Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Dann stellen die sich nadelnde Bäume ins Haus – « Ich schnelle so abrupt zu ihm herum, dass es nun er ist, der zusammenfährt. »Was ist so verkehrt daran, einen Weihnachtsbaum aufzustellen? Oder einen Schwibbogen? Warum sollte ich mir keinen Glühwein kaufen, wenn ich Lust darauf habe?« Meine laute Stimme scheint ihn ein wenig eingeschüchtert zu haben, aber ich sehe ihm an, dass er noch längst nicht fertig ist. Innerlich ärgere ich mich darüber, dass ich ihn überhaupt angespro­chen habe. »Weil du diesen ganzen Kram eigentlich nicht bräuchtest. Aber der Kapitalismus will dir trotzdem erklären, dass du es brauchst. Weil es eben Weihnachten ist.«

»Aber darum geht es doch gar nicht!« Ich schreie beinahe, werfe einen kurzen Blick um mich, und senke dann meine Stimme, als ich wieder zu dem Kerl hinüber sehe. In Gedanken nenne ich ihn Grinch. Plötzlich scheint es mir ganz einleuchtend, dass er grüne Haare hat. »Ich kenne einige, die daran glauben, dass an Weihnachten Christus geboren ist, und es deshalb feiern. Aber nicht nur für sie, sondern auch für alle anderen ist es vor allem ein Fest der Liebe. Der Tag, an dem die ganze Familie zusammenkommt, egal wie weit sie alle voneinander entfernt sind. Der Tag, an dem sie sich gegenseitig etwas schenken. Nicht wegen dem Kapitalismus, nicht wegen irgendeinem politischen Kram. Es geht darum, einander eine Freude zu machen, weil man das viel zu oft vergisst, wenn der Stress des Alltags einen erschlägt. Es geht darum, von allem, was einen so belastet, wegzukommen und in der Familie aufgehoben zu sein. Bei Leuten, bei denen man sich wohlfühlt.« Ich halte kurz inne, um Luft zu holen, und merke, wie der Grinch mich mit großen Augen ansieht. Darauf nehme ich keine Rücksicht. »Ja, die ganzen Weihnachtslieder nerven und vielleicht braucht man nicht dreißig Glühweinstände in der Stadt, sondern nur drei. Aber gehört das nicht alles irgendwie dazu? Diese grauenvollen Lieder, die man als Kind noch so gemocht hat? Der Geruch von Glühwein und Plätzchen und Lebkuchen, die Lichter in den Fenstern – als Kind hab ich die immer gezählt, von dem Tag im November an, wo die ersten Lichter zu sehen waren, und jeden Tag wurden es mehr. Das sind alles Erinnerungen. Und die sind nun einmal mit Weihnachtsliedern und Glühwein und Schwibbögen verbunden.«

Für einen kurzen Moment sieht der Grinch so aus, als wollte er noch etwas erwidern, und ich wappne mich schon mit einer weiteren Moralpredigt, dann aber wandert sein Blick zum Boden. Er seufzt traurig. Er glaubt, dass ich es nicht begreife, geht es mir durch den Kopf. Womöglich hat er recht. Rede ich mir Weihnachten zu gut? Will ich es bloß nicht wahrhaben, dass er die Wahrheit sagt, wenn er von Kapitalismus und Ausbeutung spricht?

Dann aber murmelt er ein einziges Wort und ich verstehe, was das Seufzen wirklich bedeuten sollte. »Erinnerungen…«

Ich nicke bedauernd. »Zu viele schlechte Erinnerungen an Weihnachten?«

»Wohl eher zu viele gute, die sich nie mehr wiederholen.«

Verdammt. Ich spüre Mitleid in mir aufsteigen, das mir die Kehle zuschnürt. Ich überlege, ob es angemessen wäre, das übliche Das tut mir leid auszusprechen, aber das erscheint mir selbst in mei­nem Kopf so unangebracht, als würde ich einfach aufspringen und fröhlich lachend Merry Christ­mas! rufen. Bevor mir eine bessere Antwort einfallen will, streift mein Blick den Rucksack, den er bei sich trägt, der Name einer Stadt prangt in großen Buchstaben darauf. »Kommst du da her? Wohnst du da?«

Verwundert folgt er meinem Fingerzeig, dann nickt er schwach. »Japp, da wohne ich.«

»Cool, ich auch. Also meine Eltern zumindest.« Er sieht mich fragend an, ist sich wahrscheinlich nicht sicher, was er mit dieser Aussage anfangen soll, und so ganz weiß ich es auch nicht. »Bist du allein über Weihnachten?«, frage ich dann plötzlich.

»Denke schon.«

Ich grinse ihn an. »Hör zu, am Weihnachtsabend hab ich selbst genug mit meiner Familie zu tun, aber am ersten Feiertag bin ich auf dem Alten Markt. Da geht eine Party, mit Glühwein und Wich­teln – freiwillig natürlich – und ich treffe mich da mit ein paar Freunden. Wenn du willst und Zeit hast, kannst du ja gern vorbeikommen. Wird bestimmt lustig.«

Auf seinen Lippen erscheint ein leichtes Lächeln. Ich überlege, wie viele Einladungen zu Weih­nachtsfesten er wohl in den letzten Jahren noch bekommen haben mag. Womöglich nicht viele. »Ich überlege es mir.«

Dass er mir keine direkte Absage gegeben hat, entlockt mir ein freudiges »Klasse!«, auch wenn es längst keine Zusage war. Ich denke an die fröhliche Zuggesellschaft von vorher und plötzlich fällt mir etwas ein. Ich greife in meine Tasche und krame darin eine Zeit lang herum, bis ich es endlich gefunden habe. Lächelnd strecke ich dem Grinch einen Schoko­ladenweihnachtsmannlutscher entgegen. »Schokolade?« Ehe er protestieren kann, füge ich noch hinzu: »Und zwar nicht, weil da Weihnachten drauf steht oder das Ding die Form von einem Weih­nachtsmann hat. Sondern einfach nur, weil es wissenschaftlich erwiesen ist, dass Schokolade glück­lich macht.«

Er mustert mich mit zusammengekniffenen Augen und dann, als er den Lutscher tatsächlich ent­gegennimmt, entfährt ihm sogar ein leises Lachen.

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz