Am 17. November war Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner, Michael Tsokos, zu Gast in der Greifswalder Stadthalle, um im Rahmen einer Lesung seinen kürzlich erschienen True-Crime-Thriller „Zerschunden“ vorzustellen. webmoritz. war vor Ort und veröffentlichte am 18. November ein Interview mit dem Autor. Leider erreichte das Rezensionsexemplar die webmoritz.-Redaktion nicht pünktlich, weswegen wir zu entschuldigen bitten, dass die Rezension erst jetzt, mit Verspätung, folgt.

Es ist dunkel im Saal, das Publikum wartet gespannt, als Michael Tsokos plötzlich von vorne auf die Bühne hastet. Sichtlich etwas nervös leitet der Endvierziger, der eigentlich in der Naturwissenschaft, statt in der Show, beheimatet ist, die folgenden anderthalb Stunden ein. Der Zuschauer erfährt, dass ihn keine 0815-Lesung erwartet: Der Vortrag wird im Laufe des Abends immer wieder von Fakten zu realen Fällen unterbrochen und die teils gekonnt detaillierten szenischen Darstellungen im Thriller durch echte Fotos untermauert. Nur etwa 20 Prozent sind, Tsokos Angaben zufolge, Fiktion. Der Leser kauft hier wirklich noch, was drauf steht: True Crime.

Berlin-Tegel. In einer Seniorenwohnanlage, untergebracht in einem trostlosen Siebzigerjahrebau, wird die in die Jahre gekommene Deutschrussin Irina Petrowa in der Diele ihrer eigenen Wohnung stranguliert aufgefunden. Was zunächst wie ein Raubmord durch einen Nachläufer scheint, offenbart noch am Tatort skurrile Züge: Der Mörder hat der alten Dame die Worte „Respectez Asia“ auf die Beine geschrieben und ihr danach ihre Feinstrumpfhose wieder angezogen.

Auf den nächsten knapp 400 Seiten macht sich Dr. Fred Abel, Rechtsmediziner beim Bundeskriminalamt und Protagonist dieses True-Crime-Thrillers, zusammen mit seinen Polizei-Kollegen an die Aufklärung des Falles. Währenddessen zieht der Killer auf unberechenbare Art und Weise konzentrische Kreise um Flughäfen in ganz Europa. Auch in anderen europäischen Großstädten werden bald darauf Frauen ermordet und in selber Manier beschriftet. Kurze Zeit später schon gerät ein alter Bundeswehrkamerad und Freund Abels, Lars Moewig, dessen Tochter Lilly im Begriff ist, ihrer Leukämie zu erliegen, ins Visier der Ermittler. Hin- und hergerissen zwischen der Tatsache, dass Moewig sich seit der gemeinsamen Zeit verändert hat und bereits kleinkriminell in Erscheinung getreten ist und der Loyalität zu seinem alten Bekannten, entschließt sich Abel kurzerhand dazu, Moewig aus der Patsche helfen zu müssen – schließlich lauert Lillys Tod unmittelbar.

Balance zwischen Realität und Fiktion

Nach seinem Erstlingswerk „Abgeschnitten“, das er zusammen mit Krimi-Autor Sebastian Fitzek verfasst hat, handelt sein zweites Buch „Zerschunden“ von einem Serienkiller, an dem sich die Profiler des BKA die Zähne ausbeißen. Denn die Taten sind eindeutig sexuell gefärbt, aber keines der Opfer weist Spuren sexuellen Missbrauchs auf. Die Story beruht, wie es sich für True Crime gehört, auf einem realen Fall. Dies wird schon zu Beginn klar, als Tsokos original Polizeiaufnahmen des ersten Tatorts aus dem Buch zeigt.

Im Laufe der Lektüre gewährt Tsokos seinen Lesern weite Einblicke in seinen Arbeitsalltag und sein eigenes Leben. So beschreibt er beispielsweise die Frühbesprechung, die auch in der Realität täglich um 7:30 Uhr stattfindet. Ob die beschriebenen Charaktere an echte Kollegen angelehnt sind, bleibt hingegen offen. Während des Lesens erschließt sich irgendwann auch der weitere Tagesablauf: Es folgen mehrere Stunden Obduktion am Seziertisch und nachmittägliche Außeneinsätze. Immer wieder wird auf lebendige Art beschrieben, welchen technischen Fortschritt auch die Forensik in den letzten Jahren gemacht hat. Nachdem die Rechtsmedizin fast 200 Jahre lang auf dem Stand des 18. Jahrhunderts vor sich herdümpelte, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten viel verändert: DNA-Analysen waren gestern, mittlerweile hat die „Virtopsie“ Einzug in die Obduktionssäle erhalten. Mittels modernster Techniken ist es inzwischen beinah möglich, eine Todesursache zu ermitteln, ohne den Toten jemals zu berühren. So wird die Arbeit mit dem Computertomographen, wie einer auch in der Gerichtsmedizin der Charité zu finden ist, beschrieben. Da kann man sich schon mal in CSI Miami hineinversetzt fühlen, auch wenn diese Art der Fiktion dann doch oft schon weiter als die Realität ist. Aber auch das Smartphone ist nicht mehr wegzudenken: Mittels „Appen-App“ bestimmt Dr. Abel in Sekundenschnelle den Todeszeitpunkt und spart sich so langwierige Berechnungen.

Wie viel Protagonist Dr. Fred Abel und Prof. Dr. Michael Tsokos tatsächlich gemeinsam haben, bleibt eine weitere spannende Frage. Was beide jedenfalls teilen, ist den Weg hin zur Rechtsmedizin. Abel wird im Buch als zunächst unstrebsamer Kerl beschrieben, der „lustlos“ Medizin studierte und eines Tages „fast durch Zufall in eine rechtsmedizinische Lehrveranstaltung stolperte“, die von den „Schnittstellen von Archäologie und Rechtsmedizin“ handelte. Wie Tsokos während seiner Lesung preisgab, kommt dies den Tatsachen schon sehr nah. Auch der gebürtige Kieler Tsokos interessierte sich schon früh für die Ausgrabungen des Altertums und begann das Medizinstudium mehr oder weniger zufällig. Und auch der alte Bundeswehrkamerad ist nicht frei erfunden. Einen solchen Freund gibt es tatsächlich, auch wenn es höchst unwahrscheinlich erscheint, dass ausgerechnet dieser in den Fall verstrickt gewesen sein soll.

Humor und Gruselei

Natürlich kommt auch das zwischenzeitliche Schmunzeln nicht zu kurz. So wird Abels Sekretärin Renate Hübner beispielsweise als „hagere Mittfünfzigerin von gefürchteter Humorlosigkeit“ beschrieben, die sich „so monoton wie ein veraltetes Navigationsgerät“ artikuliert und Abel mit den Dauerwellen und dem „Pferdegesicht“ an Evelyn Hamann erinnert. Aber auch an den gekonnten beschreiberischen Fähigkeiten des Autors kann man sich als Leser erfreuen.

Die Jagd nach dem psychopathischen Mörder führt Abel schließlich nach London, Paris und Bari, wo er sich mit den Rechtsmedizinern vor Ort kurzschließt. Dass auch dies den tatsächlichen Geschehnissen entspricht, wurde deutlich, als Tsokos in der Lesung ein Foto von sich zusammen mit dem örtlichen Kriminalkommissar präsentierte. Ob sich die Reise quer durch Europa für Fred Abel am Ende lohnt und ob er es schafft, den Verbrecher ans Messer zu liefern, bevor Lillys Zeit abgelaufen ist, das sollte jeder Leser selbst herausfinden. Tsokos jedenfalls, ist mit seinem zweiten Thriller aus meiner Sicht ein Coup gelungen. Bemerkenswert, wie Fiktion und Realität ineinander verstrickt sind und die Spannung auf die Spitze treiben. Da sei ihm auch verziehen, dass es an einigen Stellen so scheint, als sei Schleichwerbung im Spiel.

 

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Titel: Zerschunden
Autoren: Michael Tsokos, Andreas Gößling
Preis: 14,99 € (e-book: 12,99 €)
Verlag: Knaur-Verlag
Seitenanzahl: 432