Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner
Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt.
Mit diesen Worten erhebe ich mich und mache mich auf den Rückweg zu meinem Platz. Für mich wäre das nichts. Zurück auf meinem Platz fange ich an, meine sieben Sachen zusammen zu sammeln und wieder dahin zu verstauen, wo sie hingehören. Eine halbe Stunde noch, bis ich umsteigen muss, sagt mir mein Blick auf die Uhr an der Anzeigetafel. Ich setzte mich also noch einmal und schaue aus dem Fenster.
Das Handy meiner Sitznachbarin klingelt. Irgendeine Klaviermelodie ertönt. Die Töne kommen mir bekannt vor, aber ich kann nicht einordnen, woher. Meine Nachbarin schaut auf das Display, ohne das Gespräch entgegenzunehmen. Das Lied spielt währenddessen munter weiter. Als Gesang einsetzt, erinnere ich mich, woher ich das Lied kenne.
„The snow glows white on the mountain tonight, not a footprint to be seen…”
Die Eisprinzessin! Ich konnte vor zwei Jahren einfach nicht widerstehen, als der Film im Kino lief… Beinahe will ich schon anfangen mitzusingen, da entschließt sich meine Sitznachbarin doch dazu, den Anruf entgegenzunehmen.
„Ja“, bellt sie. Oh, das klingt ja herzlich, fährt es mir durch den Kopf. „Ich bin unterwegs“, sagt meine Nachbarin genervt. Es ist nicht schwer zu erraten, wonach der Anrufer gefragt hat. „Ich weiß, dass es spät wird. Aber es ging nicht früher. Ich hatte noch bis heute Mittag ein Blockseminar… Nein, das konnte ich nicht ausfallen lassen.“
Aha, meine Sitznachbarin ist also auch Studentin. Etwas anderes hätte mich, ehrlich gesagt, auch gewundert. Eigentlich soll man fremde Leute ja nicht beurteilen, beobachten – und schon gar nicht ihre Telefongespräche belauschen. Aber in diesem Moment hab ich ja nun einmal keine andere Wahl.
„ …das ist mir so etwas von latte“, antwortet die Studentin auf irgendetwas äußert genervt, „ihr macht doch sowieso, was ihr wollt.“ Oha, das wird ja immer liebevoller, denke ich. Noch so ein Spruch, und die schlechte Stimmung materialisiert sich hier vor uns auf dem Tisch.
Aber dazu kommt es nicht. Denn in diesem Moment grummelt die Studentin ein lustloses „Bis nachher“ in ihr Handy und beendet dann resolut das Gespräch. Mit einem entnervten Seufzer wirft sie geräuschvoll das Handy auf den Tisch.
„Merry Christmas“, sagt sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände. „Merry Christmas“ ist in diesem Zusammenhang ganz offenbar mit „Verfickte Scheiße“ synonym zu setzen.
Normalerweise ist es wirklich nicht meine Art, mich in die Probleme von Leuten, die ich nicht kenne, einzumischen. Warum ich es jetzt doch tue, weiß ich selber nicht so genau. Vielleicht weil Weihnachten ist?
„Probleme?“, frage ich so unverbindlich wie möglich. Die Studentin wendet mir ruckartig ihr Gesicht zu. Ein giftiger Blick trifft mich. Verdammt, jetzt habe ich mir Ärger eingehandelt! Doch urplötzlich verschwindet die Wut in ihren Augen. Sie sieht jetzt eher so aus, als sei es ihr peinlich, dass sie so öffentlich am Telefon gestritten hat.
„Ach, meine Mutter spinnt…“, meint sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Eigentlich nur der normale Wahnsinn.“ Das klang in meinen Ohren zwar ganz anders, aber okay. Andere Menschen reagieren halt anders.
„Verstehe“, sage ich daher und bemühe mich um einen lässigen Tonfall. „Sobald man nach Hause kommt, wird man wieder zum Kind und wird betüddelt.“ Meine Nachbarin lacht kurz spöttisch auf. „Wenn’s nur an Weihnachten wäre, könnte man’s ja aushalten. Und betüddeln kann ja durchaus mal nett sein. Das, was bei mir abgeht, grenzt an völlige Kontrolle. Ein Stasi-Agent ist nichts gegen meine Eltern.“
Sie wirft ihrem Handy stellvertretend einen vernichtenden Blick zu und verbannt es in ihre Hosentasche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie übertreibt und lache kurz amüsiert über den Vergleich.
„Klingt komisch, ist aber so“, erwidert sie bitter. „Wenn ich eine Autobiographie schreiben würde, müsste man sie bei den Dystopien einordnen.“ Sie zieht eine Flasche Club Mate aus ihrem Rucksack und trinkt ein paar Schlucke.
„Die muss noch leer werden, bevor ich bei meinen Eltern aufkreuze. Wenn die die Flasche bei mir sehen, ist der Teufel los.“ Verständnislos schaue ich sie an. „Wieso das?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sie sehen darin irgendein seltsames politisches Statement, linke Bewegungen oder was weiß ich.“ „Hä?“
Sie zieht die Augenbrauen in die Höhe. „Ja, genau. Das trifft es sehr gut. Ich verstehe es auch nicht. Will ich aber auch nicht. Club Mate passt bei meinen Eltern einfach nicht ins Weltbild. Wie so vieles nicht. Sie haben bestimmte Vorstellungen, wie ein Student zu sein hat. Das hier“, sie deutet auf die Flasche, „gehört nicht dazu.“
Sie nimmt noch einen großen Schluck und lässt die Flasche wieder in ihrem Rucksack verschwinden. Mit der gleichen Handbewegung zieht sie eine Kladde und ein Etui hervor, außerdem einen Bleistift und öffnet die Kladde.
Fast fällt mir die Kinnlade runter. Die offenliegende Seite zeigt ein Szenenbild aus Der Herr der Ringe. Normalerweise würde ich das Bild für ein Foto halten, doch dafür erkenne ich diese Szene, meine Lieblingsszene, zu gut – es fehlt noch ein Teil des Bildes. Und deshalb erkenne ich: Dies ist kein Foto. Es ist eine Zeichnung.
Frodo, der den einen Ring in seiner geöffneten Hand hält, seine Augen schwimmen in Tränen. „Wahnsinn“, flüstere ich.
Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz