GUStAV, wer ist eigentlich dieser GUStAV? Der Greifswalder Universitäts-Studentischer AutorenVerein (GUStAV) ist ein Haufen schreibwütiger und literaturbegeisterter Studenten, auch bekannt als Gustels. Sie sinnieren darüber, was Literatur sei und was nicht, besprechen vor allem die eigenen Texte und stiften einander immer wieder zum Schreiben an. Die Ergebnisse werden auf Lesungen präsentiert und können nun monatlich auf dem webMoritz gelesen werden.
Das letzte Lied eines Löwen
Am Ende der Welt, weit hinter dem Meer, darbte die Sonne und schimmerte nur noch schwach auf die rauschenden Wellen. Noch immer hüllten trübe, dunkle Wolken den Himmel ein, wie an jedem Tag und in jeder Nacht. Stark blies der Wind das salzige Nass gegen die felsige Küste, die Brandung toste zwischen den Steinen und schliff ihre Kanten glatt und rund. Hinter dem Strand, wo schwach das Gras wuchs und bebend landeinwärts zeigte, standen die niedrigen Hütten der Pishengoda. Seit vielen Generationen war diese felsige Bucht ihre Heimat; die Kinder spielten lachend und die Erwachsenen fingen genug Fische, zogen genug Getreide. Wie an so vielen Abenden sammelte sich die Gemeinde um das große Feuer, genoss die letzten Stunden des Tages im Kreise der Geliebten und sie lauschten den Geschichten des Alten oder erfreuten sich mit Gesang und Tanz am Leben.
Mit ruhiger Stimme setzte der Alte seine längst bekannte Geschichte des vergangenen Abends fort: „In Zeiten des Zorns zweifelt und zetert die Welt. Weder Wunsch noch Wunder, weder Wissen noch Talent helfen. Hier braucht’s Helden, die mit Hand und Hilfe das Gute küren. Keiner ahnt die Crux und keiner singt das Lied des Löwen, lange noch bis der Krieg endet. Aber das Ende ist weit entfernt, die Apokalypse wird die Erde schlagen. In den Schlachten geschieht Schreckliches und Schuld lädt sich auf unser Gewissen. Gefahr und Gebeine brennen, allein Gelehrte befreien unsere Vernunft. Vielleicht holt uns Vater Tod, falls Freiheit in den Sternen widerhallt.“
Der Alte erzählte seinen geduldig lauschenden Zuhörern nicht einfach das Ende irgendeiner Geschichte, es war das Ende der Welt – und das Ende von Aric dem Emcee. Jedes Kind kannte diesen Namen und sein Schicksal. Selbst wenn sie gerade erst laufen lernten, spielten sie bereits ‚Aric auf der Bühne‘ oder ‚Aric in den himmlischen Prüfungen‘ oder, dieses war ihre liebste Episode, ‚Aric gegen den Teufel‘. Der Weltuntergang, Teil so vieler toter Religionen und ihren eigenen Namen nach Endzeit, Harmageddon, Jüngstes Gericht, Ragnarök, lag bereits viele Generationen hinter dem Alten und seine Worte waren bereits durch viele Münder und über viele Zungen gegangen. Katastrophen hatten die Lande geschüttelt, Feuerstürme und große Fluten zerstörten den Lebensraum von Mensch, Tier und Pflanze, Winde brachten Chaos in jeden Wald und Erdbeben fällten die härtesten Berge und Klippen. Ihre viele Technik half den Menschen nicht gegen diese Gewalten, Hungersnöte und Epidemien entvölkerten die letzten stehenden Städte. Die Angst dieser Tage war in den Letzten Gesängen für die Ewigkeit gebannt; zumindest solange der Alte und seine Gemeinde sich noch an diesen Schrecken erinnerten und die Schauergeschichten am Feuer genossen. Jeder an ihren Ufern dankte Aric dem Emcee, denn ohne die Trümmer dieser fernen Welt wäre ihre kleine Gemeinde und so viele andere Völker der Gegenwart unmöglich geblieben. Die Menschen mussten sterben um den Pishengoda Leben zu geben. Vielleicht gab es einst viele Menschen mit Fähigkeiten, die Welt zu beenden, aber nur Aric der Emcee nutzte seine. Die Legende erzählte, er habe diese letzten Worte gesagt, um seinen geliebten Jowakín aus den Feuern der Hölle, aus dem Totengefängnis des Teufels zu retten und um ihrer großen Liebe die wohl einzige Chance, die in ihrer Situation je möglich gewesen war, zu geben. Bevor sein geliebter Jowakín der Folter und dem Hass seiner schwarzen Heimat endgültig verfiel, erfüllte Aric der Emcee seinen letzten Wunsch: die Vereinigung der Welt, so nannten die Teufel die Endzeit. Die Teufel waren es, die Aric dem Emcee lehrten, seine Kräfte und seine Worte zu beherrschen, obwohl ihm längst bewusst gewesen sein musste, was er mit dieser Entscheidung anrichten würde. In so vielen kleinen und großen Taten erlernte Aric, was die Wahrheit war und wie er sie nutzen konnte. Einst warnte Jowakín noch vor seinen bösen Brüdern, aber die Verzweiflung in Arics Herzen war größer als die Angst vor dem Unausweichlichen. Das Tor zur Hölle, unzugänglich und gleichbedeutend mit dem Tod, war der einzige Weg, den Aric der Emcee noch gehen konnte. Immer seinem geliebten Jowakín entgegen.
Am vergangenen Abend hatte der Alte den zweiten großen Akt aus dem Leben ihres Helden erzählt: Endlich als ein erfolgreicher Musiker, wie Aric der Emcee es sich als armes, einsames Kind nur zu wünschen wagte, bereiste er die Welt, sang seine Lieder vor allen Menschen und auch die Liebe zu Jowakín blühte und reifte, wenn auch nur im Verborgenen. Aber die geheimnisvolle Welt seines geliebten Jowakín störte allzu bald diesen Frieden, denn Teufel und schwarze Fürsten jagten sie. Jowakín musste sterben, bevor er den Weltuntergang heraufbeschwören würde, und Aric der Emcee besaß eine Kraft, welche selten und deshalb begehrt war: Er konnte die Wahrheit sagen. Viele dieser Jäger hatten andere Ziele mit diesen Kräften, doch für Aric dem Emcee war dies gleich, er musste immer fliehen. Angst erfasste sein Herz. Aber auch der letzte Ausweg, den Jowakín zu wissen glaubte, der Himmel, suchte Arics Kräfte zu nutzen. Der Himmel bot niemals ohne Gegenleistung und auch Zuflucht war ein Gut, dass sich verdient werden musste. Aric konnte in den himmlischen Prüfungen nur scheitern, weder Gott noch Halbgott und unfähig mit seinen Kräften umzugehen, war er für den Himmel nutzlos. Wo war sein Leben?
Die sanfte Stimme des Alten begann mit dem Zwischenakt und erzählte Arics letzte Entscheidung im Vorflur zur Hölle. Es waren Arics Worte, die sich über das sanfte Feuer neigten: „Diese Lügen leiten mich längst auf leere Kreise und Irrwege. Ich muss ertragen, aber ich kann nicht bleiben. Bitten und betteln, beten und flehen sind fruchtlos, falls ich in falsche Versuchungen geführt finstren Fürsten mein Schicksal reiche. Dann reiße ich jedes Reich und Rinnsal nieder, reue und räche ohne Sieg. Ich singe und singe diese letzte Sonate namens Marter. Mancher Mannes Herz mit Mut, möge das Gute sie begleiten. Bis unsere Beine zu Asche brennen und brüllen, beichte ich die Wahrheit in allen Tönen.“
Tortur und Tugend liegen nah beieinander. Herr, ich bete zu Dir, mögest Du doch diesen Ort mit deiner Anwesenheit ausfüllen. Wenn das für die Vorhalle der Hölle überhaupt möglich ist. Alles schmerzt nur noch. Ich vermisse dich so sehr, Jowakín. Du fehlst und deine ruhigen Worte fehlen noch viel mehr. Du findest immer den Ton, der Mut und Halt, der Linderung und Wärme verspricht. Deine Arme können jeden Schmerz und jede Einsamkeit von mir nehmen. Noch nie hab ich mich so schrecklich elend gefühlt wie jetzt. Bitte, Herr, beseitige jede Art von Negativität, jede Art von Angst, jede Art von Zweifeln, die ich in meinem Leib trage.
Alles bebt und zittert. Alles ist dunkel und finster hier, egal ob der tiefste Schlund auf seinem Grund noch leuchtet. Aber das muss dein Licht sein, dass mich zu dir führen wird; ob du dann noch lebst, Jowakín? Von der Hölle hört man ja doch nichts Gutes … Jetzt fehlt mir die Kraft zu kämpfen, es soll einfach nur noch aufhören. Jeder Sieg bedeutet gleichzeitig drei Niederlagen, aber ein Ende ist niemals in Sicht. Du bist fort, Nathan und Jasin sind fort; ich will nicht mehr allein sein. Sie haben mich immer schon gehasst und diskriminiert, gegen mich protestiert und demonstriert. Ich bin nicht Teufels Sohn! Ist es gerechtfertigt, dass ich gemartert werde? Ich bin nicht Gottes Sohn! Keines meiner Worte findet noch Gehör, keine meiner Melodien bewegt noch den kleinsten Zeh, noch den schwächsten Gedanken. Meine Sehnsucht ist so unendlich groß, ich kann diesen Zustand nicht ertragen. Hilf mir! Aber niemand reicht so jemandem wie mir seine Hand, schon gar nicht zur Hilfe. Mein ganzes Leben lang machte man mir glauben, ich wäre krank, obwohl ich es nicht war. Jetzt bin ich erwachsen. Habe ich damit Einsicht gewonnen? Was unterscheidet Heute von Gestern? Stürbe ich jetzt, würde es niemand bemerken. Du bist fort, Nathan und Jasin sind fort, L’Lefoér ist fort, meine Lieder sind fort – jedes einzelne. Alles schmerzt, selbst die Erinnerung an die glückliche Sekunde in meinem Leben tut unsäglich weh. Ist das Schicksal? Unglücklich und schmerzerfüllt zu sein bis zum Jüngsten Tag, dann ist Leben nicht wert gelebt zu werden.
Ich wollt‘, diese eine glückliche Sekunde meines Lebens könnte ich ewig wiederholen; ob das im Jenseits möglich ist? Bist du dort, Jowakín? Sind Nathan und Jasin auch dort? Mit euch an einem Beat zu basteln und über dämliche Witze zu lachen, ist die schönste Art, Zeit zu verbringen. Mein einziges Schicksal sollte es sein, mit dem Mikrofon auf der Bühne zu stehen, die Musik in meiner Zunge zu spüren und meinen Freunden Reime an den Kopf zu werfen. Warum ist das nicht mein Schicksal? So ist doch jeglicher Kampf nutzlos, wenn alles vorher bestimmt ist, werden sich meine Träume niemals erfüllen. Ich will keinen Schmerz und keine Sehnsucht mehr spüren. Du hast es mir versprochen, Jowakín! In dieser peinerfüllten Welt kann niemand leben. Will ich nicht länger leben. Seid ihr alle fort, dann folge ich euch. Dem Tod ist Schicksal egal, sind Wünsche und Träume egal. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Dann sehen wir uns dort, Jowakín, Nathan, Jasin, L’Lefoér – und zusammen tanzen wir bis in den Morgengrauen des Jüngsten Tages. Wer endlich stirbt, ist für immer tot. Dann kann auch niemand mehr diese bescheuerte Kraft in mir missbrauchen. Davor hattest du immer solch große Angst, Jowakín, dass mich jemand für das Böse missbraucht und die Welt in Gewalt und Schrecken ertrinkt. Was würdest du jetzt tun, Jowakín? Würdest du kämpfen? Natürlich würdest du kämpfen, mit deinem Ziel fest vor den Augen und mit der Überzeugung, dass du das Richtige tust, fest in deinem Herzen. Du willst, dass ich kämpfe, nicht wahr? Das hast du immer gesagt. Du wirst die Welt retten und ich werde dein Heldenlied singen. Da kann ich doch jetzt noch nicht aufgeben. Du hast dein Ziel noch nicht erreicht, die Welt ist noch nicht vereint. Ich muss dir helfen, Vorsehung hin, Tod her. Ich verdamme das Schicksal. Hörst du mich Schicksal, ich lach‘ dir ins Gesicht: Hahahaha! Denn von niemandem lass‘ ich mir was sagen, mache ihnen die Hölle heiß, so lange ich atme. Sollen sie mich jagen, foltern und mir die Kräfte rauben, die ich eh nie wollte.
Du hast meinen Traum erfüllt, dann erfülle ich den deinen!
„Die Hallen des Himmels heben sich in Höhen, heilig ist hier nichts. Nur niemanden nimmt’s Staunen, nirgendwo nimmt mich die Flamme von Liebe und Hass mit hin.“ Die Stimme des Alten zitterte bei diesen Worten. Aric der Emcee hasste die Welt seiner Kindheit, die Suche nach Personen oder Taten, die das Wort ‚Leben‘ verdienten. Er war dem Tod häufig näher und dennoch erkannte er im Moment seiner letzten Entscheidung, dass Tod nicht die Antwort auf Leben war. Seine Entscheidung für das Leben, vielmehr für seine Liebe zu einem Dämon, riss den Abgrund auf und beendete die Menschheit für immer. Aric der Emcee erschuf Zeit und Ort für die Welt der Pishengoda. Zumindest hier am Ufer des Meeres lebten nun sie, die Trümmer der Menschen waren in den Wellen vergraben.
Die Geschichte des Alten war für diesen Abend ebenfalls zu Ende. Manch ein Kind klagte noch leise, manch ein Kind gähnte bereits müde und manch ein Kind schlief längst in den Armen seiner Eltern. Die Mütter und Väter trugen ihre Sprösslinge in die niedrigen Hütten, betteten sie weich und warm. Junge Männer und Frauen sangen und tanzten noch bis tief in die Nacht und vergaßen für den Moment die harte Arbeit des nächsten Tages. Ihre felsige Bucht war reich an Fischen und der Boden nährte ihre Pflanzen gut, da konnten sie sich unbesorgt am Leben miteinander erfreuen. Genauso wie am Tage brachen sich auch in der Nacht die tosenden Wellen gegen den Fels der Küste, schliffen die Steine glatt und rund. Der Wind rauschte über das Meer. Nur der Alte sah auf, als kurz Sterne durch die schweren dunklen Wolken zu sehen waren.
Jan Laumeier studiert seit 2008 Germanistik und fängt bald mit seiner Masterarbeit an. Seit 2010 kümmert er sich um die Finanzen des GUStAV. Auf die Frage, über was er so schreibt, antwortet er: „Das, was ich gerne mal lesen würde.“ Meistens bewegt sich das in den Genres Fantasy und homoerotische Romantik. Die kleine Erzählung „Das letzte Lied eines Löwen“ ist die Zusammenfassung eines seiner Romanprojekte und behandelt vor allem das Leben und Zweifeln von Aric dem Emcee. Über den zweiten Hauptcharakter, Jowakín, schrieb er bereits einen Text namens „Die Marter“.
GUStAV trifft sich montags und freitags 18 Uhr in der Germanistik, diese Treffen stehen allen Interessierten offen. Weitere Informationen zum Verein und zu den Mitgliedern, den regelmäßigen Treffen und den Lesungen finden sich auf der Internetseite.
Dies ist ein Beitrag der Reihe „GUStAV schreibt„. Weitere Werke der Gustels finden sich unter dem Link.
Fotos: Lisa Klauke-Kerstan (Buch); Winfried Bruenken via wikicommons (Löwe)