Nach Normalität fühlt es sich (noch) nicht wirklich an: Wie eine zusätzliche Karte zeigen die maskierten Menschen am Eingang ihr negatives Testergebnis oder ihre Impfbescheinigung vor. Trotzdem ist es möglich: Gesang in einem geschlossenen Raum. Genauer: Ein Gastspiel in Form einer Oper im Theater Vorpommern zeigt „Der Apotheker“ („lo Speziale“) von Joseph Haydn.
Eine Rezension von Veronika Isolde Wehner und Anne Frieda Müller
In einer kurzen Einführung in die Handlung und Inszenierung des Stücks wird erklärt, dass dieses im 18. Jahrhundert auf Schloss Esterhàzy uraufgeführt wurde. Doch ist es unvollständig überliefert: der dritte Akt musste teilweise von Thomas Leininger rekonstruiert und durch Arien aus Haydns „Il mondo della Luna“ ergänzt werden. Auch durch Hürden wie diese dauerte die Vorbereitung der Inszenierung unter der Regie von Nils Niemann und der musikalischen Leitung von Wolfgang Katschner drei Jahre.
Kostüme und Bühnenbild, die teilweise im Theater Vorpommern entstanden, orientieren sich stark am 18. Jahrhundert, wirken solide, wenn auch ein bisschen experimentierscheu. Die Übersetzung für die italienischen Arien liegt dem Publikum ausgedruckt auf dem Schoß.
Wenn drei sich streiten…
Das wohlhabende Mündel Grilletta ist heiß umschwärmt. Da ist zum einen ihr Vormund, der Apotheker Sempronio, der sich wenig ums Alltagsgeschäft kümmert und sich stattdessen den boulevardesken Zeitungen hingibt, die nicht nur Falschmeldungen, sondern auch rassistische Stereotypen verbreiten, die auch in die Inszenierung ihren Eingang finden. Er, gespielt von Cornelius Uhle mit der eindrucksvollsten Gesangsleistung, erhofft sich eine finanzielle Verbesserung durch eine Ehe mit ihr.
Publikumsliebling Countertenor Georg Bochow lässt den zweiten Heiratsanwärter Volpino mit viel Slapstick und Komik durch das Bühnenbild hopsen. Der kann zwar Grilletta nicht beeindrucken, überlegt sich aber mehrere Betrugsmaschen, die ihm wenigstens die Erlaubnis ihres Vormunds einbringen sollen.
Überhaupt sind die männlichen Figuren eine Studie von toxischer Maskulinität und Narzissmus. Sempronio, der alte weiße Mann, dem es völlig egal ist, was seine Aktionen auslösen, solange es seinen Status nicht erschüttert, konkurriert gegen Volpino, einen trumpesken Narzisten, dem jedes Mittel recht ist, sich Reichtum und Prestige zu erschleichen. Der Dritte in dieser Konstellation ist Mengone, ein Nice Guy, wie er im Buche steht. Gespielt wird er von Christian Pohlers und ist stimmlich wie auch figürlich die schwächste Figur auf der Bühne. Er hat von Pharmazie keine Ahnung, stellt aber die Medikamente für den Apotheker Sempronie zusammen. Auch er schmachtet Grilletta hinterher. Es ist tatsächlich erfrischend, dass man ihn in keinem Moment als Helden der Geschichte wahrnimmt, sondern als passiven Jammerlappen, der ebenso gut in Onlinekommentaren darüber weinen könnte, dass sich Frauen nicht für ihn interessieren.
Grilletta, das Ziel aller Begierde, wurde immerhin mit Agency und Fehlern ausgestattet, die gegen ihre eigenen Interessen Spiele spielt. Alessia Schumacher spielt solide und glaubwürdig, wenn auch ohne die stimmliche Brillanz von Cornelius Uhle. Im Hintergrund der Handlung bahnt sich eine Seuche an, die das Leben in Europa bedroht. Das ergibt sich aus den immer wieder vorgelesenen Falschmeldungen aus den Zeitungen, die der alte Sempronio aktiver verfolgt als das Geschäft seiner Apotheke.
Das Ende des Plots kommt reichlich überraschend und unlogisch daher. Es ist deswegen erstaunlich, dass sich die Darstellung, die eigentlich durchweg kurzweilig ist, beginnt zu ziehen. Auch in einer Komödie, oder im Opernsprech Opera buffa, verdienen es die Figuren, einen Abschluss zu finden, der in sich geschlossen ist.
Sexismus, Rassismus und Fake News
Aus Haydns sexistischer Darstellung kann den Kompanien, die sich an diesem Stück beteiligen, kein Vorwurf gemacht werden. Das Ganze ist eindeutig eine Satire auf patriarchale Strukturen und Genderrollen und wird insgesamt auch so dargestellt. Außerdem besticht die Inszenierung durch die großartige Verhunzung von Boulevard-Schlagzeilen, die klar Falschnachrichten verbreiten – passender denn je. Trotzdem führt vor allem die Darstellung der „Türken“, auch wenn es die Vorurteile der Protagonist*innen gegenüber den osmanischen Gesandten darstellen soll, zu starker Fremdscham – ganz ohne komödiantischen Aspekt. Wer noch nie von Orientalismus gehört hat, bekommt ihn im „Apotheker“ vor Augen geführt. Hier wäre, wenn es schon dieses Stück sein soll, die Wahl, eine klassische Inszenierung zu machen, bedenkenswert gewesen. Bei weniger Vorurteilen, wenn auch überspitzt dargestellt, blieben eher die großartigen Leistungen Uhles und Bochows im Gedächntnis und nicht die riesigen „Türkenschnauzerbärte“.
Das Gastspiel wird noch zwei Mal extra für das 200-jährige Jubiläum des Theater Putbus im Theater Vorpommern auf Rügen aufgeführt: am 09. und 10. Juni. Beide Vorstellungen sind jedoch schon ausverkauft.
Beitragsbild: Maik Schuck
Ein historisches Stück ist ein Ausdruck seiner Zeit. Auch eine „klassische“ Inszenierung (im Sinne des klassischen Regietheaters des 20. Jahrhunderts) würde diese Distanz nicht überwinden können.
Es ist wichtig, zu bedenken, dass es kein historisches Stück gibt, dass uns als junge ,moderne Generation nicht durch seine unabwendbare „Andersartigkeit“ be-fremdet, fremd ist. Auch spätere Generationen werden vieles, was wir heute (noch) witzig finden, kritisch sehen. Eine Identifikation mit einem klassischen Werk ist nie vollständig möglich, egal, ob es sich um J. S. Bachs Passionen, , Händels Israelbild, Mozarts people of colour oder um Haydns Türkenoper handelt.
Es gibt also Ambivalenzen: Gerade frühe feministische Stücke des 18. Jahrhunderts „bedienten“ sich der heute rassistischen Türkenmetapher,(des damals noch als möchtig empfundenen osmanischen Reichs) um patriarchalische Strukturen in Europa zu kritisieren (bzw. im Klischee sichtbar zu machen). Das betrifft z.B. das Blondchen aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“ oder die beliebten „Soliman II. – Roxana-Opern“, aber auch Voltaires Mahomet-Drama etc.
Natürlich kann man in eine klassischen Inszeniereung die Türkenschnauzbärte nach oben zwirbeln und statt mit Turbanen mit wilhelminischen Pickelhauben kombinieren, um dem Kulturchauvinismus des 18. Jahrhunderts ein europakritisches Moment entgegenzusetzen. Oder szenisch einen Link auf Erdogan setzen (ist das nicht auch eurozentrisch?) . Ich finde, sowas wäre aber nur ein unzulänglicher Versuch der „Reinwaschung“ Haydns. von den spezifischen Problematiken seiner Zeit.
ich finde, es ist o.K., wenn man nicht über alles in einer historischen Komödie lachen kann oder wenn einem mit einem modernen Bewusstsein das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt. Wichtig ist, dass es klar wird, dass man sich als Interpret der Historizität des Gespielten bewusst ist und abwägt, inwieweit sein Públikum reif ist, mit Ambivalenzen umzugehen. Das wurde hier durch den Verzicht auch ein beschönigendes modernisierendes Element und einige – nicht belehrende, aber sensibilisierende Worte in der Einführung – bedacht und eingelöst.