Jürgen Wenke trägt eine Regenbogenmütze und hat einen Regenbogenfächer dabei, extra für die Fotos. Es ist ja auch ein schönes Bild, dieser Regenbogen. Die Schnittstelle zwischen Regen und Sonne, der Übergang von etwas Trübem und Tristem zu etwas Hellem, Hoffnungsvollem. Für manche ist der Regenbogen auch ein Zeichen der Standhaftigkeit, des Kampfes für Sichtbarkeit und Akzeptanz. Eine Erinnerung an all jene, die diesen Weg schon vor uns gegangen sind.
Es regnet ein wenig an diesem Morgen, aber das Wasser hilft auch beim Putzen des Stolpersteins. Ein einfacher Küchenspülschwamm, etwas Scheuermilch, klares Leitungswasser aus der Trinkflasche zum Abspülen. Das ist die mechanische Weise, erklärt mir Jürgen, während er die Oberfläche des Steins wieder zum Glänzen schrubbt. Es gibt auch noch eine chemische Methode, bei der man eine Lösung aus Salz und Essig einwirken lässt, doch das greift auch das Messing an, sodass es sich rötlich verfärbt. Jürgen hat Erfahrung im Umgang mit den Stolpersteinen. Etwa 60 davon hat er bereits in Auftrag gegeben, und stolz berichtet er mir auch schon von denen, die für das nächste Jahr geplant sind. Für die Anfertigung und in der Regel auch für die Verlegung ist der Künstler Gunter Demnig zuständig, während Jürgens Aufgabe vor allem in der Recherche zu den jeweiligen Opfern liegt. Von anonymen Listen mit hunderten von Namen, über Geburts- und Sterbeurkunden und Verfolgungsakten bis hin zur Kontaktaufnahme mit noch lebenden Angehörigen, bis ein mehr oder weniger detailliertes Bild der Betroffenen entsteht, eine Lebens- und Leidensgeschichte, die Jürgen auch auf seiner Homepage teilt. „Das geht einem schon sehr nahe“, sagt er, nickt dabei und das sonst so präsente Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet für einen Moment.
17 Jahre ist es nun her, dass Jürgen seine Recherchen aufgenommen hat. Damals, auf einem Weg durch die Straßen seiner Heimatstadt Bochums, wurde ihm bewusst, dass sich unter all den verlegten Steinen kein einziger für diejenigen finden lässt, die unter dem Paragraphen 175 verurteilt wurden: Homosexuelle. Also begann er, nachzuforschen, und stieß schließlich auf die Arbeit eines Historikers zu einem Doppelstigmatisierten, Wilhelm Hünnebeck, in den Worten der Nazis „Halbjude“, aber verfolgt nach §175. Jürgen war unzufrieden mit der unzulänglichen Recherche, die vor ihm betrieben wurde, und machte sich selbst an die Arbeit. Wilhelm Hünnebeck war sein erster Stolperstein, während Hünnebeck selbst bereits 10 Jahre zuvor ein Stein gewidmet wurde. Allerdings ohne den tatsächlichen Grund für die Verfolgung, seine Homosexualität.
Über die Zeit häuften sich die Namen und Lebensläufe an. Über seine begonnene Recherche gelangte Jürgen an die Listen der KZs Auschwitz und Buchenwald, jeweils mit 136 und 550 Namen der bekannten Opfer, die den rosa Winkel tragen mussten. „Dann fand ich die Liste aus Dachau, dann die aus Sachsenhausen. Und es geht so weiter. Wenn ich jetzt forsche, stellt sich nicht mehr die Frage Wie mache ich weiter?, sondern nur Wie beschränke ich mich?“ Um nur zehn Prozent der Namen abzuarbeiten, müsste er wohl 200 Jahre alt werden, scherzt er. Aber man müsse irgendwann realisieren, dass es nicht darum gehen kann, die Geschichten aller Opfer aufzuarbeiten, sondern Stellvertreter*innen zu finden. Stellvertreter*innen für die Verfolgung, für die Leidensgeschichte. Auch Jürgens eigenes Archiv Zuhause wächst immer weiter. „Ich könnte dir da wahrscheinlich zweieinhalbtausend Namen nennen, von Leuten, die in diesen Lagern waren.“ Dieses Archiv ist auch ein guter Startpunkt, wenn jemand direkt auf ihn zukommt, um einen Stolperstein zu verlegen, um zum Beispiel dem Wunsch nachzukommen, sich für einen Stein in der eigenen Heimat einzusetzen.
Wir stellen uns an den Säulen des Theatereingangs unter, während der Regen die letzten Schaumblasen von Kurt Brüssows Namen und seiner Verfolgungsgeschichte fortwäscht. „Mehr ginge nicht drauf an Schrift“, sagt Jürgen. Bei den meisten Steinen ist noch die Anmerkung „Hier wohnte“ über dem Namen eingraviert, doch in Brüssows Fall wurde der Stein nicht an seinem letzten freiwillig gewählten Wohnort verlegt, sondern an seinem Schaffensort, dem Greifswalder Theater. Auf den Schauspieler, der 1940 inhaftiert und 1943 zwangskastriert wurde, ist Jürgen über eine Anfrage gestoßen. Der Mann, der ihn anfragte, stammte zwar von Rügen, doch dort für die vielen kleinen Dörfer jemanden zu finden, ist schwierig. Also weitete Jürgen die Suche aus, auf Stralsund, Wismar und Greifswald, und stieß schließlich auf Kurt Brüssow. Ein „Volltreffer“, nennt er den Fund, denn von Brüssow ist eine vollständige Akte von 30 bis 40 Seiten erhalten. Außerdem stößt er nach einer aufwendigen Reise durch verschiedene Einwohnermeldeämter schließlich sogar auf eine noch lebende Stiefenkeltochter, die fassungslos ist, als sie die Geschichte ihres Großvaters liest. Es folgen mehrere persönliche Treffen, lange Gespräche, der Austausch von Fotos und Erzählungen. „So kam eins zum anderen.“ Jürgen berichtet so lebendig von seinen Nachforschungen und den Treffen, als hätten sie erst gestern stattgefunden. „Zum Schluss war das eben eine Geschichte, die den ganzen Teil des Lebens umfasst, soweit man das sagen kann. Den Mann selbst kann ich natürlich leider nicht mehr interviewen, dafür kam ich dann sozusagen zu spät.“ Trotzdem, als er ein Bild Kurt Brüssows aus seiner Tasche holt, um es für ein Foto neben den Stein zu legen, sieht er es an, als hätte er den Schauspieler selbst gekannt.
Der nächste Stolperstein wird morgen in Wismar verlegt. Fritz Stein war Kulturbautechniker, als er nach einer Haftstrafe in das KZ Auschwitz verlegt wurde. Anders als Kurt Brüssow überlebte er die Gefangenschaft nicht, sondern starb bereits mit 38 Jahren an den erlittenen Torturen. Auf Fritz Stein stieß Jürgen durch das Buch „Erinnern in Auschwitz. Auch an sexuelle Minderheiten„. Dem „kleinen Mann mit der Brille“, wie Jürgen ihn nennt, waren nur vier Zeilen und ein Foto gewidmet, aber es war sein Geburtsort, der für Jürgen aus der Masse herausstach. Ein kleines Dorf, in dem er vor einiger Zeit bereits einen Stolperstein verlegte, und in dem aufgrund seiner geschlossenen, dörflichen Struktur noch immer Angehörige und sogar die Kinder der damaligen Denunziant*innen leben. Fritz Stein wählte jedoch Wismar zuletzt als Wohnort aus, also geht die Reise dorthin. Jürgen freut sich auf die Verlegung, denn er wird dabei auch den Neffen und die Großnichte Fritz Steins kennenlernen, mit denen er zuvor nur übers Telefon Kontakt hatte. Wie bei den meisten Opfern, zu denen er recherchiert hat, wussten die Angehörigen nichts vom wahren Grund der Verurteilung Fritz Steins. In der Familie wurde stattdessen behauptet, dass Stein ein Verhältnis mit einer Jüdin gehabt hätte. „Das war leichter offensichtlich als zu sagen ‚Er war schwul'“, erklärt Jürgen mit einem Schulterzucken. „Damit war er immerhin ein Straftäter.“ Bei der Verlegung möchte auch Steins Großnichte einige Worte an die Anwesenden richten, worauf sich Jürgen besonders freut. Obwohl er bereits einige Angehörige hat kennenlernen dürfen, ist das das erste Mal, erzählt er, dass jemand selbst etwas sagen möchte. Die meisten sind dafür viel zu überwältigt.
Wir stehen noch immer an den Säulen des Theatereingangs, schauen immer wieder zu dem Plakat der Burschenschaft auf der anderen Seite hinüber, scherzen über deren konservatives Weltbild, über Fußball und die katholische Kirche. Das Lachen ist befreiend, auch wenn es mit einem Wermutstropfen einhergeht, denn die Wahrheit tut weh. All das Verstecken, die Ausgrenzung und Verfolgung queerer Menschen, mit denen sich Jürgen in seiner Arbeit beschäftigt hat, sind eben nicht nur Relikte der Vergangenheit. Und gerade deshalb ist das Erinnern daran und an die Menschen, die auf diesem Leidensweg gegangen sind, auch heute noch so wichtig.
Als wir uns schließlich verabschieden, hat der Regen aufgehört, und zwischen einer dichten Wolkendecke lugt sogar die Sonne hervor. Einen Regenbogen gibt es nicht. Zumindest nicht am Himmel.
Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Verlegung eines Stolpersteins zur Würdigung von Fritz Stein
Wann? Mittwoch, dem 09.11.2022, um 11 Uhr
Wo? Wismar, Spiegelberg 54, vor dem dortigen Wohnhaus
Beitragsbilder: Julian Schlichtkrull