Und schon wieder irgendwo im Nirgendwo stecken geblieben. Dabei hat Marie doch dieses Mal extra nicht die Bahn genommen. Nach knapp einer halben Stunde Busfahrt im Halbschlaf muss Marie erstmal wieder zu sich kommen. Noch circa 3 Stunden übrig. Marie seufzt: „Wenn das so weiter geht, komm ich dieses Jahr nicht mehr in Berlin an.“ Und so sitzt Marie da, in einem Reisebus voller Fremder, in der stockdunklen Wildnis Ostvorpommerns mit nichts, außer ihrem Rucksack und ihren Gedanken. Bei dem Gedanken läuft Marie ein kalter Schauer über den Rücken. Minuten vergehen. Nach und nach verlassen einzeln Menschen den Bus, um sich etwas die Beine zu vertreten. „Bei der Kälte bringen mich keine 10 Pferde nach draußen“, geht es Marie inzwischen leicht genervt durch den Kopf. „Daran kann auch dieses komische Blonde Mädchen nichts ändern“. Den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, schweift Maries Blick nach rechts, wo das blonde Mädchen gesessen hat, doch sie war nirgends zu sehen. „Sie wird wohl auch einfach kurz nach Draußen sein“ denkt sich Marie, auch wenn der Gedanke sie nicht ganz zufriedenstellt.
Marie bemerkt ein Lichtschein, der durch die Heckscheibe in den Bus leuchtet – als würde ein Auto ganz dicht hinter ihnen stehen. „Vielleicht ja der Pannendienst. Dann kann es hoffentlich bald weitergehen“. Aus dem einen Lichtkegel werden dann aber auf einmal zwei, drei, fünf oder sechs verschiedene Lichter, die alle durch die Heckscheibe in den Bus scheinen und sich wild hin und her bewegen. Jetzt muss Marie doch einen Blick riskieren. Sie richten sich langsam auf, stranguliert sich dabei fast selbst mit ihren Kopfhörerkabeln und kniet sich auf ihren Sitz, um durch die Heckscheibe zu blicken. Hinter dem Bus befindet sich gut ein dutzend Menschen, die sich alle um die geöffnete Klappe am hinteren Ende des Busses versammelt haben. Einige richten ihre Handytaschenlampen in Richtung der Klappe. Mitten in der Traube erkennt Marie Stefan. Immer noch nur in der typischen Busfahreruniform – ein hellblaues Hemd mit einem dunkelgrauen Strickpullover obendrüber – gekleidet und mit beiden Händen tief in der Klappe. Sein irritierter Blick lässt vermuten, dass es demnächst wohl doch nicht weitergeht.
Marie lässt sich wieder auf ihren Sitz fallen. Nach Musik hören und durch das Fenster die Zeit totstarren ist ihr jetzt auch nicht mehr zumute.
Wieder fällt ihr der Pfefferminztee mit Schuss in ihrem Rucksack ein. „Was hat dich da eigentlich geritten, ausgerechnet Pfefferminztee mit Alkohol zu mischen?“, vergräbt Marie ihr Gesicht in den Händen. Aber desto länger sie drüber nachdenkt, desto kleiner wird ihre Hemmschwelle gegenüber dem Gedanken vielleicht doch wenigstens einen Schluck zu probieren. Kurzerhand zückt Marie die Thermoskanne aus dem Rucksack und schneller als ihr Schatten war das Teemischgetränk eingeschenkt. Mit Blick in die dunkle, nach Menthol duftende Flüssigkeit kommt ihr der Gedanke zuhause anzurufen. „Kein Empfang“, fällt ihr wieder ein.
„Was mach ich jetzt?“ ertönt eine aufgelöste Stimme etwas weiter vorne aus dem Bus. „WAS MACH ICH JEEEETZT?“ schallt es nochmal durch den Bus. Marie streckt ihren Hals und lässt ihren Blick über die Kopfstützen hinweg durch den Reisebus schweifen. Doch jetzt ist alles wieder still. Nur noch ein schnelles Ein- und Ausatmen ist zu vernehmen. Niemand rührt sich. Eigentlich hasst Marie es, wenn Leute in der Bahn oder im Bus herumschreien – das hat sie in Berlin schon oft genug. Doch ihre Neugier überwiegt.
Marie nimmt all ihren Mut zusammen, steht langsam auf und setzt zögerlich einen Fuß vor den anderen, immer weiter in Richtung des leisen Winselns. Ihr Herz schlägt immer schneller und lauter.
Beitragsbild: Laura Schirrmeister