EU-Wahlen in einem Land, das die EU schon längst verlassen wollte. Heute sind die Wahlen zum Europäischen Parlament u.a. in Großbritannien. Ein geteiltes Land. Der Chef der Brexit-Partei bekommt einen Milkshake ab, das Parlament soll über ein zweites Referendum entscheiden und jeden Tag sind Demonstrationen vor dem Britischen Parlament in London.
Diese Demonstrationen habe ich mir mal genauer angeschaut. Es sind keine Riesenaufmärsche mehr wie vor zwei Monaten. Es sind kleine Demonstrationen mit 10-15 Personen pro Seite, wenn überhaupt. Meistens am Nachmittag, so bis 16-17 Uhr. Es stehen sich die Pro-Brexit-, auch Brexiteer und die Anti-Brexit-Vertreter*innen, auch Remainers genannt, gegenüber oder neben einander. Sie unterscheiden sich sehr offensichtlich: die einen mit EU-Flaggen, die anderen mit „Vote Brexit-Party“-Schildern. Die Demonstrierenden sind ein beliebtes Fotomotiv bei den zahlreichen Touris, die am Parlament vorbeiströmen. Und das genießen beide Seiten. Sie lassen sich gerne fotografieren und posieren mit ihren Schildern.
Beide sind vor dem Parlament, um der britischen Regierung zu sagen, dass sie die Politik furchtbar finden. Die einen wollen den Brexit endlich durchhaben, die anderen wollen diesen noch aufhalten. Gerne motzen sie sich dabei auch mal gegenseitig an.
Aber wie stehen die Pro- und Anti-Brexit Seite zur EU-Wahl?
Ich habe jeweils eine Vertreterin der zwei Seiten gefragt. Diese „Umfrage“ ist nicht repräsentativ. Die Antworten geben aber zumindest einen kleinen Einblick in die verschiedenen Meinungen zur EU-Wahl. Und schließlich stehen sie vor dem Parlament, um gehört zu werden, also warum nicht mal fragen?
Wählen gehen
Am wichtigsten: beide werden heute wählen gehen. Beide glauben an die Demokratie. Beide wollen mehr Demokratie, die in ihrem eigenen Land nicht existiere. Die Vertreterin der Remainer sagt klar, dass sie die Green Party wählen wird, die sich u.a. für ein zweites Referendum und ein Bleiben in der EU stark machen wollen. Sie verstehe nicht, warum das Parlament überhaupt für etwas kämpfe, das sie nicht wollen. Vor allem müssen sie nicht, da das Referendum nicht zwingend gewesen sei. Sie hofft darauf, dass mehr junge Leute zur EU-Wahl gehen als zum Referendum. Diese Hoffnung hat sie noch, andererseits stünde sie nicht hier, sagt sie.
Die Vertreterin der Brexiteer sagt ehrlich, dass es eine missliche Lage ist, an der EU-Wahl teilzunehmen. Laut ihr ist Großbritannien schon seit dem 29. März aus der EU ausgetreten. Sie wird trotzdem wählen, die Brexit-Party und diese werde auch gewinnen. Sie kritisiert die Premierministerin Theresa May klar. Diese trete nicht für den Willen der Bevölkerung, die Demokratie, ein, denn sie sei ein Remainer. Die Brexit-Bewegung solle sich voran bewegen und wählen gehen.
Choose Your Future Or Somebody Else Will
Diese beiden Seiten rufen also klar zur Wahl auf. Genau so wird auch Werbung an Londoner Bushaltestellen und in den Underground-Stationen gemacht. Mit dem Zitat: „Choose your future or somebody else will“ wird die Bevölkerung zur Wahl zum Europaparlament aufgerufen. Sehr dezent, aber trotzdem treffend.
Andere Stimmen kommen von der sogenannten Left Leave-Bewegung, die zum Boykott der EU-Wahl aufrufen. Denn jede Stimme bei der EU-Wahl sei eine Stimme für die EU. Und das sei nach dem Referendum demokratisch nicht mehr vertretbar. Eine Gruppe ist die Young Communist League, die grob gesagt, die EU für Arbeiter feindlich und Firmen bevorzugend sieht. Dazu konnte ich aber leider niemanden befragen.
EU-Wahl als Chance
Die EU-Wahl wird von den beiden Befragten also irgendwie doch als Chance gesehen. Sie wollen wählen, um ihrer Haltung gegenüber der EU Ausdruck zu verleihen. Ich bleibe auf jeden Fall gespannt, wie die Wahlbeteiligung in Großbritannien ausfallen wird. Es bleibt spannend, ob mehr junge Menschen an den Wahlen teilnehmen als am Referendum. Und wird die Brexit-Partei gewinnen, wie es Prognosen schon voraussagen? Das erfahren wir leider erst frühestens Sonntagabend, wenn die Auszählungen der kompletten EU-Wahl anfangen.
Nichtsdestotrotz will ich an dieser Stelle die Londoner U-Bahn zitieren: Wählt Eure Zukunft selbst, sonst tut es jemand anders!
Beitragsbilder: Leo Wegener