Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Frank Spiller grinst beinahe. „Viel, viel wichtiger.“ Nach diesem Erlebnis kehre ich erst einmal wieder auf meinen Platz zurück – vorerst ist mir nicht nach umherwandern. Wen wundert‘s!? Immer noch spüre ich diese innere Unruhe, aber das Beine vertreten steht heute wohl unter keinem guten Stern. Missmutig nehme ich mein Buch vom Tisch und blättere suchend darin herum. Wo war bloß die Seite, auf der ich vorher hängen geblieben war? Das Quietschen der Abteiltür lässt mich kalt – Aufregung kann mir erst einmal gestohlen bleiben.

„Verzeih‘ung, Ent‘schuldigen Sie, ich müsste einmal h‘ier durch…“ Der Besitzer dieser Stimme hat sofort meine Aufmerksamkeit. Und als ich auf schaue, werde ich nicht enttäuscht. Hatte ich bei diesem Akzent, wenn auch ich nicht an seine Echtheit glaubte, einen schrägen Vogel erwartet, so wurde ich vom Anblick, der sich mir bot, durchaus überrascht. Ein junger Mann, Anfang bis Mitte zwanzig, kam den Gang entlang. Er hatte Mühe diesen, der mit Gepäck zugestellt war, zu durchqueren. Jeder Schritt, den er tat, jede Bewegung, die er machte, wurde von einem hellen Klingeln begleitet. Wo kommt das her? Weder an Hand- noch Fußgelenken konnte ich Glöckchenbänder, die die Geräusche erklärt hätten, erkennen. Warum diese Person aussah, als wäre sie aus Filmen, wie „1001 Nacht“ oder „Alibaba und die 40 Räuber“ entsprungen, wollte sich mir auch nicht erschließen. Er trug ein beige farbenes Tank-Top, das recht locker saß und eine knallbunte orginal Aladinhose, anders kann ich es wirklich nicht beschreiben. „Miss wären Sie so freudlisch? – Vielen Dank!“ So bahnte er sich weiter einen Weg durch den schmalen Gang. „Oh verdammt! Verzeih’ung Ma’am.“ Erst jetzt bemerke ich das Ungetüm von Rucksack, das er auf seinen Schultern trägt.

Ächzend und stöhnend ist er nun an der Zweierreihe vor mir angekommen, die bis dato noch leer war. Er lässt als erstes seinen Rucksack von den Schultern, wuchtet ihn dann auf den Platz am Fenster und kreist erst einmal die Schultern. Ich sehe die roten Striemen, der Rucksack muss schwer gewesen sein. Erst jetzt sehe ich, dass er keine blonden, kurzgeschorenen Haare hat, wie ich angenommen hatte. Sondern ganz feine Rastazöpfe, die ihm bis zum Hintern reichen müssen, die er jedoch zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden hatte, sodass ich sie bisher nicht sehen konnte.

Ich will ihn nicht weiter anstarren, bevor er es bemerkt und versuche mich wieder auf mein Buch zu konzentrieren. Das Glöckchengeklingel ertönt und mit zwei Schritten steht er neben mir. „Ent’schuldige, h‘ast du vielleicht ein‘ Schluck Wasser für misch?“ Nun schaue ich doch wieder hoch: „Wasser nicht, aber Apfelschorle, ist das auch okay?“ „Ja,“ lächelt er.

„Na komm, setz dich geschwind. Ich muss mal für kleine Mädchen und einen Spaziergang machen, solange könnt ihr euch ja hier unterhalten,“ unterbricht uns die Schoki-Omi. Gesagt – getan. Sie Erhebt sich und schlendert davon. Der Unbekannte tut wie ihm geheißen und setzt sich auf ihren Platz. Ich greife in die Tasche zu meinen Füßen und befördere eine Halbliterflasche Apfelsaft an die Oberfläche. Ich reiche sie dem Unbekannten. Gierig trinkt er, mit einem „ahhhh“ setzt er die Flasche ab und schraubt sie wieder zu. „Vielen Dank, verzeih‘, dass ich mich nicht vorgestellt habe, ich bin Red.“ Damit streckt er mir seine Hand über den Tisch entgegen und mit einem kräftigen Händedruck schüttelt er die meine. „Hey Red, schön dich kennen zu lernen.“ Immer noch etwas perplex lächle ich ihn einfach mal an. Red scheint meine Verwirrung nicht zu Kenntnis zu nehmen und plappert einfach drauf los. „Isch bin auf dem Weg nach Namibia.“ Ich habe das Gefühl meine Augen kullern gleich als Kugeln über den Tisch und landen auf Red’s Schoß. Diesmal hat er mein Erstaunen wohl wahr genommen, denn er meint nur: „Es wird bestimmt großartig! Du glaubst mir nischt? Warum?“ „ Ähm, nein… Es ist nur. …“ Weiter komme ich nicht. „Du siehst aus wie ein Kasper.“ Hänschen von gegenüber ist offensichtlich wach und bringt einfach auf den Punkt, was ich denke. Schallendes Gelächter von Red. „Isch ein Kasper? Nein, das für war nischt.“ Sein Akzent, den ich vorher schon bemerkt habe, klingt gebrochen, irgendwie südländisch. „Red, ich will nicht unhöflich sein, doch woher kommst du, bist du weit gereist?“

„Unhöflisch, ach nein.“ Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Isch bin in Portugal geboren. Wir h‘aben auf dem Land gewohnt, in den Bergen. Wir gehörten zu den H‘irtenfamilien. Es war eine tolle Zeit! Viel in der Natur und bei den Tieren. Isch habe da viel gelernt. Nach der Schule wollte isch mehr von der Welt sehen. Indien war mein großer Traum. Isch hab Work-and-Travel gemacht, auch viel bei Bauern gearbeitet. Misch um das Vieh gekümmert gegen Essen und einen Schlafplatz. Seit isch zurück bin h‘ab isch ein Ethnologie-Studium in Frankreisch angefangen. Isch mache jetzt ein Jahr Pause, und möscht‘e einen weiteren Teil der Welt sehen. Afrika – Namibia.“ Die letzten beiden Vokale der letzten Orte betont Red besonders, als ließe er sie sich auf der Zunge zergehen.

„Nächster Halt – Hamburg – in wenigen Minuten …“ „Oh isch, isch muss h’ier aussteigen.“ Red erhebt sich von dem Platz, schultert den Rucksack erneut, dabei klingelt wieder sein ganzer Körper. Erst jetzt bemerke ich, dass ganze Reihen Glöckchen an seiner Hose vom Bund an der Hüfte, bis zum Saum an den Füßen genäht sind. Seine Bastschuhe und das restliche Auftreten sieht mit dem Wissen, das ich jetzt habe, nicht mehr ganz so lächerlich aus. Nicht aufgesetzt, wie einer dieser Hippie-Alternativen, die einen auf indischen Guru machen, nur um sich hipp zu fühlen. Ich nehme ihm die Ruhe und Gelassenheit ab, die er ausstrahlt. Und auch den Weltenbummler, der er ja ganz offensichtlich ist. „Mach‘s gut, mein Freund!“ Mit diesen Worten schlendert er klingend den Gang entlang. Als er auf dem Bahnsteig aussteigt sehe ich ihm hinterher. Sein Akzent war auch echt … Denke ich noch. „Mamaaaaaa. Der Kaaaspaaaaar ist weg,“ quengelt Hänschen. Als der Zug sich mit einem Ruck langsam wieder in Bewegung setzt, versuche ich nun wirklich endlich ein paar Seiten zu lesen.

 

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz