Ein Kommentar. Anderthalb Wochen, seit der Master of Poetry Slam MV fest steht. Anderthalb Wochen Zeit, um Interviews zu führen und einen kritischen Blick auf die Veranstaltung zu werfen.
Poetry Slam? Kennt man. Eine Bühne, viele Menschen, ein paar Texte, Applaus, fertig. Das hat sich das Land Mecklenburg-Vorpommern (MV) auch gedacht und im letzten Jahr diesen Wettbewerb für MV eingeführt. Dazu hat sich das Land an das Literaturhaus e.V. Rostock gewandt. Ziel des Landes sei die „Stärkung des Standortes MV“, vor allem für junge Menschen, so Frau Katharina Lifson, Organisatorin des Slams vom Literaturhaus Rostock. Das Bundesland MV soll demnach attraktiver werden. Ob das gelingt, wenn der Slam in der hintersten Ecke von MV stattfindet? Die Gäste sind eh schon alle in Vorpommern versackt. Und, dass dieser Slam nationales Aufsehen und einen Zuzug von Studenten nach sich zieht, ist mehr als fraglich.
„Frau Lifson, die Teilnehmer sollten ihre Texte vorher einschicken. Das ist nicht üblich für Poetry Slams und wurde im Vorfeld in sozialen Netzwerken stark kritisiert.“
Darauf die Antwort: „Die Veranstaltung wird vom Land organisiert. Wir mussten sicherstellen, dass sich unter den Texten keine rassistischen, sexistischen oder ähnliche Ausreißer befinden.“
Die Slammer mussten am Tag des Wettbewerbs nicht ihre eingeschickten Texte verlesen. Damit fällt glücklicherweise die mögliche Zensur schwer, allerdings kann dann auch niemand garantieren, dass nicht doch rassistische Texte auftauchen. Insgesamt unausgegoren, das Vorgehen. Das hätte man sich sparen können und auch keine Diskussion in den sozialen Netzwerken ausgelöst.
Tobi Kunze kommentiert bei Facebook: „[Es ist] ein Qualitätsmerkmal für Poetry Slams, dass, wenn […] bedenkliche Textinhalte vorkommen, sich diese schnell durch ein aufmerksames Publikum samt Moderator*in disqualifizieren“
„Frau Lifson, in diesem Jahr wurden nicht nur Teilnehmer aus MV zugelassen. Ist die Veranstaltung dann noch ein Master of Slam MV?“
„Wir behalten das Ziel im Auge – die Stärkung des Standortes MV. Wenn wir damit national bekannter werden, ist das gut. Deswegen veröffentlichen wir auch die Mitschnitte der Texte im Internet.“
Der Gewinner steht fest – aber wie?
Insgesamt werden drei Preise vergeben: Einer vom Publikum, einer von einer vorher festgelegten Jury (s.u.) und der dritte nach Abstimmung bei Facebook.
1. Der Publikums-Preis
Die Abstimmung während der Veranstaltung gestaltete sich intransparent. Für vom Veranstalter geschätzte 250 Teilnehmer lagen 160 blaue Zettelchen herum, dazu Stifte mit aufgedruckter Land-MV-Werbung. Auf den Zettelchen waren die Namen der Slammer gedruckt, nach dem Vortrag der 9 Poeten machten die 160 Menschen aus dem Publikum, die Zettel und Stift ergattern konnten, ein Kreuzchen bei ihrem Liebling. 160 von ungefähr 250.
Selbst wenn, wie oft praktiziert, nur an fünf Leute aus dem Publikum Wertungstafeln ausgeteilt werden, ist die Abstimmung transparenter. Die fünfer-Jury kann sich 1. direkt am vorangegangenen Applaus orientieren und wird 2. sofort vom Publikum mit Apllaus, Pfiffen, Buh-Rufen bewertet und auch gemaßregelt.
Aus der Reihe vor mir höre ich Geflüster: „Ich hätte mehr Zettel für Vicky abgeben sollen!“ Vicky stand letzte Woche im Finale – vielleicht verdient. Offen nachvollziehbar war das aber nicht.
2. Der Facebook-Preis
Zuerst einmal – Wo sind diese Videos? Sie sollen bei Facebook unter StudierenMitMeerWert erscheinen, die Veranstaltung selbst wurde aber bei Master of Slam 2015 – Die Studieren mit Meerwert-Meisterschaft im Poetry Slam angekündigt und diskutiert. Auf der Webseite des Landes zu dem Thema erscheinen die Videos auch nicht. Ein heilloses Durcheinander, bei dem jeder schnell den Durchblick verliert. Die Rankings reichen von einem bis zu über 100 Likes. Aufmerksamtkeit erregt? Wahrscheinlich ja. Fair? Gerecht? Nicht jeder hat Facebook, Verweigerer der Datenkrake werden von der Abstimmung ausgeschlossen.Teilnehmer, die weniger Facebook-aktiv sind oder sich weniger online präsentieren, schlagen sehr weniger gut auf als andere. Warum muss sowas sein? Das Land will sich nach außen hin präsentieren und „den Standort stärken“. Dazu hätte man einfach die Videos zum Ansehen hochladen können, ohne einen Preis auf eine für Poetry Slam so unwürdige Art und Weise zu vergeben.
3. Der Jury-Preis
Irgendwann am Abend tauchte auch der Begriff des „Nachwuchspreises“ auf. Was soll denn das sein? Das habe ich mich bis zum Ende gefragt, als Björn H. Katzur diesen Preis für seine „humorvolle und darstellungsstarke Darbietung“ ausgehändigt bekam. Von wem der Preis verliehen wurde? Nicht vom anwesenden Publikum, sondern von einer dreiköpfigen Jury. Diese setzte sich aus Katja Klemt (Schauspielerin, Greifswald), Erik Münnich (Verleger, freirau-verlag Greifswald) und Michael Gratz (Herausgeber der Lyrikzeitung, Greifswald) zusammen. Wie und warum ist diese Jury so zusammengestellt worden? Warum Björn H. Katzur? Wie werden die Bewertungskriterien Humor, Philosophische Gesichtspunkte und politische Aspekte in der Jury gewichtet und diskutiert? Warum wurde das Ding den ganzen Abend als Nachwuchspreis angeprisesn? Björn Katzur fährt auf jeden Fall zu einem einwöchigen Künstlerstipendium ins Künstlerhaus Ahrenshoop.
Slam-Eklat oder künstlerische Freiheit?
Slammer Daniel Altmann erzählte unter dem Titel „Oben“ die ersten zehn Minuten des, wohlgemerkt gleichnamigen, Films nach. In letzter Sekunde, also kurz vor Ablauf seiner sechs Minuten Redezeit folgte ein Versuch der Abstraktion auf irgendeine Lebenssituation. Schwierig, beschreibt der Film doch gerade selbst eine sehr reale Lebenssituation. Ehepartner wollen in den Urlaub fahren, Frau stirbt, Mann traurig. Was gibt es da zu abstrahieren? Nach den gängigen Methoden ist diese Nacherzählerei ein Disqualifikationsgrund. Ein Text muss aus eigenem geistigen Brei geschaffen sein.
Dazu Organisatorin Frau Lifson: „Der Moderator stammt nicht aus dem Slam-Metier, offizielle Regeln gibt es leider auch nicht.“ Der Slammer, Daniel Altmann, ist sich keiner Schuld bewusst, er habe die Geschichte schließlich selbst geschrieben, auch wenn die Handlung durch den Film bekannt sei. Es existiere doch „zu jeder Geschichte ein Film und zu jedem Film eine Geschichte, die in diesem Fall ich erzählt habe. Das Fazit daraus habe ich selbst gezogen.“ Eine streitbare Position, zumal auch ein Film irgendwo eine Geschichte hat oder besser gesagt sogar selbst eine Geschichte ist. Von eigenem geistigen Brei ist hier nicht viel zu spüren.
Diese Sache mit den Regeln – eine deutschlandweit offizielle Version existiert da tatsächlich nicht. Gute Tradition ist, sich VOR dem Slam Regeln zu überlegen, diese den Poeten mitzuteilen und auch dem Publikum vor Beginn zu verlesen. Da werden schon Texte eingesendet, um alles in strikten Regeln zu halten und dann weiß keiner über den Ablauf bescheid? Und Gedanken hat sich auch niemand gemacht. Das Literaturhaus Rostock hat, wie auch Frau Liefson vom Literaturhaus sagt, keine große Erfahrung mit Slams, der Moderator schon gar nicht. Er gehört zum Kabarett-Duo Fiete und Schiete.
Was bleibt?
„Poetry Slam […] beschreibt eine Veranstaltungsform, bei der von einer oder mehreren Personen in einer bestimmten Zeit ohne Hilfsmittel literarische, selbstgeschriebene Texte vorgetragen werden. Dabei ist es den präsentierenden Slammern offen gestellt, welche literarischen Formen […] eingesetzt werden.“ (Zugriff am 16.11.15 um 12:00Uhr)
Irgendwelche Fakten über Slams hat das Land MV wohl aufgeschnappt und daraufhin einen Slam veranstaltet. Warum keine einzige Person mit Erfahrung im Bereich Poetry Slam gefragt wurde? Wer weiß das schon. Ob die Veranstaltung den Titel Poetry Slam tragen darf?
Einsendung der Texte, mögliche Zensur, Ablehnung mancher Bewerber ohne jede Transparenz. Nacherzählerei. Obwohl die Regel des geistigen Eigentums sogar auf der Webseite steht, will am Abend des Slams weder die Organisatorin Katarina Lifson noch der Moderator von Fiete und Schiete davon gewusst haben. Dem Publikum wird eine offen gestaltete Bewertung der Slammer durch blaue Zettelchen, eine ominöse Video-Like-Auswahl bei Facebook und eine „Experten“-Jury unmöglich gemacht. Dabei soll das Publikum immer die volle Kontrolle über das Geschehen haben. Das ging definitiv schief.
„Schließlich gilt es das Publikum zu überzeugen, das am Ende der meisten Veranstaltungen die Juryfunktion übernimmt und die beste Performance bewertet.“ (Zugriff am 16.11.15 um 12:00Uhr)
Dienstag, der 10.November 2015 war ein Abend. Mit Texten. Vom Land MV gedacht als „Projekt zur Standortstärkung MV“ (was immer das genau heißen mag). Dienstag vor einer Woche war der Saal im Unihauptgebäude voll. Dienstag war eben ein Dienstag. Aber weder der Dienstag, noch der Abend mit seinen Sternen am Himmel, noch der Saal der Uni und auf keine Fall das Projekt Master of Poetry Slam verdienen nach diesem Abend die Bezeichnung „Poetry Slam“.
Foto: Cerrin Kresse