Wie schafft Wladimir Putin es, die Geschichte zu verdrehen und seine grausamen Taten mit Wörtern anzudeuten und später zu rechtfertigen? Ein Experte erklärt die Strategie hinter der Sprache des russischen Herrschers. Live. In Farbe. Hier in Greifswald. Der webmoritz. berichtet von Prof. Nicolosis Vortrag am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg.

Der 24. Februar 2022 ist der Tag, an dem Undenkbares und überwunden Geglaubtes plötzlich erschütternd echte Realität wird. Russland überfällt nach Befehl von Machthaber Wladimir Putin die Ukraine. Eine “militärische Spezialoperation”, die sich in einen bis heute andauernden, schrecklichen Krieg verwandelt. Am frühen Morgen jenes 24. Februars hält Präsident Putin eine Ansprache, in der er seinen Befehl versucht zu begründen, zu legitimieren und eine Botschaft an die Welt zu senden.

Doch wie schafft er es, seine Sicht der Geschehnisse zu verbreiten? Welche klassischen Elemente der Kriegsrhetorik finden sich bei ihm wieder? Und warum sollte man sich angesichts der grausamen Folgen des Angriffs überhaupt mit so etwas Banalem wie Rhetorik befassen? Antworten auf diese Fragen gab Prof. Riccardo Nicolosi am Montagabend (15.04.) in seinem Vortrag “Putins Kriegsrhetorik” im Greifswalder Alfried Krupp Wissenschaftskolleg. Die gut besuchte Veranstaltung war der Auftakt der Fellow Lectures des Kollegs, die Zuhörer*innen im ganzen Sommersemester spannende Einblicke in verschiedenste Forschungsgebiete eröffnet.

Putin ist kein begnadeter Redner

Prof. Nicolosi stellt zu Beginn direkt klar, was Putin nicht ist: ein begnadeter Redner. Er sei oberlehrerhaft, anstrengend und wenig charismatisch. Er bewegt die Massen nicht. Er überzeugt nicht in Debatten. Er kann bei Großveranstaltungen nicht mitreißen. Warum? Weil er es nicht nötig hat. Bevor der Präsident auch nur sein erstes Wort spricht, hat er Vorkehrungen getroffen, die den „Erfolg“ seiner Rede garantieren sollen. Putin, so Nicolosi, meide Reden vor großen Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen. Wer keine demokratische Wahl hat, muss sich auch nicht, wie beispielsweise Merkel 2013, in einem TV-Kanzlerduell den überaus stechenden Fragen eines Stefan Raab stellen. So eine öffentliche Debatte gibt es in Russland, in dessen Inland laut Nicolosi in den vergangenen zwei Jahren noch repressiver und totalitärer agiert wird, schlichtweg nicht. Und selbst wenn Putin sich in einer Fernsehsendung Fragen eines Publikums stellt, sind die Personen sowie deren Fragen selbstverständlich zuvor abgesprochen. Diese Inszenierung diene nur dazu, eine Nähe des Herrschers zu seinem Volk zu suggerieren, erläutert Nicolosi.

Prof. Nicolosi füllte seine 60 Minuten mit spannenden Einblicken. Foto: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg

Sind die passenden Voraussetzungen geschaffen, kann Putin seine Botschaften verkünden. Dazu bedient er sich verschiedener rhetorischer Mittel. Aber was ist Rhetorik überhaupt? Nicolosi erläutert diesen Grundstein seines Vortrags mit dem antiken griechischen Philosoph Platon. Laut diesem ist Rhetorik eine „ethische Überzeugungskunst zur Konsensbildung“. Eine demokratische Kunst also. Aber nicht in Russland. Dort gibt es keine Konsensbildung. Putin ist der Konsens.

“Die Kunst der Rhetorik ist laut Platon eigentlich eine demokratische Kunst.”

Prof. Riccardo Nicolosi

Die Subform der Kriegsrhetorik ist eine spezielle, wird sie doch nur im Ausnahmezustand genutzt. Laut Nicolosi kreiert diese Rhetorik einen begrenzten Möglichkeitshorizont, in dem Gewaltanwendung legitimiert wird. Was heißt das konkret? Putin stellt sein Land allgemein als ewiges Opfer des Westens dar, welcher eine ständige Bedrohung für das Fortbestehen Russlands sei. Er geht dabei weit in die Geschichte zurück und behauptet, der Westen wolle Revanche für die Niederlage Napoleons im Jahre 1812 (!). Bemerkenswert: In seiner 30-minütigen Rede am 24. Februar 2022 erwähnt Putin die Ukraine in den ersten 15 Minuten nicht ein einziges Mal. In genannter Rede bedient er sich laut Nicolosi klassischer Mittel der Kriegsrhetorik, die schon viele Tyrannen und Herrscher vor ihm verwendeten.

Fast zeitgleich mit Kriegsbeginn geht Putin mit seiner Rede am 24.2.22 an die Öffentlichkeit. Foto: Tagesschau.de

Zu Beginn gibt es die sogenannte Justification Speech, die dazu dient, die Entstehung der Situation zu erläutern und das Vorgehen zu legitimieren. Putin schildert seine Sicht der Vergangenheit, indem er auf einen angeblichen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas, in der Ostukraine, verweist. Das leitet auf das nächste Stilmittel ein: die Alternativlosigkeit des Handelns. Der Genozid müsse gestoppt werden, bevor es zu spät ist. Die „ukrainischen Neonazis“ müssten aufgehalten werden. Nicolosi erklärt, dass der Begriff Nazi in Putins Sprachgebrauch generell einen tyrannischen Feind beschreibt und nicht mehr viel mit der eigentlichen Nazi-Ideologie gemein habe. Zum Schluss seiner Rede zu Kriegsbeginn erwähnt Putin zudem klassisch die Siegessicherheit der „Militäroperation“, die die Führung in Kiew ersetzen und eigentlich nur wenige Tage andauern sollte.

Warum sollte man sich überhaupt mit Putins Rhetorik beschäftigen?

                       

Nicolosi ist es wichtig, die Relevanz des Vortragsthemas hervorzuheben. Die Sprache Putins war der Aggressivität seiner Taten immer mindestens einen Schritt voraus. Putin habe in seinen Reden in den vergangenen Jahren immer wieder undeutlich ausgesprochen, dass eine Intervention in der Ukraine nötig sei. Bereits 2014 deutete er dies in seiner „Blut und Boden“ Rede sehr bildhaft an: „Wenn man eine Feder immer weiter zusammendrückt, wird sie irgendwann mit aller Kraft auseinanderspringen“. Damit spielt er auf die Zeit nach dem Fall der Sowjetunion an, in der er Entwicklungen wie die NATO-Osterweiterung beobachten musste, die für ihn und sein Land eine „Demütigung“ seien.

“9 von 10 Russen haben wahrscheinlich noch nie eine Rede Putins gesehen”

Prof. Riccardo Nicolosi

Die Bezeichnung der „militärischen Spezialoperation“ wählt Putin nicht ohne Grund, wie Nicolosi erklärt. Eine Spezialoperation könne man abbrechen, wenn das Ziel erreicht sei. Einen Krieg könne man nur gewinnen oder verlieren. Hoffnung, dass diese Spezialoperation wirklich zeitnah beendet wird, lässt sich daraus aber wohl nicht schöpfen.

Zum Abschluss der Veranstaltung konnte das Publikum Fragen an Professor Nicolosi stellen. Besonders die Frage nach der Wirksamkeit der Reden stand dabei im Zentrum. Nicolosi stellte klar, dass 9 von 10 Bürgern Russlands wahrscheinlich nie eine Rede Putins verfolgt hätten. Ihnen sei auch völlig unklar, was Putin mit Begriffen wie „Entnazifizierung“ überhaupt meine. Es sind programmatische Reden. Putin sei kein Populist, so Nicolosi. Er wolle den Willen der Massen nicht auf sich ziehen. Das stehe ganz im Gegensatz zu jemandem wie Trump, der sich in einem ständigen Wahlkampfmodus befinde.

Nach dem Vortrag gab es für jede*n die Möglichkeit, Fragen zum Thema zu stellen. Foto: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg

Nicolosi gelang es in seinem Vortrag, Putins Rhetorik wissenschaftlich einzuordnen und die Zuhörer an ihrem Wissensstand abzuholen. Sein Fachwissen über die Sprache und das russische System trugen zu einer überaus interessanten Abendveranstaltung bei.

Zum Vortragenden

Riccardo Nicolosi ist Professor für Slavische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er lehrte zuvor an den Universitäten Konstanz, Bonn und Bochum und war Visiting Professor an der University of California, Berkeley.  Im Sommersemester 2024 ist Riccardo Nicolosi Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. In diesem Semester gibt es weitere Vorträge von Gastmitgliedern des Wissenschaftskollegs, Infos dazu gibt es hier.


Zur Person der*des Autor*in

Beitragsbild: Dimitro Sevastapol (Pixabay)