht erst in dreißig Jahren werden ernten können. Wenn wir aber stärker im Erwachsenenbereich arbeiten, können wir in viel kürzerer Zeit einen Effekt sehen. Aber für Politiker ist das eben nicht so schick, die stürzen sich lieber auf die Kinder und Jugendlichen. Dabei sind dort die Effekte der Maßnahmen sehr viel fraglicher, als bei Erwachsenen.
moritz Wie lange würden Sie denn ohne einen Tropfen Alkohol auskommen?
Meyer Ich denke ich könnte absolut abstinent leben, das gehört ja zum Suchtforscherimage dazu. Wobei ich es im Moment nicht tue, das muss ich auch zugeben.
moritz Ist denn kein Alkohol eine Lösung?
Meyer Ich glaube nicht, dass es realistisch ist, so etwas in der Bevölkerung umzusetzen. Aber ich denke, dass wir nicht weniger Spaß hätten, wenn es keinen Alkohol in unserer Gesellschaft geben würde.
moritz Herr Dr. Meyer, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Alexander Müller.