von Janis Glück und Robert Wallenhauer
Wie kann der Zufall die Politik und unsere Gesellschaft gerechter machen? Dieser Frage hat sich Dr. Hubertus Buchstein, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte, gewidmet und beantwortet im folgenden Interview Fragen des moritz.magazins.
Am 18. Mai 1848 versammelte sich in der Frankfurter Paulskirche der erste gesamtdeutsche Konvent, eine Versammlung, die das erste gleich gewählte Parlament in Deutschland sein wird. Diese deutsche Nationalversammlung stand als Symbol der Hoffnung für einen von Armut, wirtschaftlichen Krisen und politischer Unzufriedenheit geprägten deutschen Bund. 175 Jahre später herrscht zumindest wieder letzteres: Die Ergebnisse einer Umfrage der Europäischen Kommission zeigt, dass das Vertrauen in deutsche Parteien bei gerade einmal 27 Prozent liegt. Weiterhin schneidet die AfD, eine Partei, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird, bei den Sonntagsumfragen besser ab denn je. In Zeiten, in denen 34 Prozent der Bevölkerung sagen, sie seien wenig beziehungsweise überhaupt nicht zufrieden damit, wie die Demokratie im Moment funktioniere, stellt sich also die Frage: Steht unsere Demokratie vor dem Aus und wie können wir mehr Vertrauen in unsere parlamentarischen Vertreter*innen schaffen?
Das Gespräch – geleitet von den moritz.magazin-Redakteuren Janis Glück und Robert Wallenhauer – erschien in gekürzter Version in der 164. Ausgabe des moritz.magazins.
Hubertus Buchstein ist deutscher Politologe und besetzt seit 1999 den Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Als Vertreter der aleatorischen Demokratietheorien legt er dar, »wie durch den konkreten Einsatz des […] Zufallsmechanismus das Vernunftpotential moderner Demokratien nicht dementiert, sondern im Gegenteil gestärkt werden kann.« Er plädierte 2009 unter anderem für die Erweiterung des Europäischen Parlaments durch eine zweite, geloste Kammer mit Initiativ- und Vetorecht.
moritz.magazin: Was fasziniert Sie so sehr am Zufall?
Hubertus Buchstein: Am Zufall fasziniert mich am meisten dessen völlige Unbeherrschbarkeit. Und was ist es überhaupt, der Zufall? Lässt er sich mathematisch nach Wahrscheinlichkeiten berechnen oder greift vielleicht die römische Göttin Fortuna ein?
Warum sollte ich dem Zufall überhaupt trauen? Wenn man darüber nachdenkt, dass der Mensch vernünftig ist, warum sollten sich nicht alle ihrer Vernunft anvertrauen und dann gemeinsam politische Entscheidungen treffen oder Menschen in politische Ämter wählen, warum sollte man das stattdessen dem Zufall überlassen?
Das Weltverständnis in unserer modernen Gesellschaft ist ein rationales. Häufig ist es aber auch ein hyperrationales, das heißt, es ist irrational rational. Was meine ich damit? Es gibt eine Reihe [von] (Änderung der Redaktion) Entscheidungen, bei denen es am Ende keine wirklich eindeutigen Gründe für dies oder das gibt. In solchen Fällen saugen wir uns gleichsam die Argumente für eine Entscheidung aus den Fingern. Ich nenne das eine Form der Hyperrationalität. Sie ist eine Hybris der Moderne. Stattdessen sollten wir in solchen Fällen lieber zugeben, dass es manchmal bei Personalentscheidungen oder Sachentscheidungen besser wäre, wir würden den Zufall entscheiden lassen. Zufallsentscheidungen sind zudem billiger.
Besonders schwierige Entscheidungen dem Zufall zu überlassen hat zudem den Vorteil, uns emotional zu entlasten. Klassische Beispiele dafür finden wir im medizinischen Bereich wie dem Problem der Verteilung einer Niere an eine Person, deren Leben davon abhängt. In solchen Fällen werden komplexe Punktesysteme kreiert, die Medizinerinnen und Mediziner mit schwierigen Gewissensfragen belasten. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass man vor dem Entscheidungsprozess vorher Qualitäten quantifiziert; ab einer gewissen Stufe sollte man [aber] vielleicht den Zufall wirken lassen, um das verantwortliche Personal emotional zu entlasten.
Sie plädieren unter anderem für eine geloste Kammer im Europäischen Parlament, wie sollte man diese Kammer aufbauen?
Dieser Vorschlag stammt aus dem Jahr 2009, er ist also etwas älter. Zum Hintergrund:
Auf Ebene des Europäischen Parlaments und anderer Institutionen der EU sind wir offensichtlich mit dem Problem konfrontiert, dass sich in der Wahrnehmung eines großen Teils der Bürgerschaft eine politische Elite abgekoppelt hat. Diese Feststellung ist vor mir nicht als fundamentale Kritik am politischen System der EU gemeint, sondern sie basiert auf politikwissenschaftlichen Beobachtungen der subjektiven Wahrnehmungen in der Bürgerschaft. Wie lässt sich Abhilfe schaffen?
Nach dem damaligen Reformvorschlag würden Bürgerinnen und Bürger in eine zweite parlamentarische Kammer gelost. Die Lebensrealität der Ausgelosten würde sich massiv von der Lebensrealität professioneller Politiker unterscheidet. Als Michael Hein und ich 2009 diesen Vorschlag machten, waren wir uns relativ sicher: Bei einer Reihe an politischen Fragen, etwa in den Bereichen der Familien-, Sozial-, Agrar-, Umweltpolitik in der EU wäre die Präferenzen, die in dieser zweiten Kammer geäußert würden anders sein als die Entscheidungen, die das Europäische Parlament und die Europäische Kommission treffen. Die Loskammer – das ‚House of Lots‘ – so unsere Überlegung, sollte die Politik also näher an die Interessen einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger bringen. Ich bin mir heute, im Jahr 2023, nicht mehr ganz so sicher, ob dieser Vorschlag tatsächlich eine gute Idee ist. Damals stand dahinter die Vorstellung, dass die ausgelosten Bürgerinnen und Bürger nach Expertenanhörung und gemeinsamen Diskussionen zu mehrheitsfähigen Positionen gelangen.
In einer stark polarisierten politischen Kultur wie der heutigen funktioniert so etwas vermutlich nicht, sondern ein Teil der Menschen schreit lediglich herum und die politische Polarisierung verstärkt sich sogar noch. Nach Befunden der Sozialforschung gibt es in der Bundesrepublik einen Anteil von ca. 10 Prozent der Bevölkerung, die die Tendenz haben, sich aggressiv von anderen politischen Diskursen abzuspalten. Wenn ich also 100 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger in einer solchen Loskammer hätte und es wären 10 Schreihälse dabei, die sich jeder sachlichen Debatte verweigern würden, wäre eine solche Kammer kein großer Gewinn.
Mit anderen Worten: Ich fürchte, dass aufgrund der Zunahme des Anteils an [Personen], die eine stark aggressive Haltung haben, ein solches House of Lots völlig dysfunktional wäre. Das ist auch mein Einwand gegen die von der Letzten Generation geforderten Klimapolitik-Bürgerräten.
Wie würden Sie den Vorschlag heute gestalten?
Ich würde heute zunächst noch einmal viel genauer über die Kriterien nachdenken, die für eine Eignung von Loskammern sprechen. Im Ergebnis sehe ich zwei gute Einbaupunkte für ausgeloste Bürgergremien.
Zum einen im lokalen Bereich als kommunale ausgeloste Bürgerräte. Sie widmen sich Themen, die, wie die Verkehrspolitik, kommunal breit diskutiert werden. In Greifswald denke ich dabei an die Konflikte zwischen Fahrradfahrern, Autofahrern und Fußgängern um den öffentlichen Raum. Auch solche Themen [sind] zwar konfliktiv aufgeheizt, die empirische politikwissenschaftliche Begleitforschung von kommunalen Bürgerräten in anderen Städten und Gemeinden zeigt aber, dass es möglich ist, dass die Beteiligten miteinander argumentieren und zu Kompromisslösungen kommen.
Eine zweite Einbauebene sehe ich auf höherer parlamentarischer Ebene für solche Fälle, bei denen bei den gewählten Amtsträgern ein echtes Befangenheitsproblem vorliegt. Das sind beim Bundestag Fragen, die sich um Reformen des Wahlrechts und um die angemessene Höhe der Diäten für Parlamentarier drehen.
Beim Thema Diäten gibt es bei vielen Bürgern den von einigen Medien gefütterten Eindruck, „Die Politiker bereichern sich ja nur.“ Vor diesem Hintergrund wurde in den USA im Staat Washington die folgende Regelung getroffen: Es wurde ein Gremium gebildet, dass gemischt aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern sowie gewählten Politiker besteht, bei einem Übergewicht der Gelosten. Dieses Gremium befragt Experten, diskutiert untereinander und legt dann die Entlohnungen aller politischen Amtsträger fest. Im Ergebnis eines solchen Verfahrens lassen sich zwei Dinge beobachten: Zum [einen] sind die festgelegten Entlohnungen gar nicht so anders, als in anderen US-Staaten. Zum anderen aber ist die Akzeptanz der Diätenhöhe, also deren politische Legitimation deutlich höher und es gibt weniger populistisches Gehetze gegen gewählte Politiker.
Ein zweites, vielleicht noch wichtigeres Befangenheitsproblem, sind Reformen des Wahlrechts, wie wir es aktuell gerade wieder erleben. Hier könnte eine Loskammer einen Ausweg aus der derzeitigen politischen Sackgasse gegenseitiger Beschuldigungen der politischen Parteien bieten. Das ‚House of Lots‘ fungiert auch hier als ein Instrument des Outsourcens von Entscheidungen mit Befangenheitsproblemen.
Sie gehen davon aus, dass die Gesellschaft zu polarisiert ist und andere Themen zu komplex für Loskammern auf Bundesebene sind?
Ja, da bin ich in der Tat skeptisch, wenn auch noch aus einem anderen Grund. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel:
Im Juli 2023 hat der Deutsche Bundestag zum ersten Mal einen solchen ausgelosten Bürgerrat eingesetzt, und zwar zum Themenbereich gesunde Ernährung und Ernährung in der Zukunft. Es sind 160 Bürgerinnen und Bürger ausgelost worden, die vom Bundestag beauftragt worden sind, sich über das Thema Gedanken zu machen. Das Verfahren bei der Auslosung der Personen ist übrigens nicht rein zufällig, sondern nach Quotierungen für Altersgruppen, Geschlecht, Region sowie Ernährungsgewohnheiten erfolgt um sicher zu stellen, dass auch Veganer, Vegetarier und passionierte Schnitzelesser dabei sind. Dieses Gremium soll bis Anfang nächsten Jahres in mehreren Sitzungen Eckpunkte, sogenannte Leitplanken für eine zukünftige gute Ernährungspolitik ausarbeiten und dem Bundestag vorlegen. Ich bin sehr gespannt darauf, wie dieser Prozess ablaufen laufen wird, und was der Bundestag mit diesen Vorschlägen machen wird.
Wenn man solche Mittel anwenden möchte, dann sollte sich der Bundestag natürlich auch an die Vorschläge des Bürgerrates halten – mit Blick auf die jüngsten Erfahrungen in Frankreich, wo erst unter großem Trara ein solcher Bürgerrat zum Thema Klimapolitik eingerichtet wurde und dessen radikale Reformvorschläge dann einfach in den Wind geschlagen wurden, bin ich auch für Deutschland skeptisch.
Um es mir konkret vorstellen zu können: Ich werde also ausgelost und muss in den Bundestag, um dort zu arbeiten. Warum sollte ich mein Studium pausieren oder beenden, warum sollte ich mein jetziges Leben vorerst hinter mir lassen und mich der Politik verschreiben? Kann ich mich nach Ihren Vorstellungen auch einfach daraus entziehen?
Die Warum-Frage wird natürlich nicht dadurch beantwortet, dass man sagt, der Zufall hat es entschieden. Die Frage an jeden Einzelnen ausgelosten ist, ob ich diese Chance wahrnehmen will oder nicht. Klar ist, dass Personen, die so etwas machen, anständig entlohnt werden müssen, ansonsten partizipieren weder Menschen mit wenig Einkommen, weil sie es sich nicht leisten können, noch Menschen, die sehr viel Einkommen haben. Wer dennoch keine Lust hat, darf natürlich verzichten und ein anderer Ausgeloster rückt nach. Die Freiheit, sich nicht für Politik interessieren zu müssen, ist ein hohes Gut. Dabei sein werde solche Bürgerinnen und Bürger, die sich für ihr politisches Gemeinwesen interessieren. Es sind Personen, die sich darüber freuen, per Zufall ausgelost worden zu sein und jetzt wichtig werden, weil sie mitentscheiden können und nicht lediglich von den Zuschauerplätzen [Meinungen] zu etwas haben.
Wenn wir die Idee des Zufalls auf die Spitze treiben – warum sollten wir dann nicht einfach auch alle öffentlichen Stellen in der Verwaltung zufällig losen?
Das wäre doch noch kein wirkliches auf die Spitze treiben, das ist von Ihnen noch viel zu vorsichtig gedacht! Auf die Spitze treiben heißt, sich vorzustellen, in einem totalen Losland zu leben. Also: einmal im Jahr wird neu ausgelost, wer in welcher Wohnung leben darf; einmal im Jahr wird ausgelost, wie viel Geld jemand verdient, ob Sie reicher Erbe sind oder nicht, ob sie in einem Haus mit Seegrundstück wohnen oder gar im Obdachlosenheim. Eine Gesellschaft, in der die totale Lotterie herrschte, ist als Gedankenspiel ungemein spannend. Stellen Sie sich vor: Sie wissen nicht, ob sie im nächsten Jahr Müllmann bzw. Müllfrau sind, oder ob Sie weiter lesend in der Bibliothek herumlungern oder für das moritz.magazin Interviews führen dürfen. In Losland würden Sie ganz anders auf Ihre Lebenswirklichkeit und die der anderen Menschen schauen. Wer nicht weiß, in welcher sozialen Lage er zukünftig sein wird, wird sich vermutlich für eine egalitärer Gesellschaft einsetzen, auf jeden Fall aber z.B. für angemessene Bezahlung von Pflegekräften. Global gedacht, würden wir vermutlich auch in der Migrationsfrage barmherziger sein, als momentan.
Nun leben wir in einer arbeitsteiligen Gesellschaft und es benötigt für alle Tätigkeiten gewisse Qualifikationen. Aber auch für den Zugang zu diesen Qualifikationen können Losverfahren einen Platz haben. Ein klassisches Beispiel ist die Vergabe von Studienplätzen. Bislang geschieht sie primär nach Schulnoten und dieses Verteilungsverfahren gilt als rational und gerecht. Aus meiner Sicht ist diese Sichtweise ein klassischer Fall der oben erwähnten Hyperrationalität, also der modernen Hybris. Denn bis heute hat mir niemand erklären können, warum jemand, der eine herausragende Abiturnote hat, automatisch ein besserer Chirurg sein soll als jemand, dessen Abiturnote schlechter ist. Anderseits wissen wir, dass die Abiturnote ein wichtiger Indikator für den Studienerfolg ist.
Hier gäbe es deshalb m. E. die Möglichkeit des hybriden Systems einer gewichteten Lotterie: Wir könnten alle Bewerberinnen und Bewerber in einen grossen (Computer generierten) Lostopf werfen – allerdings bekommen diejenigen, die ein besonders gutes Abitur haben, sieben oder zehn Lose, andere mit schlechtere Noten entsprechend weniger Lose. Und dann den Zufall entscheiden lassen. Ein solches Verfahren würde den Arztberuf zwar nicht vollständig, aber etwas stärker vom Dogma der Abiturnote entkoppeln. Selbst der Zufall lässt sich also planvoll einsetzen.
Beitragsbild: Laura Schirrmeister