Wut, Hass, Zorn: All diese Gefühle verbindet man so manches Mal mit seinen Mitmenschen. Genau für solche Momente ist diese Kolumne da. Wann immer wir uns mal gepflegt über Leute auslassen oder uns auch generell mal der Schuh drückt, lest ihr das hier.
20:25 Uhr: “Joooo Moin Diggi! Wie geht’s dir so? Voll lange nichts mehr voneinander gehört und so! Hahaha…. Naja, ich weiß ja nicht, was bei dir gerade so geht und so, aber ich dachte ich melde mich mal wieder. Also ich bin jetzt jedenfalls in Berlin und mache hier meinen Master in Brauwesen und Getränketechnologie. Voll krass Alter, neulich hab ich hier zufällig deine Ex getroffen, also Larissa oder wie die noch hieß, die studiert jetzt auch hier, voll strange, oder, haha? Achja, ich soll dir noch was von ihr ausrichten… war glaube ich irgendwas Wichtiges, glaube ich… Was war denn das noch gleich? …Boah ey, mein Gehirn ist in letzter Zeit so dermaßen Matsche, scheiß Corona-Lockdown-Blues…hahaha…geht dir das auch so? Mega kacke. Alteeeeeeer, was war denn das noch gleich, was ich dir sagen sollte? … Ja, bitte komplett… Ja, bitte auch scharfe Soße… Sorry Bro, bin gerade beim Dönermann… Ah, jetzt weiß ich es wieder, was ich ausrichten sollte!… Halt! Doch nicht! Nee, doch nicht komplett, keine Zwiebeln und ohne Knoblauch-Soße, hab morgen einen Zahnarzttermin… Hahaha… Boah Alter, ich hab schon seit Wochen sooo krass Zahnschmerzen! Ich glaube, ich muss mir jetzt doch endlich mal die Weisheitszähne ziehen lassen. Aber ich hab so Schiss davor, Mann! … Naja, mal gucken, was der Zahnarzt morgen sagt… Der hat übrigens voll die süße Zahnarzthelferin, das ist auch ein ganz nicer Nebeneffekt zum Stempel im Bonusheft, also bei der würde ich auch gerne mal das Bonusheft stempeln, wenn du weißt, was ich meine, hahahahaha… aber trotzdem mega nervig, dass man da so oft hingehen muss… *im Hintergrund: Döner ist fertig, das macht dann 5 €* … Also Brudi, mein Döner ist fertig, muss dann mal los, aber lass mal wieder von dir hören, Diggah!”
Kommunikation ist ein komplexes Thema, gerade in Zeiten harter, mittelharter und der Lockdowns mit weichem Eigelb oder wie auch immer man den aktuellen deutschen Kurs bezeichnen möchte. Zwischenmenschliche Nähe herzustellen ist schwierig, wenn räumliche Nähe keine Option ist. Glücklicherweise bieten unsere Smartphones heute eine riesige Bandbreite an Möglichkeiten, um dennoch miteinander in Kontakt zu bleiben: Textnachrichten, Emojis, GIFs, klassische Anrufe, Videotelefonate,… und eben auch Sprachnachrichten. Doch so schön es auch sein mag, die Stimme einer anderen Person zu hören, so sehr stehen Sprachnachrichten symptomatisch für viele Dinge, die in unserer Welt aktuell nicht gut laufen. Daher hier das Manifest der kommunikativistischen Partei in 5 Punkten. Egal wie schlecht das Manifest ist, Karl Marx!
Punkt 1: Chaos, Chaos und nochmal Chaos
Für die Übermittlung komplexer Informationen sind Sprachnachrichten vollkommen ungeeignet. Unsere Gedankengänge sind im Normalfall nicht geradlinig genug, um weiterführende Zusammenhänge spontan und strukturiert auszudrücken. Das gilt besonders für einseitige Gespräche ohne direkte zwischenmenschliche Interaktion und vor allem ohne Möglichkeit für direkte Rückfragen. So kommt es, obwohl Sprachnachrichten grundsätzlich die Vermittlung von Emotionen besser ermöglichen könnten als Textnachrichten, oft dazu, dass leicht vermeidbare Missverständnisse entstehen. Wenn dann auch noch mehrere Gesprächsthemen innerhalb einer Sprachnachricht kommuniziert werden sollen, ist das Chaos absolut vorprogrammiert. Nachrichten ab 30 Sekunden Länge sind bereits vollkommen unbrauchbar und Nachrichten ab 5 Minuten Länge sollten meiner Meinung nach direkt an die Staatsanwaltschaft gehen – Anzeige ist raus. Und was viele vermutlich gar nicht wussten: Die deutsche Corona-Impfstrategie wurde komplett mittels Sprachnachrichten erarbeitet. Wirklich wahr!
Sorry, es dir sagen zu müssen, aber etwa genau so viel Sinn ergeben auch deine Sprachnachrichten.
Punkt 2: Das richtige Setting
Wie so oft im Leben sind auch für den Sinn und Unsinn von Sprachnachrichten die äußeren Umstände extrem entscheidend. Du hast dir beide Arme gebrochen, kannst deshalb nicht schreiben und sitzt in einem ruhigen Zimmer? Alles klar, schick mir eine Sprachnachricht (oder ruf mich an)! Du sitzt in einem ruhigen Zimmer und kannst tippen? Dann schick mir keine Sprachnachricht! Du stehst in einem vollen Bus und schickst mir eine Sprachnachricht? Freundschaft beendet.
Und die gleichen Probleme, die beim Aufnehmen von Sprachnachrichten auftreten können, gelten natürlich auch für das Anhören. Ich weiß nicht, was du mir gleich erzählen wirst, also werde ich mir deine Nachricht garantiert nicht in der Öffentlichkeit anhören. Wahrscheinlich könnte ich dich mit all den Geräuschen um mich herum eh nicht verstehen und müsste den Mist dreimal abspielen.
Punkt 3: Schnelllebigkeit
Ja, das Leben ist manchmal wirklich stressig und ja, es mag sich so anfühlen, als ob du aktuell keine Zeit für irgendetwas hättest. Und ebenfalls ja, eine Sprachnachricht zu verschicken mag dir ein paar Sekunden deiner kostbaren Lebenszeit sparen. Aber ist es tatsächlich so viel verlangt, dass du dir die Zeit für unsere Freundschaft nimmst und mir eine Nachricht schreibst, die wirklich das ausdrückt, was du mir sagen möchtest? Zum Beispiel, dass du noch deine Jacke aus dem Keller holen möchtest??
Goethe sagte (dem Volksmund nach) einmal: “Ich schreibe dir einen langen Brief, weil ich keine Zeit habe, einen kurzen zu schreiben.” Möchtest du hingegen wirklich mit den (vermutlich in einer Sprachnachricht festgehaltenen) Worten “Ich schicke dir eine Sprachnachricht, weil ich keine Zeit habe, dir kurz zu schreiben.” in Erinnerung bleiben? Wann hast du dir das letzte Mal bewusst Zeit genommen, um Freundschaften zu pflegen, die dir am Herzen liegen?
Punkt 4: Rückschritt statt Fortschritt
Wir leben im 21. Jahrhundert und entsprechend sollte sich auch unsere Kommunikation weiterentwickelt haben. Aber, so beeindruckend die Speicherung und der Transport unserer Stimme über tausende Kilometer hinweg auch sein mag, so rückständig sind die sprachliche Form sowie die Inhalte von Sprachnachrichten oft. Um es etwas überspitzt auszudrücken: Dank Sprachnachrichten und Autokorrektur entwickeln wir uns sprachlich langsam aber stetig auf ein Niveau aus der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks zurück. Einer Zeit, in der der überwiegende Teil der Menschen nicht schreiben und viele nicht einmal lesen konnten. Schaut euch einmal unter euren Komilliton*innen um. Wie viele von ihnen könnten einen längeren Text fehlerfrei nur mit Stift und Papier, vollkommen ohne weitere Hilfsmittel, verfassen? Und wie vielen von ihnen ist aufgefallen, dass sie gar nicht eure Komilliton*innen sind, sondern eure Kommiliton*innen? Oder war es doch andersherum?
Nur weil etwas grundsätzlich geht, sollte es nicht auch tatsächlich gemacht werden.
Punkt 5: Egozentrik und Schlusswort
Eigentlich ist Punkt 5 kein wirklich eigenständiger Aspekt, sondern mehr eine Zusammenschau der Punkte 1-4. Durch all die vorher genannten Unannehmlichkeiten, die den Empfänger*innen von Sprachnachrichten entstehen, ist die Kommunikationslast extrem einseitig. Das ist aber ziemlich dämlich, da die Person, die die Sprachnachricht versendet, in den meisten Fällen ein Interesse daran hat, dass die empfangende Person möglichst leicht an die zu vermittelnden Informationen gelangt. Sei es, weil noch Fragen zum Klausurstoff bestehen, eine Reise geplant wird, eine kleine Zutat zum Verfeinern des Abendbrotes mitgebracht werden soll oder auch einfach nur eine sinnvolle Antwort erwartet wird. Kommunikation auf Augenhöhe geht anders. Deshalb bin ich raus aus diesem Zirkus. Wenn die Information es nicht wert war, in geschriebene Worte verpackt zu werden, war sie wohl nicht so wichtig. Insofern höre ich mir Sprachnachrichten im Normalfall einfach gar nicht mehr an, sondern antworte einfach irgendetwas. Wer wirklich etwas von mir möchte, kann mir sehr gerne schreiben oder mich anrufen.
20:54 Uhr: “Achjaaa übrigens Diggi, keine Ahnung mehr, was ich dir noch von Larissa ausrichten sollte. Aber meld dich auf jeden Fall mal wieder bei ihr, sie wollte wie gesagt irgendwas Wichtiges mit dir besprechen und kann dich irgendwie nicht mehr erreichen… Die ist jetzt übrigens gerade Mama geworden, mega krass, Alter, das ging ja mega schnell! Habt ihr euch nicht erst vor einem halben Jahr oder so getrennt? Naja, bis bald Brudi, hab einen schönen Abend!”
Beschwerden über diesen Artikel richtet ihr bitte per Sprachnachricht an die Redaktion. Vielen Dank.
Beitragsbild von Free-Photos auf Pixabay,
Banner von Julia Schlichtkrull,
GIFs von giphy.com