Bis in die 1990er wurde in Lubmin bei Greifswald das größte Atomkraftwerk der DDR betrieben. Seit fast 35 Jahren wird es zurückgebaut. Wie ist der aktuelle Stand? Ein Besuch vor Ort.

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Die Umkleide könnte genauso zur Sporthalle eines Gymnasiums gehören. Doch statt Sporttaschen und Sneaker hängen hier blaue Schutzhelme und orange Overalls. „Zwei. Eins. Vielen Dank, keine Kontamination“, sagt eine Roboterstimme in die Stille hinein. Die Arbeiter*innen, die sich hier umziehen, sind auf dem Weg in die Zentrale Aktive Werkstatt auf dem Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks Lubmin.

Wo zu DDR-Zeiten Kernenergie produziert wurde, sitzt heute das Unternehmen Entsorgungswerk für Nuklearanlagen GmbH (EWN). Beim Verlassen des Arbeitsplatzes müssen dessen Angestellt*innen ihre Schutzkleidung ablegen und durch einen Scanner schreiten. Im Optimalfall gibt die Roboterstimme dann das grüne Licht für den Heimweg – keine Kontamination. Mehr als 900 Mitarbeiter*innen des EWN arbeiten heute – eine 30 minütige Autofahrt von Greifswald entfernt – mit den Überresten von Lubmins atomaren Erbe.

Atomenergie in Lubmin: Das Kraftwerk Bruno Leuschner

Das Erbe geht auf das ehemalige Kernkraftwerk zurück. Ab 1974 ging das Kraftwerk Bruno Leuschner Schritt für Schritt ans Netz. Zu Hochzeiten arbeiteten rund 5.000 Menschen auf der Anlage.

In den 1980er Jahren kamen erste Bedenken bezüglich der Sicherheit auf. Zu diesem Zeitpunkt war es das größte Atomkraftwerk der DDR. Nach dem Mauerfall wurden so schwere Mängel festgestellt, dass die Bundesregierung 1990 die Abschaltung beauftragte. 1995 wurde die Genehmigung für Stilllegung und Abbau des Kraftwerks erteilt. Unmittelbar danach begannen die Arbeiten für die Stilllegung und den anschließenden Abbau der Kraftwerksblöcke. Heute befindet sich auf dem Gelände unter anderem das Zwischenlager Nord – und die Zentrale Aktive Werkstatt.

Blick in die Aktive Werkstatt: Hier arbeiten EWN-Mitarbeiter mit kontaminierten Bauteilen.
Dresscode: Orange Overalls und weiße Helme sollen die EWN-Mitarbeiter schützen.

Dort werden größtenteils Bauteile des ehemaligen Atomkraftwerks (AKW) behandelt. Bauteile, deren Oberfläche kontaminiert ist, werden von EWN-Mitarbeitenden in der Werkstatt bearbeitet. Beispielsweise in Kammern mit dicken Stahlwänden, sogenannten Trockenstrahlkammern. Die kontaminierten Teile werden dort abgelegt und von allen Seiten unter Hochdruck mit extrem kleinen Metallkügelchen beschossen. So wird die äußerste, kontaminierte Schicht von Rohren oder Maschinenteilen abgetragen.

Übrig bleiben Bauteile, die in einer speziellen Anlage auf restliche Strahlung untersucht werden. Unterschreiten sie bei der Messung einen gewissen Strahlungswert, können sie wie anderer Schrott entsorgt werden, erklärt EWN-Pressesprecher Kurt Radloff bei einer Führung durch die Anlage. Andere Bauteile werden in Säurebäder gelegt oder mit Wasserhochdruckbehandlungen dekontaminiert.

Die Trockenstrahlkammer: Kontaminierte Bauteile werden in diese Kammer gelegt…
… und mit diesen kleinen Metall-Partikeln beschossen.

Andere Bestandteile des Kraftwerks, die „aktiviert“ sind, kommen nicht in die Werkstatt. Sie waren so lange Strahlung ausgesetzt, dass sie mittlerweile selbst radioaktiv sind. Darum landen sie direkt im nebenliegenden Zwischenlager Nord – dem einzigen seiner Art in Ostdeutschland.

Das Atom-Zwischenlager in Lubmin wird ausgebaut

Das Zwischenlager in Lubmin besteht aus acht oberirdischen Hallen. In den Hallen 1 bis 6 stapeln sich strahlend-blaue, 20 Meter lange Container in Reih und Glied bis an die hohe Decke. Kaltes Licht scheint von Leuchtstäben, die an den Betonwänden hängen. In den Containern ist der Atommüll in den populären gelben Fässern verpackt.

Das Gelände in Lubmin, auf dem das Zwischenlager und die Zentrale Aktive Werkstatt stehen, verändert sich: EWN plant ein neues Lagergebäude. „Hintergrund sind die seit 2011 erhöhten Sicherungsanforderungen für die Lagerung von Castor-Behältern“, heißt es vom Unternehmen. „Alle in Deutschland bestehenden Zwischenlager für Castor-Behälter werden daher angepasst. Für uns resultiert daraus, dass wir neu bauen müssen.“ In diese Lagerhalle sollen dann die 74 Castor-Behälter mit hochradioaktiven Abfällen kommen, die sich derzeit in Halle 8 des Zwischenlagers Nord befinden. Die Kosten für das Projekt werden über 200 Millionen Euro betragen, heißt es vom EWN.

Zudem soll Ende 2026 eine neue Zerlegehalle eröffnet werden. Besonders große Bauteile des ehemaligen Kraftwerks können nicht in der Zentralen Aktiven Werkstatt zerteilt und bearbeitet werden. 2018 wurden die Baukosten auf 43 Millionen Euro geschätzt. Mittlerweile schätzt EWN-Sprecher Radloff die Kosten auf einen Wert im „hohen zweistelligen Millionenbereich“. Das Ganze wird durch Steuergelder finanziert, denn: EWN ist ein „100%iges Unternehmen des Bundes, das Bundesministerium der Finanzen ist der alleinige Gesellschafter und Zuwendungsgeber“, heißt es auf der Unternehmenswebseite.

Dampferzeuger: Durch die kleinen Röhrchen stieg Wasserdampf empor, der Strom erzeugte.
Weitere Dampferzeuger warten in diesen grauen Behältern bis sie in der neuen Zerlegehalle bearbeitet werden können.

Die Endlagersuche in Deutschland: Eine „Ewigkeitsaufgabe“

Dass in Deutschland Zwischenlager ausgebaut werden, liegt auch am langwierigen Prozess der Endlagersuche. Im Schacht „Konrad“ in Niedersachsen soll schwach- und mittelradioaktiver Abfall gelagert werden. Es ist bisher das einzige genehmigte und im Bau befindliche Endlager. Die Lagerung sollte dort in den 2030er Jahre losgehen – dieses Datum könnte sich jedoch nach hinten verschieben.

Für den deutschen hochradioaktiven Atommüll schien das Ziel klar: Bis 2031 sollte ein Endlager gefunden sein. So steht es im Standortauswahlgesetz aus dem Jahr 2017. Zuletzt scheint das Ziel jedoch in weite Ferne zu rücken. Vergangenes Jahr wurde ein Gutachten des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) bekannt. Darin beschreiben die Expert*innen, dass die Endlagersuche bis 2074 dauern könnte. Das BASE ist zusammen mit der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) maßgeblich an der Endlagersuche beteiligt.

„Das Jahr 2031 war ein politisches Ziel. Fachleute haben sich nicht gewundert, dass es nicht eingehalten werden kann. Die Endlagersucher kann eine Ewigkeitsaufgabe werden“, sagt Dr. Maria-Theresia Schafmeister. Bis vergangenes Jahr leitete die Professorin den Lehrstuhl für Angewandte Geologie an unserer Universität. Beim Gespräch mit den moritz.medien sitzt die Geologin im Ruhestand an einem Sommertag in ihrem kleinen Büro unterm Dach des geologischen Instituts.

2020 wurde Schafmeister von Bundestag und Bundesrat in das Nationale Begleitgremium gewählt. Die Gruppe aus Wissenschaftler*innen, Personen des öffentlichen Lebens und anderen Vertreter*innen der Bevölkerung begleitet die Endlagersuche.

Andere Faktoren, welche die Endlagersuche in Deutschland länger dauern lassen, sind geologischer, politischer und juristischer Natur, so Schafmeister.

„Finnland hat ein Endlager gefunden. Da fragt man sich, was machen die besser? Gar nichts. Aber die haben zum Beispiel nur ein geeignetes Gestein für ein unterirdisches Endlager.“ In Deutschland gibt es hingegen drei Gesteinsarten, die die Expert*innen von BASE und BGE näher prüfen. Geologin Schafmeister sagt weiter: „In Deutschland haben wir also die Qual der Wahl. Irgendwann wird man sich entscheiden müssen: Ist Granit besser als Salz oder Ton? Das ist eine Frage wie: Was ist besser, Apfel oder Birne?“

Generell sei ein Vergleich mit Finnland schwierig. Neben den unterschiedlichen geologischen Voraussetzungen seien die Finnen anders mit Atomkraft und deren Überresten sensibilisiert. „Die Finnen haben kein Erlebnis wie wir in Gorleben gehabt. Auch in Skandinavien gibt es Atomkraftgegner. Aber bei weitem nicht so viele wie in Deutschland“.

Zudem wurde in Finnland nur nach einem geeigneten Endlagerstandort gesucht. Das deutsche Standortauswahlgesetz besagt hingegen, dass nach dem Standort mit der „bestmöglichen Sicherheit“ gesucht werden soll. Das schränkt den Spielraum beim Beschleunigen der Suche ein. „Es gäbe Möglichkeiten, das Verfahren zu optimieren“, erklärt Schafmeister. Beispielsweise könnten einzelne Phasen des Suchverfahrens zusammengelegt werden. Was allerdings auf Kosten von Beteiligung der Bevölkerung und des Parlaments gehen könnte, so die Geologin.

„Andererseits gibt es viele Expert*innen, die sagen, dass eine Gesteinsart in Deutschland, das Kristalline – zum Beispiel Granit – von unseren drei Gesteinsarten offensichtlich die schlechteste Option wäre“. Einige Geolog*innen argumentieren, dass Regionen mit diesem Gesteinstyp bei der Endlagersuche ausgeklammert werden sollten. „Aus geologischer Sicht könnte man so argumentieren. Aber es beißt sich mit dem öffentlichkeitsbeteiligenden, partizipativen Prinzip der deutschen Endlagersuche.“

Umkleidekabine im Zwischenlager Nord: Statt Sporttaschen und Sneaker, Overalls und Schutzhelme.
Blaue Container und gelbe Fässer: Ein Blick ins Zwischenlager.

Zwischenlager in Lubmin: Plan bis ins Jahr 2100

Trotz all dieser Hindernisse: „Eine sorgfältige Optimierung des Verfahrens ist absolut wünschenswert“, sagt die Geologin. Weiter erklärt sie, dass die oberirdischen Zwischenlager seit Russlands Angriff auf die Ukraine ein erhöhtes Risiko darstellen. Schafmeister führt aus, dass diese lange als sicher galten. Auch EWN-Sprecher Radloff erkennt das erhöhte Risiko durch die aktuelle geopolitische Lage. Zu neuen oder veränderten Sicherheitsmaßnahmen seit 2022 konnte Radloff „auf Grund des Geheimhaltungsgrades“ keine Angaben machen.

Wegen der unklaren Endlagersituation wird beim EWN langfristig geplant. Die letzten Blöcke des Kernkraftwerk Lubmin sollen bis „Anfang bis Mitte der 2040er Jahre“ zurückgebaut werden, erklärt Pressesprecher Radloff. Ab dem Jahr „2100+“ soll der gesamte Standort geschlossen sein, sagt er weiter. Frühestens 105 Jahre nach dem Stilllegen des AKW Lubmins soll also der letzte Kastor ins bis dahin gebaute Endlager gefahren sein.

alle Bilder: Janne Koch

Dieser Artikel war das letzte Recherche-Projekt des Moritz.Alumni Robert Wallenhauer, den er in der Endphase seines Studiums schrieb. Er wird nun, etwa einen Monat nach seinem Studienabschluss und Ausscheiden aus dem aktiven Redaktionsteam, von der Webmoritz.-Redaktion publiziert.