„Was sind eigentlich deine Neujahrsvorsätze für dieses Jahr?“, fragte mich ein Freund neulich interessiert, wenn auch etwas verspätet. Neujahrsvorsätze … Eigentlich habe ich so etwas nicht, weil ich sowieso schlecht im Planen bin und ohnehin nicht viel davon halte — wenn ich etwas tun will, dann tue ich es einfach, und zum Anfangen gibt es nie den einen perfekten Moment, außer vielleicht jetzt gleich. Aber dieses Jahr habe ich tatsächlich einen Vorsatz, zumindest so etwas ähnliches, denn kurz vor Weihnachten 2021 hat sich einiges für mich geändert, was ich in diesem Jahr weiterführen, ausbauen muss. Obwohl, wirklich geändert hat sich eigentlich nichts, die Dinge sind viel mehr an den Platz gefallen, auf den sie schon immer gehörten. Und damit lautet mein Neujahrsvorsatz für dieses Jahr: mit vollster schonungsloser Ehrlichkeit einfach ich sein.
Für einige mag das banal klingen, für andere wie die größte Unmöglichkeit der Welt. Mindestens dreizehn Jahre lang war ich auch eher von letzterem überzeugt. Seit ich in die Pubertät kam und mein Körper anfing, sich zu verändern. Seit ich merkte, dass diese Veränderungen einfach nicht zu dem passen, was ich fühle. Seit die Menschen um mich herum anfingen, alles und jede*n zu kategorisieren und sich die Kategorie, die sie für mich vorgesehen hatten, absolut nicht richtig anfühlte. Wie soll ich jemals wirklich ich sein können, wirklich glücklich werden, wenn mein Körper einfach nicht so ist, wie er sein soll? Und während ich hoffte, dass alles doch irgendwie noch „richtig“ wird, während ich versuchte, verschiedene Rollen zu spielen — Was ist mit dieser weiblichen Figur aus dieser einen Serie, die mag ich doch, vielleicht kann ich ja sein wie sie? — und immer wieder kläglich scheiterte, begriff ich, dass es vor allem eine Sache war, die mir die ganze Zeit zum Glücklichsein fehlte: Akzeptanz. Akzeptanz von anderen, mich anzunehmen wie ich wirklich bin. Aber auch Akzeptanz von mir selbst, dass es nicht notwendig ist, jemand anderes zu sein, sondern alles genauso richtig ist, wie es eben ist. Ich bin ein Junge. War es schon immer und werde es immer bleiben. Und das ist gut so.
Ich bin in einer der offensten Familien aufgewachsen, die man sich nur wünschen kann. Christliches Mindset, wie es eigentlich sein sollte: Uneingeschränkte Nächstenliebe, egal wem gegenüber. Als Kind lernte ich nicht, dass Kleider oder Spielzeuge oder Hobbys ein Geschlecht haben sollten. Ich war kein „Mädchen“, das mit „Jungsspielzeug“ spielte. Ich war einfach ich, das kleine Kind, das sich gerne als Pirat verkleidete oder Papa beim Schreinern half oder die Matchbox-Autos im ganzen Zimmer verteilte. Das Kind, das auch mal ein Kleidchen trug oder den Barbies die Haare kämmte oder heimlich in Mamas Hackenschuhe schlüpfte. Ich war ein Kind, das frei sein durfte, und jeden Tag davon genoss. Die Probleme begannen erst in der Pubertät, wenn so viele Probleme beginnen: Mobbing, Ausgrenzung, Selbsthass. Wenn Kinder einen Teil ihrer Kindlichkeit ablegen und zu kleinen Erwachsenen werden. Wenn sie anfangen, in die von der Gesellschaft vorgefertigten Schubladen einzuordnen und ausschließen, was nicht reinpassen will.
In der Schulzeit hielten sich die Probleme hauptsächlich in meinem eigenen Kopf auf, da ich auch hier das große Glück hatte von einem Freundeskreis umgeben zu sein, in dem alle „anders“ waren und gerade deshalb so sein durften, wie sie wollten. Eine kleine Gruppe von queeren Kids, die der Rest der Welt vielleicht manchmal nicht verstand, aber die sich gegenseitig verstanden. Das änderte aber nichts daran, dass die Gesellschaft immer näher rückte, und mit ihr der Wunsch dazuzugehören und sich einzufügen. Und ich fing an, an mir zu zweifeln und fragte mich, ob vielleicht nicht die Gesellschaft falsche Erwartungen von ihren Individuen hat, sondern ob ich es selbst als Individuum bin, das falsch ist. Mit zweiundzwanzig wurden für mich die Begriffe „nonbinär“ und „genderfluid“ relevant. Ich hatte schon vorher davon gehört, lernte aber erst hier jemanden kennen, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte wie ich. Ich lernte, dass das innere Gefühl über den eigenen Körper nichts mit dem Erscheinungsbild des eigentlichen Körpers zu tun haben muss — wie trans oder cis (also in der Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmend) jemand ist, hat nichts damit zu tun, wie „männlich“ oder „weiblich“ die Person aussieht. Ich tastete mich weiter vor, lernte, dass es mich schon ein Stück glücklicher macht, von mir selbst mit männlichen Begriffen zu sprechen. Eine heikle Angelegenheit, wenn dein Umfeld, bei dem du noch nicht out bist, es liebt zu gendern („Du bist Student? Meinst du nicht eher Studentin?“ — „Äh … Neee ..?“).
Aber ich lernte auch, dass es für mich kein dazwischen oder beides ist, sondern ein ausschließlich. Dass sich weibliche Begriffe zunehmend unangenehm anfühlten, dass ich nicht mehr wollte, dass Familie und Freund*innen von mir als „Frau“ denken, zu keinem Zeitpunkt. Dass es mir ein warmes, zufriedenes Gefühl im Bauch gab, wenn meine Schwester mich ihren „kleinen Bruder“ nannte, dass ich mich wohler fühlte in Kleidung, die meine Brüste und meine Hüfte verdeckte und dass ich den ganzen Tag mit einem Dauergrinsen durch die Gegend rannte, nachdem mich ein Kollege auf dem Bau als „Junge“ bezeichnete. Dann war da dieser Charakter in dieser einen Sendung, Theo, der die erste Staffel als Susie begann, und als ihn — pre-Outing — die blinde aber hellsehende Großmutter einer Freundin mit „Hübscher Junge!“ begrüßte, brach ich für Minuten in Tränen aus. Für mich war klar: Das will ich auch. Nein, das brauche ich auch. Ich muss endlich auch von anderen so gesehen werden, wie ich mich selbst sehe. Und so schrieb ich meinen Eltern am 16. Dezember 2021 auf dem Nachhauseweg eine Nachricht. „Hallo, Mama und Papa. Ich wollte euch gerade die ganze Zeit etwas sagen, aber wusste nicht wie, weil der Moment irgendwie nie gepasst hat und weil ich ganz dolle Angst davor habe und mein Herz geschlagen hat wie verrückt […] Obwohl ich hoffe, dass es eigentlich egal ist und dass ihr mich trotzdem immer lieb haben werdet, als euer Kind, das ich immer war und bleiben werde. Ich bin nicht eure Tochter. Weil ich keine Frau bin. Das war ich nie, auch wenn ich lange versucht habe, das zu ändern […]“
Und nur wenige Minuten später, während ich noch mit einer Panikattacke im Auto festsaß, leuchtete bereits mein Handy auf.
Papa: „Mein kleiner Julius (Caesar) klingt doch auch gut :-*“
So weit, so gut. Alle Probleme löst so ein Outing nicht. Um genau zu sein, wird sich der Haufen der Probleme danach vielleicht sogar noch tausend Mal größer anfühlen. Während man sich jahrelang mit den Fragen eines stagnierenden Zustandes beschäftigt hat, kommen jetzt plötzlich ganz neue, vorher unbekannte Fragen hinzu: Wie „weiblich“ darf ich jetzt noch sein, um es für andere und mich selbst möglichst leicht zu machen? Wie weit möchte ich gehen — für meine Eltern stand sofort fest, dass sie mich bei jedem Schritt unterstützen werden, aber welche Schritte genau möchte ich eigentlich gehen und wie schnell? Und der immer wiederkehrende nagende Zweifel: Bin ich mir wirklich sicher? Was, wenn ich mich geirrt habe?
Mir selbst half es, ein Tagebuch oder besser ein Gedankenbuch zu beginnen. Hier wandern alle Fragen und Zweifel und jedes Gefühl der Körperdysphorie rein, sobald sie auftreten. Hier kann ich beim Schreiben auch weiter reflektieren, meine Gedanken ungefiltert zu (digitalem) Papier bringen und mir dabei selbst viele Dinge bewusst machen. Bin ich mir sicher? Ja. Ich weiß, dass ich ein Junge bin, und das nicht erst seit gestern. Möchte ich meinen Körper angleichen? Ja, aber ich habe auch Angst vor den Folgen und Risiken, und das ist okay, und die Akzeptanz durch mein Umfeld hilft ungemein, meinen Körper weniger als störend wahrzunehmen.
Warum jetzt eigentlich dieser ganze Artikel? Um Mut zu machen. Mut, zu sich selbst zu stehen und sich selbst so zu lieben, wie man ist. Denn so viele Fragen und Zweifel nach dem Outing auch dazukommen, so wohltuend ist es doch jedes einzelne Mal, den richtigen Namen zu hören, mit den richtigen Pronomen angesprochen zu werden, zu wissen, dass man verstanden und angenommen wird, so wie man ist. Gleichzeitig soll dies kein allgemeiner Aufruf zum sofortigen Outing sein. Ich bin mir bewusst, dass ich mich durch mein Umfeld in einer unfassbar privilegierten Situation befinde, und dass ein Outing für viele nicht sicher ist. Aber Akzeptanz kann nicht nur von außen helfen. Mindestens genauso wichtig ist die eigene Akzeptanz: Sich selbst bewusst zu machen, wer man eigentlich ist, Geschichten anderer zu hören, denen es ähnlich geht, zu erkennen, dass man nicht allein und nicht „verkehrt“ ist und sich nicht ändern muss. Und dieser Artikel soll Mut machen, über das Thema zu sprechen und den Diskurs über Trans-Identitäten und Queerness weiter in die Öffentlichkeit zu rücken, in der er noch immer viel zu sehr gemieden wird, obwohl nur so mehr allgemeines Wissen und Verständnis geschaffen werden kann. Und mit diesem Verständnis — so klischeehaft das auch klingen mag — wird es irgendwann besser. Ganz bestimmt.
Anlaufstellen
in Greifswald:
Aktionsbündnis Queer in Greifswald e.V. (E-Mail: Kontakt@Queer-HGW.de)
Qube — queere Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit in MV (31. März 2022, 16:30 bis 18:30 Uhr: Gesprächsrunde bei Kaffee und Kuchen „tin* Tratsch für trans*, inter*, nicht-binäre Menschen“ in der STRAZE)
Antidiskriminierungsstelle der Uni Greifswald (Telefon: +49 3834 420 3491, E-Mail: antidiskriminierung@uni-greifswald.de; auf der Webseite findet ihr auch Informationen darüber, wie ihr euer Geschlecht und euren Namen in den Stammdaten der Universität ändern könnt)
Gender Trouble AG der Studierendenschaft (E-Mail: gendertroubleag@gmail.com)
Psychologische Beratung des Studierendenwerkes (E-Mail: beratung@stw-greifswald.de)
AStA-Referat für soziale Aspekte und Gleichstellung
Nightline Greifswald
deutschlandweit:
Gendertreff-Forum
Telefonseelsorge (dauerhaft erreichbar; Telefon: 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222, oder unter diesem Link per Mail und Chat)
Info-Telefon Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe (Telefon: 0800 3344533, Sprechzeiten: Mo, Di, Do: 13:00 bis 17:00 Uhr sowie Mi, Fr: 08:30 bis 12:30 Uhr)
Krisenchat (für alle unter 25 Jahren)
Beitragsbild: Alina Dallmann
Ich finde es toll, dass du deine Geschichte so offen erzählst. Es gibt denen Mut, die ähnliches durchmachen und es schafft Verständnis und Akzeptanz bei denjenigen, die sich nicht vorstellen können wie es ist, in einem Körper zu stecken, der nicht wirklich zu einem passt.
Ich hoffe du findest einen Weg, der dich mit deinem Körper ins Reine bringt.
Und falls du mal Bekanntschaft mit irgendwelchen zurückgebliebenen Vollidioten machst, die dich nicht so akzeptieren wie du bist, dann hast du jetzt ganz offiziell meine Erlaubnis, sie zu boxen.
Vielen Dank für deinen Kommentar! Es freut mich, wenn der Text zumindest ein Stück weit da helfen kann, wo er gebraucht wird.
Und auf deine Erlaubniserteilung werde ich ganz bestimmt zurückkommen, wenn ich wegen Idioten-Boxen die erste Strafanzeige am Hals hab 😉