In Stralsund entsteht zwischen Brauerei und JVA ein besonderes Projekt: selbstverwaltete, alternative (Jugend)Kultur, die sowohl der neoliberalen Stadtpolitik als auch dem demographischen Wandel trotzen will.


Bei Frühsommerlichen Temperaturen und mit einigen Kaltgetränken bewaffnet, setzen wir uns mit dem Auto von Greifswald aus in Bewegung Richtung Stralsund. Ein Open-Air-Konzert in den Außenbezirken der Hansestadt wartet – das hat man nicht alle Tage. Einen kleinen Schlenker vorbei an der Brauerei und einer Kleingartenanlage, dann geht es direkt auf die JVA zu. Am Straßenrand stehen Autos aus den unterschiedlichsten Ecken Mecklenburg-Vorpommerns. Rechts von uns türmen sich die Gefängnismauern und Zäune auf, links von uns liegt mitten im Grünen die Villa Kalkbrennerei. Wir parken unser Auto, gehen einige Meter zum Einlass und werden freundlich empfangen. Es ist noch nicht viel los, das erlaubt uns ein wenig über das Gelände zu ströpen. Vorbei an einer kleinen Baustelle, fällt der Blick sofort auf den großen, offenen und in Abendsonne getränkten Hof. Unter dem Balkon findet sich eine Bar mit abwechslungsreicher Getränkeauswahl, daneben direkt das Merch der drei angereisten Bands. Wenige Meter dahinter folgt die, in D.I.Y.-Manier aus Paletten zusammengebaute Bühne. Mit der Aufschrift „Zur Platte“ prangt ein kleines Schild über der angebrachten Antifa-Fahne. Ein Stückchen weiter hinten findet sich noch eine Feuertonne. Doch im Moment suchen sich die meisten noch ein schönes Fleckchen im Grünen, um die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Während immer mehr Leute eintreffen, machen wir es uns ebenfalls gemütlich, lassen unsere Blicke über das Gelände streifen und stellen uns vor wie es hier wohl in Zukunft weitergeht.

Aufruhr und Umbruch

Was da am Stadtrand der Hansestadt Stralsund keimt, ist das Produkt jahrelanger Verdrängung von Jugendkultur und neoliberaler Immobilienpolitik. Infolge dessen verlassen viele Jugendliche nach dem Schulabschluss Stralsund, um entweder in Greifswald oder Rostock unterzukommen, oder sich komplett aus MV zurückzuziehen. Bis vor fünf Jahren gab es noch den Speicher am Katharinenberg, welcher als Treffpunkt und Veranstaltungsort diente. Als dieser Geschichte war, wurde das sogenannte „Ostkreuz“, eine simple Freifläche in der Stralsunder Innenstadt, zum Treffpunkt erklärt. Hier zeigte sich bereits, dass es den meisten einfach nur um einen gemeinsamen Ort ging, um sich auszutauschen und die Freizeit sinnvoll zu gestalten. Mit der „Skarage“ gab es dann alsbald den ersehnten Freiraum. Doch die Freude hielt nur kurz, da auch diese Location, diesmal durch einen Brandanschlag von Neonazis, verloren ging. Seitdem lief die Suche unaufhörlich.
2012 gründete sich dann der „Verein zur Förderung alternativer Jugendkultur in Stralsund (Ajuku e.V.)“.
Vermutlich aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft der städtischen Wohnungsgenossenschaften sah man sich gezwungen auf eigene Faust nach potenziellen Objekten zu suchen. Nach einiger Zeit wurde man fündig und es fehlten nur noch die  Formalia, bis das ganze Projekt aufgrund fehlender Zustimmung verschiedener Anlieger vor Ort schließlich doch scheiterte. Man war in einer Sackgasse. Recht überraschend gab sich dann jedoch vor knapp drei Jahren eine Lösung. So arbeitet man seit 2016 gemeinsam mit Vincenz Kurze an der Villa Kalkbrennerei, welche der bildende Künstler zuvor kaufte. Ende 2016 präsentierte man mit einem Eröffnungskonzert die Location der Öffentlichkeit und konnte viele Menschen für die Idee begeistern. Ob Kleidertausch oder Baueinsatz, Techno-Party oder Kunstperformance – die Villa bietet Raum für alle Stilrichtungen und viele Möglichkeiten zum Mitgestalten. Dieses Angebot soll zukünftig noch weiter ausgebaut werden.

 

„Usedom und Gomorrha“

Langsam scheint sich im Umfeld der Bühne etwas zu tun.  Mittlerweile ist der Hof gut gefüllt und Piefke, die erste Band des Abends, stellen sich auf. Deutschpunk aus Leipzig ist hier das Programm und geht nach vorne. Auch wenn die Stimmung gut ist, das Publikum bleibt vergleichsweise entspannt und genießt die Musik. Das dürfte insbesondere daran liegen, dass Vodka Revolte als zweite Band des Abends und lokale Sprösslinge schon vor dem ersten Lied gefeiert wird. Bald schon erhellen die ersten Bengalos die Umgebung und Rauchtöpfe kleiden die Bühne in rote Wolken. Auch eine gerissene Saite des Gitarristen kann die Stimmung nicht kippen. Der Textsicherheit des Publikums sei Dank. Im Getümmel schafft eine der beiden anderen Bands Abhilfe und es geht weiter. Von den Wänden der JVA schallen die Refrains zurück und Vodka Revolte bringen die Menge mit kompromisslosem Punk zum Kochen. Während der Umbaupause zieht es uns an die Feuertonne. Man kommt schnell ins Gespräch und hat nicht das Gefühl, dass sich hier irgendjemand fremd ist. Im Schein der, zwischen Bäumen gespannten Lichterketten machen sich Kaput Krauts, die Headliner des Abends, bereit. Nun gibt es kein Halten mehr, es wird mitgesungen und geschrien was das Zeug hält und kein Song vergeht ohne Pyro.

Wir lösen uns aus der Masse und sind überrascht: sowohl an der Feuertonne, als auch an der Bar und am Einlass findet man immer wieder Leute zum schnacken und in persönlichen Gesprächen wird es einem klar: dieser Ort ist in Stralsund etwas ganz Besonderes und trotzdem total normal. Normal, wenn man ein breites, alternatives Kulturangebot, wie z.B. in Greifswald und Rostock gewöhnt ist. Normal, weil hier alles wie eingespielt wirkt, gut organisiert ist und untereinander eine entspannte Atmosphäre herrscht. Aber eben auch ganz besonders, wenn man die Geschichte von Ajuku und der vielen StralsunderInnen kennt, die sich seit jeher für ein solches Projekt eingesetzt haben und letztlich oft enttäuscht wurden. Insbesondere für die Exil-StralsunderInnen, die oftmals auch heute noch von außerhalb aktiv sind, dürfte es etwas ganz Besonderes sein, dieses Projekt wachsen zu sehen und zu wissen, dass all die Anstrengungen des letzten Jahrzehnts nicht umsonst waren.

Für mehr Disteln im Beton

Es stehen noch viele Baueinsätze, Investitionen und Anstrengungen an, bei denen man sich gerne finanziell oder vor Ort mit einbringen kann. Im Fokus steht aktuell den Bestand des Hauses weiter zu sicher und wieder in Schuss zu bringen. Es soll so viel alte Bausubstanz erhalten werden, wie es möglich ist. Nach den ersten zwei Jahren scheint sich das Team ganz gut eingearbeitet zu haben, bleibt abzuwarten ob man auf lange Sicht seine gesteckten Ziele erreichen kann. Ob Spende, helfende Hand oder Veranstaltungsbesuch und der Kauf einer Brause vor Ort – auch wir können kleine, lokale Projekte vor Ort direkt unterstützen. Egal wie, denn Kleinvieh macht auch Mist. Denn der viel beschriebenen Tristesse der ländlichen Gegenden setzen Projekte wie die Villa Kalkbrennerei oder der Demokratiebahnhof Anklam ein buntes Angebot entgegen. Der Ajuku e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, alternativer Jugendkultur in Stralsund einen Raum zu geben, den wiederum die Villa Kalkbrennerei bietet. Mit der Vernetzung von jung und alt möchte man eine breitengesellschaftliche Wirkung erzielen und möglichst diverse Angebote für alle schaffen. Wo Jugendprogramme zusammengekürzt werden und die Verwertbarkeit im Vordergrund steht, sind diese D.I.Y.-Projekte ein enorm wichtiges Zeichen und machen vielleicht dem ein oder anderen Mut, doch in der Region zu bleiben.

Fotos: Ole Kracht