Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner
Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt.
Er mustert mich mit zusammengekniffenen Augen und dann, als er den Lutscher tatsächlich entgegennimmt, entfährt ihm sogar ein leises Lachen. Der Grinch hat inzwischen die Augen geschlossen und hört seine eigene Musik. Ich werde, obwohl ich eigentlich müde bin, immer aufgekratzter, je näher ich der Heimat komme. Es muss die Vorfreude sein und dieses Gefühl nach Hause zu kommen. Vielleicht kann ich ja noch ein wenig arbeiten und die Zeit sinnvoll nutzen, denke ich, packe meinen Computer aus und fahre ihn hoch.
Grundsätzlich geht das bei mir schief, aber man kann es ja mal probieren. Der gute Wille zählt. Bis endlich der Startbildschirm erscheint, schaue ich gedankenverloren durch die Gegend. Mein Blick kreuzt den eines weiteren Fahrgastes, der mir gegenüber in dem anderen Vierer sitzt. Etwas länger als gewöhnlich schauen wir uns in die Augen, bevor wir beide wieder unsere Blicke abwenden. So etwas passiert häufig und dennoch denke ich darüber nach, warum das gerade passiert ist. Mein Computer ist immer noch schwarz, ungeduldig schaue ich auf die Uhr. Entnervt verdrehe ich die Augen und halte den An- und Ausschaltknopf so lange gedrückt, bis das schwarz noch schwärzer wird, ein Klicken ertönt und der Computer erfolgreich abgewürgt wieder schläft. Also auf’s Neue. Warum das so häufig in letzter Zeit passiert, weiß ich nicht, komisch – aber nun gut, so lange der Trick funktioniert und er wieder angeht, werde ich mich nicht weiter beklagen.
Ich gebe mein Passwort ein und endlich erscheint der Startbildschirm. Ich öffne den Ordner, in dem ich die PDF-Dateien zu den Vorlesungen abspeichere. Ich öffne eine davon und beginne die Folien durchzulesen und mir nebenbei Notizen zu machen. Doch weit komme ich nicht. Mein Computer informiert mich freundlich, dass der Akkustand sehr niedrig ist und stürzt dann ungefragt wieder ab – so ein Arsch. Entnervt packe ich die Sachen wieder weg, verschränke meine Arme auf dem Tisch und lasse meinen Kopf darauf sinken.
Ein Prickeln in meinem Hals. Als ich aufsehe, starre ich wieder direkt in die Augen meines Gegenübers. Ich bin so perplex, dass ich nicht einmal mehr auf die Idee komme, einfach den Kopf zur Seite zu drehen und zum Fenster hinaus zu schauen. Die Situation ist echt creapy – so würde meine Mitbewohnerin sagen.
Das Vibrieren meines Handys in der Hosentasche lenkt mich ab. Ich befreie es und nehme den Anruf entgegen.
„Holaaaaaaaaaa!“ Es ist meine große Schwester. „Hey, was machst du?!“ „Dich anrufen, was denn sonst?“, flankt sie sofort zurück. Dabei bin ich noch kein bisschen fies zu ihr gewesen.
„Just und ich sind gerade in der Stadt. Können wir uns diesmal auf ein Geschenk für Mama einigen, ohne, dass wieder Grabenkämpfe geführt werden müssen?!“ „Da unterhälst du dich wohl besser mit Just als mit mir. Und ehrlich gesagt, will ich das nicht schon wieder ausdiskutieren. Wo steckt der eigentlich, dass du mit mir telefonieren kannst?“ „Er hat im Parkhaus eine aus seiner Stufe getroffen und meinte zu mir, dass wir uns in einer halben Stunde vorm Wall treffen. Das bisschen Privatsphäre hab ich ihm dann doch gegönnt.“
„Unser kleiner Bruder hat eine Flamme?! Da muss ich ihn doch nachher direkt ausquetschen.“ Beim Blick aus dem Fenster sehe ich die Alte Mühle am Fenster vorbei ziehen, da haben wir immer unsere Klassenausflüge hin gemacht. Also nicht zur Mühle, aber zum Freilichtmuseum, in dem sie steht. Das fanden alle unsere Lehrer wahnsinnig toll. In der Grundschule filzen und backen, später Lehmhütte bauen oder Äcker bestellen, wie im 16. Jahrhundert. Nichts wurde ausgelassen.
„Hüte dich, sonst weiß er, dass ich mich verplappert habe. Ich musste ihm vorher schwören, dass ich es keinem sage.“ „Du lässt dich doch nicht ernsthaft von deinem neunzehn jährigen kleinen Bruder unter Druck setzten?“ „Neeiin.“ Meine Schwester war schon wieder völlig entnervt. „Raucht er immer noch?“, frage ich sie weiter, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich weiterhin genervt fühlt. Aber manchmal habe ich einfach das Gefühl, von uns dreien bin ich das Kind unserer Eltern, das das bessere große Geschwisterkind abgegeben hätte. Wider Erwarten ist meine Schwester nicht genervt, sie klingt eher besorgt.
„Justus nimmt im Moment nichts ernst. Weder Mama noch Papa. Von Lehrern ganz zu schweigen. Zum Training geht er auch nicht mehr, ist ihm zu uncool. Ich weiß nicht, wie er da in drei Monaten sein Abi schreiben soll, mit dieser Einstellung wird das nichts. Und diesmal kann er nicht einfach sagen ‚ich drehe ’ne Ehrenrunde‘ und seinen Kopf damit aus der Schlinge ziehen. Ob er raucht, weiß ich nicht, bei mir schaltet er auch immer auf Durchzug. Du musst in diesen zwei Wochen echt versuchen, an ihn heranzukommen. Du bist, gelinde gesagt, unsere einzige Hoffnung im Moment und, sind wir mal ehrlich, zu dir hatte er immer den besten Draht.“ Oh man, das werden wieder lustige Weihnachten, was da schon wieder alles brodelt.
„Aber zurück zu den Geschenken“,reißt mich meine Schwester nun aus den Gedanken, „hast du besondere Vorstellungen?“ „Also wir hatten da doch schon die ein bis zwei Sachen überlegt, die ich dir auch geschickt hatte. Und ganz ehrlich, ich verlass mich da auf dich. Du hast immer einen guten Geschenkeriecher.“ „Alles klar, wie jedes Jahr bist du eine wahnsinnige Hilfe.“ „Jederzeit!“, gebe ich nun zurück. „Bis später!“ „Bis nachher, und lass Justus keinen Scheiß bauen!“, verabschiede ich mich. Ich lege auf, verstaue mein Handy wieder in der Hosentasche und freue mich aus dem Fenster blickend noch mehr auf zu Hause als zuvor schon.
Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz