Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Um seine Lippen spielt ein sanftes Lächeln und als er den Mund aufmacht muss ich noch mehr lachen. „Guten Tag, Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte!“ Damit überrascht er mich jetzt so sehr, dass mir wohl die Kinnlade herunter geklappt ist, denn auf einmal meint er: „ Mund zu, sonst fliegt mir noch meine Mütze weg, bei diesem Zug.“

Nach einer weiteren Sekunde völliger Untätigkeit finde ich endlich meine Sprache wieder. „ Bei Ihrem Auftreten sollten Sie sowas aber gewohnt sein. Ich meine, wie kommt man denn auf die Idee, den Weihnachtsmann und den Gangster aus Kevin allein zu Haus gleichzeitig darzustellen?“

Für alle, die gerade nicht diesem durchaus humorvollen Schaffner gegenüber stehen, kurz zur Erklärung. Er hat einen goldenen Zahn. Also einer seiner Eckzähne ist ganz offensichtlich nicht echt, sondern aus Gold. Ob das Gold echt ist? War es der Eck- oder der Schneidezahn, der im Film „Kevin allein zu Haus“ dem Gangster fehlte und durch Gold ersetzt worden war? Warum denke ich überhaupt über so etwas nach!? Ein Räuspern meines Gegenübers, den ich unabsichtlich schon wieder ignoriere, holt mich wieder in die Realität zurück.

„Oh, entschuldigen Sie, ich…“, total zerstreut breche ich den Satz ab. „Ich muss erst noch meine Fahrkarte suchen.“ Der zweite Versuch ist dann doch – wenigstens inhaltlich – gelungen, man bin ich so müde!? „Nur keine Hektik“, lacht der Schaffner, „der Zug fährt mir schon nicht davon.“ Und wieder hat dieser Kerl mich mit seinem Zug-Sparwitz zum Schmunzeln gebracht. Doch im Gegensatz, zu diesen Menschen, die immer das Gegenteil von dem, was sie sagen, tun, setzt er sich auf den Platz neben mich, verschränkt die Arme vor der Brust und schließt die Augen.

„Wissen Sie, von Stress kann ich mir nichts kaufen, das bringt nur noch mehr ungemütliche Fahrgäste und schlechte Laune. Also nur die Ruhe.“ Er erinnert mich ein wenig an meinen Opa, der hätte das auch einfach so gemacht. Eine völlig fremde Person einfach unbedacht ansprechen, aber auf eine sehr sympathische, zwischenmenschliche Art. „Sie wirken total routiniert und souverän, vielleicht ist das der Grund, warum Sie sich jetzt auf ein freundliches Miteinander konzentrieren können, im Gegensatz zu all Ihren Kollegen, die man sonst so trifft?“, kann ich mich nicht zurückhalten zu sagen. Das Suchen der Fahrkarte habe ich über diesen Gesprächsbeginn vergessen, was den Schaffner aber nicht weiter zu stören scheint. Er bemerkt es wohl nicht einmal, so vertieft ist er in unser angebrochenes Gespräch. „Mag sein, mein Kind, wer weiß. Aber auch als ich selbst noch jung und unerfahren war, war Freundlichkeit mein allererstes Gebot.“, klärt er mich weiter auf. „Warum sind Sie so weihnachtlich gekleidet?“, bricht nun die Neugier, endgültig und unaufhaltsam, aus mir heraus.

„Nun, das ist eine längere Geschichte“, sagt er und zupft sich am Bart. Den hatte ich bisher noch gar nicht bemerkt. Also nicht, dass ihr jetzt denkt, ich sei blind oder sowas, nein! Es ist ein ganz kleiner Ziegenbart am Kinn und dadurch, dass er ein sehr heller Typ ist und rot-blonde Haare hat, war mir das bisher nicht aufgefallen. Dieser Schaffner wird mir immer noch sympathischer, obwohl das eigentlich kaum mehr möglich ist. So viel Luft nach oben gibt’s da nicht mehr. Ein Ziegenbart, ich bin echt verzückt. „Zu Weihnachten will immer jeder Urlaub haben, das ist natürlich in der Dienstleistungsbranche nicht die beste Zeit“, fängt er nun an zu erzählen.

Seine Augen sind halb geschlossen, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt. Seine Stimmfarbe ist wohltuend ruhig und so rutsche ich in meinem Sitz zurück und lausche gespannt. „Ich wollte schon immer Schaffner werden. Schon als kleines Kind hat mich das fasziniert. Vor allem war es mir immer unerklärlich, wie der Schaffner oder die Schaffnerin da nicht den Überblick verliert, bei so vielen Menschen. Immer, wenn ich versucht habe, den diensthabenden Schaffner anzusprechen, wurde ich abgespeist mit einem ‚nerv nicht‘, das prägt.“ Bei diesen Worten musste er selbst schmunzeln.

„Es war an einem Weihnachtsabend und wir – also Mama, meine kleine Schwester und ich – waren mit dem Zug auf dem Weg zu Großmama. Die Stimmung war grausig. Meine Mutter war total betrübt, wegen der vielen Geldsorgen, mein Vater hatte gar nicht erst mitkommen können, da er weiter arbeiten musste, um den Weihnachtszuschlag zu bekommen, den wir so dringend brauchten. Meine Schwester war noch sehr klein und quengelte die ganze Zeit, weil sie schon so müde war. Ich wartete, wie immer, auf den Moment, bis der Schaffner kommt und die Karten kontrolliert. Und als dann die Abteiltür aufging…“

Nun verzieht sich sein Mund von einem Schmunzeln zu einem breiten Grinsen. „… ist mir wohl der Mund offen stehen geblieben. Da kam nicht einfach nur ein Schaffner herein, sondern…“ Er war so in seine eigene Geschichte vertieft, dass er verträumt drein schaute und nicht mehr weiter sprach. Irgendwann schien ihm die Stille selbst aufzufallen, denn er begann weiter zu sprechen. „ Der Schaffner trug einen weißen, langen Bart und eine Mütze vom Weihnachtsmann. Wir waren eine der letzten Gäste im Abteil, ich hatte lange Zeit ihm einfach nur zuzusehen. Meine Mutter hatte inzwischen schon die Fahrkarte zurechtgelegt und als der weihnachtliche Schaffner nun endlich vor uns stand, streckte sie ihm diese wortlos hin. Ich konnte nicht anders als mit der Frage ‚Bist du der Weihnachtsmann?‘ herauszuplatzen. Meine Mutter schaute noch hektischer drein und bekam – wie immer – ihre roten Flecken am Hals. ‚Nicht, Paule! Der Mann ist doch sehr beschäftigt, das siehst du doch.‘ Unbeachtet des Satzes meiner Mutter, beugte sich dieser Schaffner zu mir runter und lächelte mich an. Dann ging er vor mir in die Knie, sodass er sich auf meiner Augenhöhe befand.

Er zog einen Lutscher aus der Tasche und reichte ihn mir. ‚Nein, mein Kleiner, das bin ich nicht. Aber ich soll dich von ihm grüßen.‘ Etwas Schöneres hätte er nicht zu mir sagen können. Mit einem Mal war alles andere aus meinem Kopf verschwunden, bis auf alle Fragen, die ich an ihn hatte. Denn, wenn er nicht der Weihnachtsmann war, dann war er Schaffner! Und er war der erste seiner Sorte, der mich nicht wie eine störende Fliege behandelte oder versuchte mich loszuwerden, oder zu verscheuchen. Nein, er hatte sogar meine Frage beantwortet! Davon ermutigt, begann ich ihn Löcher in den Bauch zu fragen. Seit wann er Schaffner war, was er den ganzen Tag über mache, wohin er fahren würde… Den Blick zu meiner Mutter gewandt, fragte er: ‚Darf ich Ihren Sohn mitnehmen, und ihm meine Arbeit zeigen? Ich bringe ihn vor dem nächsten Halt in zwei Stunden wieder zurück.‘ Nun hellte sich auch das Wolken verhangene Gesicht meiner Mutter wieder etwas auf. ‚Sehr gerne, wenn er Sie nicht von der Arbeit abhält oder nervt.‘, entgegnete sie ihm dann.“ Nun drehte er den Kopf in meine Richtung, sein Blick traf meinen. Schalk lag in seinen Augen, die vor lauter Glück an diese Kindheitserinnerung glänzen. „Ich habe ihn die ganzen zwei Stunden, bis wir aussteigen mussten, begleiten dürfen. Er war immer freundlich zu allen Fahrgästen und hat mir geduldig jede meiner Fragen beantwortet. Das war der Moment, in dem ich endgültig wusste, ich werde genauso ein Schaffner wie er!“

Mit diesen Worten verstummte mein Schaffner und ich war wieder in der Realität im ICE angekommen. „Da wäre ich glaube ich gern dabei gewesen.“, etwas anderes fällt mir im Moment nicht ein. „Aber die Sache mit ihrem Zahn, was hat es damit auf sich?“ Ich bin normalerweise nicht so direkt, aber nachdem ich seine bisherige Geschichte kenne, gehe ich einfach mal davon aus, es ist in Ordnung für ihn. „Oh ja,“ Lachend hält er sich seinen Bauch, „das.“ Schelmisch grinst er, dabei kommt wieder der Goldzahn zum Vorschein. „Nun denn, da hab ich sprichwörtlich aus der Not eine Tugend gemacht. Und meinem Sohn dazu noch eine Freude. Ich habe früher geboxt und bei einem Vereinsturnier wurde mir der Zahn ausgeschlagen. Mein Sohn meinte dann als ich heim kam: ‚Papa, Papa! Du kannst dir einen Goldzahn kaufen, wie der böse Mann bei „Kevin allein zu Haus“.‘ Ich habe es dann wirklich gemacht, etwas verrückt, aber es war sein Lieblingsfilm und er hat es geliebt, dass sein Vater ein Gangster-Double war. Er war richtig stolz auf mich. Wie viele Menschen den Film kennen, wird mir jeden Tag aufs Neue bewusst.“

Das muss Vaterliebe sein, sich einen Goldzahn anzuschaffen. Bei diesem Gedanken muss ich lächeln. Ein Knacken, dann ein kurzes Rauschen und schließlich die Durchsage, dass in wenigen Minuten der nächste Bahnhof erreicht wird. Mit einem Ächzen erhebt sich der Schaffner. „Ich geh dann mal weiter.“, meint er. Ich strecke ihm die Fahrkarte entgegen, die ich nun endlich gefunden habe: „Verbringen Sie dann Weihnachten mit Ihrem Sohn?“

„Nein, an Weihnachten arbeite ich, da darf ich meine Lieblingsstrecke, von München nach Hamburg, fahren. Am ersten Weihnachtsfeiertag fahre ich dann nach Dunen. Dort lebt meine Mutter, mein Vater ist schon verstorben. Meine Frau, meine Schwester mit ihrem Mann und mein Sohn verbringen mit ihr den Heiligabend. Ich musste schon öfter an Weihnachten arbeiten, aber das macht mir nichts aus. Es ist schön, den Leuten an diesem Tag einfach die Fahrt freundlich und angenehm zu gestalten. Die Bescherung verschieben wir in der Familie dann immer auf den ersten Weihnachtsmorgen.“

Mit diesen Worten gibt er mir die Fahrkarte, die nun gestempelt ist, zurück. „Danke, das war wirklich eine tolle Unterhaltung! Sie haben mir meine Fahrt ehrlich versüßt!“ Er lächelt noch, wendet sich dann ab und geht weiter, von Fahrgast zu Fahrgast, und verbreitet seinen ganz eigenen Sinn von Weihnachten im Zug.

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz