Jedes Semester bietet der Lehrstuhl von Herrn Dr. Fahl Studierenden die Möglichkeit, unterschiedliche Gedenkstätten des Holocausts zu besuchen und sich dahingehend anhand eines Referats mit verschiedenen Thematiken dem Thema zu nähern. Auch im Wintersemester war es wieder soweit und die Fahrt ging dieses Mal nach Auschwitz. In diesem Artikel versuche ich, Dir meine Eindrücke ein wenig zu schildern…
Auschwitz war nicht die erste Gedenkstätte, die ich besuche. Mein erster Gedenkstättenbesuch ging in der 8. Klasse nach Bergen-Belsen. Das ist das Konzentrationslager, in dem Anne Frank und ihre Schwester den Tod fanden. Mittlerweile studiere ich Geschichte und hatte so die Möglichkeit, auch nach Theresienstadt zu kommen. Wenige Monate vor Auschwitz war ich in Ravensbrück. Ich kann Dir sagen, dass jede Gedenkstätte komplett unterschiedlich ist. Nicht nur in ihrer historischen Aufarbeitung.
Auschwitz jedoch ist etwas diametral anderes. Alleine der Name ,,Auschwitz‘‘ steht in der deutschen und internationalen Erinnerungskultur stellvertretend für alle Konzentrationslager, in denen die Nazis Menschen systematisch ermordeten. Viele werden das Bild von dem Tor vor Augen haben und den Schienen, welche für über eine Million Menschen in Auschwitz in den Tod führten.
Ich kann bei mir nicht davon sprechen, dass die vergangenen Besuche in Gedenkstätten und die wissenschaftliche Auseinandersetzung im Geschichtsstudium mich ,,abgehärtet‘‘ hätten. Das Erlebte brannte sich in mein Gedächtnis.
Es war nicht die Auseinandersetzung mit dem Unvorstellbaren, sondern mit dem Elementarsten. Nach Auschwitz gibt es kein einfaches Weiterleben. Adorno schrieb einmal: ,,Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“. Ich füge hinzu: Nach Auschwitz weiter dahin zu leben ist unmöglich. Es gibt kein ,,normales‘‘ Weiterleben. Denn als Mensch in der Menschwerdung steht am Ende die Frage um gut oder schlecht. Handelst du menschlich, also gut, oder unmenschlich, also schlecht. Du entscheidest, ob Du ein Barbar bist. Es war eine bewusste Entscheidung, den Pfad der Menschlichkeit zu verlassen, begründet mit einer menschenverachtenden Ideologie, die das deutsche ,,Volk “ und die deutsche Nation über alle anderen Menschen stellte.
Der Wunsch, schnell zurück zur ,,Normalität‘‘ zu kehren, ist ein privilegierter, deutscher Wunsch. Wie sollten die Menschen nach ihren Erfahrungen, die sie in den Konzentrationslagern machten, aber auch schon in den Jahren zuvor, durch die schrittweise durchgeführte Entrechtung und dem grassierenden Antisemitismus zurück zur ,,Normalität‘‘ finden? Nicht einmal der elende Hunger konnte gestillt werden. Ihre Körper waren durch die jahrelange Unterernährung so destabilisiert, dass viele Menschen schlichtweg körperlich mit einer normalen Nahrungsaufnahme überfordert waren und daran starben. Wie sollte ,,Normalität‘‘ einkehren, wenn die Mitverantwortlichen wieder in hohen Positionen waren? Henker und Richter waren oft eine Person. Mit dem Selbstmord von Hitler verschwand die menschenverachtende Gesinnung nicht. Es stellte sich das Narrativ ,,Wir haben von Nichts gewusst‘‘ ein, um schnell zur ,,Normalität“ zurückzugelangen und das Schweigen begann. Schweigen als stärkste Form der Ablehnung und Gleichgültigkeit.
Der Glaube, dass die Menschheit heute in irgendeiner Weise zivilisierter oder besser wäre, ist ein naiver Glaube. Aktuelle Beispiele aus der ganzen Welt widerlegen diese Ansicht. Utøya, Christchurch, Hanau rufen Erinnerungen in unserem Gedächtnis hoch. Wenn Menschen sich fast schon ritualartig an den Gedenktagen versammeln, um gemeinsam für ein ,,Nie wieder!‘‘ einzustehen, dann hat das einen gewissen Zynismus für viele Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind. (Mehr zur Frage nach einer aktuellen Erinnerungskultur in den Literaturhinweisen findest du hier). Ich glaube zu wenige von denen, die da stehen und ,,Nie Wieder!‘‘ sagen, tun aktiv an den restlichen Tagen des Jahres etwas gegen Rassismus, Antisemitismus und die anderen Formen von Menschenverachtung. Das ,,Nie Wieder!‘‘ ist auch zynisch, da man sich fragen kann, wie weit es denn noch kommen muss. Antisemitismus ist für die meisten jüdischen Menschen Alltag. Das ,,Nie Wieder!‘‘ ist leider ein ,,Immer noch‘‘. Antisemitismus hat eine Kontinuität. Was tust Du gegen menschenverachtende Ansichten?
Ein Haus im Stammlager war historisch neu aufgearbeitet. Es packte mich sofort. Im Eingangsbereich wurden unter dem Gesang von Kindern hebräische Schriften an die Wand projiziert. Im nächsten Raum waren Filmausschnitte aus privaten Filmaufnahmen von jüdischen Familien und dem alltäglichen Stadtleben zu sehen. Menschen, die in der Stadt einkauften, Liebe fanden und Familien gründeten. Menschen, die glücklich waren und eine Zukunft sahen. Menschen, denen wenige Monate oder Jahre später all das genommen wurde. Im ersten Geschoss des Gebäudes waren dann Filmausschnitte aus den Reden von Hitler zu sehen. Versehen mit Untertiteln und in verschiedene Sprachen übersetzt, während wir diese Übersetzungen nicht brauchten, denn deutsch war die Sprache der Täter.
Am späten Nachmittag wurden immer Vorträge von Studierenden gehalten. Die meisten waren juristischer Natur, aber für mich als angehende Historikerin sehr interessant, da die Denkweise dann doch eine andere ist. Ohne das negativ zu meinen. Durch die Referate kamen wir auch darauf zu sprechen, dass es ja heute noch vereinzelt sehr alte Menschen gibt, die juristisch für ihre damaligen Taten belangt werden. Eine Frage, an der sich die Geister scheiden. Aber warum sollte man alte Menschen nicht verurteilen? Es gibt kein Gesetz, welches besagt, dass man ab dem Alter X nicht mehr bestraft werden darf. Meine Ansicht ist da eine klare. Wer Unrecht begangen hat, muss bestraft werden. Die Opfer haben keine Freiheit erfahren. Selbst wenn sie überlebt haben, haben sie ein Leben lang damit zu kämpfen. Die Täter*innen jedoch haben Jahrzehnte in deutscher Normalität gelebt. Gearbeitet und Familien gegründet, als wäre nichts gewesen. Eine Verurteilung zeigt den Opfern, dass sie einmal Recht erfahren. Von Gerechtigkeit an dieser Stelle zu sprechen, wäre übertrieben. Nicht einmal heutzutage werden deshalb viele antisemitische Vorfälle zur Anzeige gebracht und wenn doch kommt es zu oft nicht zu einem Urteil. (Ein Berliner Restaurantbesitzer berichtet hier). Gibt es eine angemessene Rechtsprechung im Land der Täter*innen?
In Polen war das Wetter zu der Zeit ziemlich verregnet. An dem Tag als wir Auschwitz-Birkenau besuchten, strahlte jedoch die Sonne. Es waren surreale Stunden auf dem Gelände. In meiner Vorstellung war Auschwitz-Birkenau immer grau und matschig. Nun war es ungewöhnlich warm für Polen in dieser Jahreszeit und die Wiesen des Geländes waren mit saftigem, grünem Gras bedeckt. Die Baracken sahen aus, als wenn sie gerade erst verlassen wurden. Eine dieser Baracken fungierte als Schule. Eine bunte Zeichnung an der Wand zeugt von der Bereitschaft der Menschen, im Lager für die Kinder eine alltägliche Atmosphäre zu schaffen. Sie auf ein Leben danach vorzubereiten. Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Wenn heutzutage in der Schule die Ermordung der Jüd*innen und der Nationalsozialismus thematisiert wird, dann besteht der Fehler oft schon darin, dass man jüdische Menschen dabei nicht zu Wort kommen lässt. Die wenigsten werden Holocaustüberlebende einladen oder Nachfahr*innen dieser. Gelehrt wird aus der Perspektive der Täter*innen. Das Bild ist unvollständig. Das hat auch damit zu tun, dass man als nicht-jüdischer Mensch nie ganz nachvollziehen werden kann wie es ist, jüdisch und damit leider nahezu täglich Antisemitismus ausgesetzt zu sein. Und zwar von allen Seiten. Links wie rechts und aus den unterschiedlichsten religiösen Richtungen. Sitzt man als jüdische*r Schüler*in in einer Klasse, so kommt es nicht selten dazu, dass die Lehrkraft einen fragt: ,,Du kannst uns doch sicherlich davon erzählen. Wie war das bei deinen Großeltern?‘‘ Aber was ist, wenn man darüber einfach nicht sprechen möchte? Solche Fragen implizieren einen unterschwelligen Antisemitismus. (Eine Erfahrung wird hier geschildert). Die fragenstellende Person geht davon aus, dass jüdische Menschen Expert*innen auf dem Gebiet sein müssen. Können oder wollen jüdische Menschen nicht antworten, so kommt es zur Irritation. Es ist ja schließlich ,,die‘‘ Geschichte ,,der‘‘ Jüd*innen. ,,Du Jude!“ wurde schon zur meiner Schulzeit als Schimpfwort benutzt. (Dr. Julia Bernstein zur ihrer Studie über Antisemitismus an deutschen Schulen siehst du hier). Warum ist es schlecht, jüdisch zu sein und fungiert deshalb als Schimpfwort?
Nach Auschwitz-Birkenau lagen wir noch lange wach im Bett und haben uns unterhalten. Es hat uns nachhaltig verändert. Ich bin noch kritischer geworden und das soll auch dieser Artikel widergeben. Die Stellen, die Du hinterfragst, sollen dich zum Nachdenken anregen. Denn weißt Du, man kann so viel nach Auschwitz schreiben und hat trotzdem nichts gesagt.
Literaturempfehlungen:
Czollek, Max, Desintegriert euch!, München 2018.
Jureit, Ulrike/ Schneider, Christian, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010.
Salzborn, Samuel, Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Berlin/Leipzig 2020.
Über Antisemitismus im akademischen Milieu: https://www.youtube.com/watch?v=6QMARCGHesk
So fühlen junge jüdische Menschen in Deutschland: https://www.youtube.com/watch?v=T5OV4XR3u-A
https://www.youtube.com/watch?v=JkXi038KjQo
Beitragsbild: Ada Berg