Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Ob mir der Geruch von Rose wohl als erstes in die Nase kommen wird? Während ich so über Gerüche und Erinnerungen nachdenke, klingelt ein Telefon. Dieser typische Apple-Sound. Ich schaue mich verwundert um, wo kommt das denn her?

Der Mann, der mir gegenüber sitzt, zieht ein nagelneues iPhone aus der Jackentasche. Mit einer Wischbewegung entsperrt er es und nimmt den Anruf entgegen. „Hey Andreas!“ Ich stutze. Hat er das gerade mit englischem Slang gesagt?

Da ich ihn eine Stunde zuvor mit einer Schaffnerin über den Hotspot im Zug hab diskutieren hören, weiß ich, dass er gut Deutsch spricht. Gut, warum soll er nicht auch Englisch sprechen können? Überraschen tut es mich dennoch, als er mit seinen nächsten Worten den Beweis liefert: „I’ll see if I can find another translation, but it might take some time.“

Irgendein geschäftliches Gespräch. Der Mann war schon die ganze Zeit emsig damit beschäftigt gewesen irgendetwas in seinen Mac zu tippen. Er überrascht mich schon die ganze Zeit. Als er in den Zug einstieg, kam ich nicht umhin zu schmunzeln. Ein ganz eigener Typ: Bergstiefel. Arbeitshose mit Farbklecksen. Ein Pullover aus Bärenfell-Kuscheloptik-Stoff. Marine blaue Strickmütze. Mit seinen langen, lockigen, zum Zopf zusammen gebundenen Haaren und dem langen Rauschebart hat er etwas von einem verschrobenen Wikinger. Und was packt dieser Mann dann aus!?

Als erstes seinen Mac, in silber mit türkis-farbener Schutzhülle. Dann führt er fünf Minuten ein Gespräch mit einer der Schaffnerinnen darüber, warum der DB-Hotspot gerade nicht funktioniert, obwohl er doch monatlich zwanzig Euro dafür bezahlt. Die Lösung des Problems war dann, dass wir genau die letzte Vierergruppe sind, bevor das erste Klasse Abteil beginnt. Deshalb – so vermutet er – konnte er sich schließlich dann doch einloggen. Und jetzt, nach einer Stunde emsigen Arbeitens, zieht er ein iPhone aus der Tasche und telefoniert fröhlich auf Englisch vor sich hin. Ich bin schwer beeindruckt. Dieser Mensch sprengt alle Erwartungen, die man an ihn hat, wenn man ihn sieht. „Bye, bye.“ Das Gespräch ist inzwischen zu Ende und während ich über Vorurteile nachdenke, die wir leider immer haben, sobald wir auf andere Personen treffen, packt er seine Sachen zusammen und steigt am nächsten Bahnhof aus.

Bei mir kommt die Müdigkeit zurück, die mir schon einige Stunden zu schaffen macht. Es war einfach zu viel los vor Weihnachten – wie immer eigentlich. Ich lehne mich nach hinten, den Kopf auf die weiche Lehne meines Sitzes und schaue verschlafen nach draußen auf das Bahngleis. Leute steigen aus und ein, laufen einfach vorbei. Wir haben einen längeren Aufenthalt auf diesem Bahnhof. Da entdecke ich ein Mädchen, das mit Telefon am Ohr im Eilschritt, den Koffer hinter sich herziehend auf die Zugtür zuhält. Wenige Sekunden später kommt sie zur Abteiltür herein.

Was mir als erstes auffällt ist, dass sie auch Englisch spricht. Sie bleibt an der Zweierreihe vor mir stehen, schiebt ihren Koffer ans Fenster und setzt sich selbst auf den Platz am Gang. Ich schließe die Augen und lausche ihrem Telefonat. „Oh come on guys – you’re joking!“ Sie muss herzhaft lachen. Ihr Gespräch ist relativ schnell zu Ende. Sie legt auf, erhebt von ihrem Platz und schaut mich an. „Ist der Platz noch frei?“, fragt sie und deutet auf den Platz mir gegenüber, auf dem bis gerade der emanzipierte Wikinger saß. „Ja.“ Antworte ich etwas stumpf und müde, im Moment bin ich zu keiner größeren Regung mehr fähig. Sie hebt ihren Koffer nach oben in die Gepäckablage und setzt sich zu mir. Ohne dass ich sie aufgefordert hätte, etwas zu sagen oder zu erzählen, sprudeln die Worte nur so aus ihrem Mund.

„Oh ich bin so aufgeregt. Das ist mein erstes Weihnachtsfest in Deutschland. Das alles hier ist so schön! Die großen Weihnachtsmärkte und die Atmosphäre! Das ist alles noch viel schöner und authentischer, als ich es mir je vorgestellt hätte.“ Ich bin zwar müde, aber jetzt kommt mein Kopf irgendwie nicht mehr mit. „Woher kommst du denn, wenn das dein erstes Weihnachtsfest in Deutschland ist?“

„Ah sorry, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Libby!“ Sofort streckt sie mir die Hand entgegen. Ich erwidere dieses zwischenmenschliche Ritual und stelle mich ebenfalls vor. Doch darauf geht Libby gar nicht ein, sie sprudelt einfach weiter: „Ich komme aus Amerika, genauer aus Wisconsin, das ist der Käse-Bundesstaat.“ Bei dieser Bemerkung muss sie wieder sehr herzlich lachen.

„Ich habe schon in der Schule Deutsch gelernt und an einem Schüleraustausch teilgenommen. Weil ich die Sprache immer noch so faszinierend finde, habe ich beschlossen, dass ich auch Highschool-Lehrerin werden möchte. Jetzt studiere ich und im Moment mache ich ein Auslandssemester. Meine damalige Austauschpartnerin hat mich zu Weihnachten eingeladen. Seitdem bin ich völlig von der Rolle. Wir haben deutsche Bräuche und Traditionen besprochen, damals in der Schule, ich werde jetzt endlich erfahren, ob das alles stimmt.“ Verträumt schaut sie Richtung Decke.

„Weißt du, wir haben zu Weihnachten auch viele Traditionen, aber das sind alles Bräuche, die wir uns bei irgendeiner andern Kultur abgeschaut haben. Jetzt kann ich endlich erfahren, wie die Deutschen Weihnachten feiern.“ Ich kann ihre Aufregung etwas nachvollziehen, jedoch nicht ihre Begeisterung, die sie all dem kitschigen und nervigen Weihnachtsrummel, der doch so alltäglich ist, entgegenbringt. „Oh dear, she’s calling.“ Sie nimmt ein Gespräch entgegen und fängt an, so wie es wohl ihre Art ist, wie wild drauf los zu sprechen. Wieder auf Englisch.

Es muss wohl ihre Freundin sein, die sie besuchen wird, denn es geht darum, wo sie aussteigen muss. „See you.“ Sie legt auf und meint noch verschmitzt lächelnd zu mir: „Frohe Weihnachten!“ Dann nimmt sie ihren Koffer wieder und geht durch das Abteil des Zuges in Fahrtrichtung davon. Was für eine verrückte Nudel, typisch Amis!

 

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz