geschrieben von Lorenz Lang
Die Kieferorthopädie nimmt eine immer größere Rolle in dem Leben junger Menschen und Erwachsenen ein. Mangelt es der Branche an Selbstkritik oder bewahrt man nur das, was die deutsche Zahnmedizin zu einer der respektiertesten der Welt gemacht hat?
Am 4. März 2015 veröffentlichte Doktor Alexander Spassov gemeinsam mit Kollegen einen Fachartikel mit dem Namen ,,Asymmetrien bei der Einschätzung des kieferorthopädischen Behandlungsbedarfs’’. Was für den Laien wohl kaum wie ein revolutionärer Artikel anmutet, hat den Arzt aus einer deutsch- makedonischen Familie vermutlich seine Lehrstelle an der Universitätsmedizin Greifswald gekostet.
Ein Fachaufsatz beendet seine akademische Karriere
,,Kollegen hatten mich damals gewarnt, dass der Artikel mich meine Stelle und so meine akademische Karriere kosten würde’’, sagt Alexander Spassov, aber er vertraute auf die in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes konstituierte Freiheit der Lehre. Einige Wochen nach Veröffentlichung des Artikels erlässt der Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie, Karl-Friedrich Krey, eine Dienstanweisung, die genau in dieses Grundrecht eingreift, indem der Direktor anordnet alle Artikel vor Veröffentlichung seiner Person vorzulegen. Konkrete Konsequenzen realisieren sich für Spassov in der Nicht- Verlängerung seiner Stelle an der Universität Greifswald. Doktor Spassov sieht seine akademische Perspektive gänzlich zerstört: ,,Man hat mir ganz klar gesagt, dass ich keine Zukunft mehr an der Universitätsmedizin habe und die Türen der Deutschen Universitäten für mich zu sind. Wenn es um die Einheit des Berufsstandes gegenüber kritischen Positionen geht, stehen wohl die Universitäten vollkommen geschlossen und halten fest an ihren berufsständischen Interessen.’’
Was also an dem Artikel hat die Verantwortlichen der Universität veranlasst derart drastisch zu reagieren und jemanden gänzlich akademisch zu boykottieren und ihn in die Isolation zu zwingen? Die Antwort ist, Doktor Alexander Spassov beruft sich in seinem Artikel auf zahlreiche Studien und Untersuchungen, die einen direkten Zusammenhang von kieferorthopädischer Behandlung durch Zahnspangen und der Verbesserung der oralen Gesundheit in Frage stellen. Grundsätzlich stellt er fest, existiert bei der kieferorthopädischen Behandlung ein großer Unterschied in der Wahrnehmung von Arzt und Patient. „Während der Arzt eine Abweichung von der idealen Zahnstellung als medizinischen Indikator für eine kieferorthopädische Behandlung ansieht, stehen für die allermeisten Patienten soziale oder ästhetische Vorteile im Vordergrund.“
Schön ist gleich gesund?
Unabhängig von den Beweggründen hat der Patient im Ergebnis am Ende also schöne und gesunde Zähne. Doch genau in dieser Formulierung versteckt sich die Problematik der kieferorthopädischen Behandlung. Schön und gesund sind der herrschenden Meinung nach nicht zwei Ideale oder zwei getrennte Behandlungsergebnisse. Es sind Konditionen, die sich selbst bedingen. Nur schöne Zähne im Sinne einer idealen Okklusion (Zahnstellung) sind gesunde Zähne. Jede Abweichung vom Idealbild gilt als pathologisch. Geht man von der Prämisse aus, dass Alexander Spassov und die zahlreichen Studien Recht haben und eine direkte Verbindung von dem Tragen einer Zahnspange und der Verbesserung der oralen Gesundheit nicht bewiesen oder sogar streitig ist, so wird dem Patienten wahrscheinlich in einigen Fällen eine medizinische Indikation suggeriert, wo keine besteht.
Gegen das ,,Schön und gesund’’ Mantra steht der Ansatz Spassovs, nur da zu behandeln wo akuter Bedarf besteht: ,,Wenn der Patient sich aus ästhetischen Gründen unwohl fühlt oder bestimmtes Essen nicht essbar ist, ist eine Behandlung gerechtfertigt. Es sollte sich aber um ein wahrgenommenes Problem des Patienten handeln.’’. In diesem Sinne plädiert Spassov dafür gerade minderjährige Patienten mehr in die Behandlungsplanung einzubeziehen. In der jetzigen Situation finden sich Jugendliche, wenn es um die Möglichkeit einer Zahnspange geht, häufig eingekeilt zwischen ihren Eltern und dem Zahnarzt.
Die Belange der Jugendlichen kommen zu kurz
Selbstverständlich streben beide Parteien danach die Gesundheit des Patienten bzw. ihres Kindes zu gewährleisten, dennoch kommen die Belange der Jugendlichen meist zu kurz. Will man das ändern, muss man die Jugendlichen nach ihrer Motivation, ihrem Leidensdruck und ihrer Selbsteinschätzung fragen. Nach Doktor Spassovs Meinung sollte dies allerdings erst dann geschehen, wenn ,,die Körperselbstwahrnehmung der Patienten bereits deutlich entwickelt ist, etwa ab einem Alter von 15 oder 16 Jahren.’’. Selbstverständlich müssen die Eltern dann entscheiden, wenn sie mögliche Nachteile beobachten, die das Kind nicht einsehen kann oder will. Aber die Jugendlichen mehr in den Prozess mit einzubeziehen und sie unter gewissen Voraussetzungen mitentscheiden zu lassen, könnte sehr viel Frustration vorbeugen.
Die vielversprechendste Möglichkeit, die Diskrepanz zwischen Arzt- und Patientenwahrnehmung zu überbrücken und die Position des Patienten zu stärken sieht Doktor Spassov in der Aufklärung des Patienten. Die momentane Situation auf diesem Gebiet beschreibt er als katastrophal: ,,Wir haben im Moment überhaupt keine Art der richtigen Aufklärung. Es fehlt deren Standardisierung und die Überprüfung auf wissenschaftliche Evidenz’’. Eine Aufklärung müsste also vor allem verständlich sein und die Vor- und Nachteile einer Behandlung im Sinne einer Art Risikokommunikation verdeutlichen. Essentiell ist hierbei, dass es sich bei den präsentierten Informationen wie Doktor Spassov es ausdrückt um ,,Wissenschaftlich basierte Gesundheitsinformationen, die sich auf wissenschaftliche Studien stützen’’ handelt. Die Aufklärungsmittel sollten über den subjektiven Deutungshorizont des Arztes hinausgehen und den Patienten über den neusten Stand der Forschung in Kenntnis setzen.
Die Deutungshoheit des Arztes genauso wie seine Befugnis, wissenschaftliche Evidenz zu ignorieren, ist notwendig um die Handlungsfreiheit des Arztes nicht gegen das Interesse des Patienten zu beschneiden. Schließlich ergibt sich seine Deutungshoheit aus einer der anspruchsvollsten und längsten Ausbildungen in Deutschland und seiner unersetzlichen praktischen Erfahrung als Arzt. Dennoch muss dem als Gegengewicht ein aufgeklärter Patient gegenüberstehen, der Zugriff auf die Erkenntnisse der Forschung hat und in konkreten Zahlen über Dinge wie Erfolgswahrscheinlichkeit, Laufzeit der Behandlung und Risiken aufgeklärt wird. Noch sperrt sich die Zahnmedizin gegen eine solche Form der Aufklärung wie Doktor Spassov feststellt ,,Der Zahnarzt muss sich die Zeit nehmen mit dem Patienten zu kommunizieren und vor allem muss er hierzu geschult werden. Gerade an dieser Stelle besteht aber ganz großer Handlungsbedarf. Es fällt weiterhin den Ärzten sehr schwer den Patienten mehr in die Entscheidung zur möglichen Behandlungsgestaltung einzubeziehen’’.
Die Kieferorthopäde braucht kritische Stimmen
Dass andere Länder weiter sind was die Auseinandersetzung mit Problemen wie Überversorgung und mangelnder Aufklärung angeht, zeigt sich am Beispiel Großbritanniens.
Die Kampagne ,,Too Much Medicine’’ des British Medical Journal prangert Fachgebiet übergreifend an was in Deutschland niemand wahr haben will. Es gibt zu viele Behandlungen, die nicht auf medizinischer Evidenz basieren und es wird Zeit, dass darüber eine öffentliche Debatte geführt wird.
Die Kieferorthopädie und Zahnmedizin braucht kritische Stimmen innerhalb der eigenen Profession um sich weiterzuentwickeln, neue Konzepte zu entdecken und selbstkritisch zu bleiben. Es untergräbt das Vertrauen in den Ärztestand, Vertreter anderer oder alternativer Positionen zu boykottieren und zu schädigen. Vor allem anderen aber schadet eine solche Art der hochschulpolitischen Handhabung dem Patienten, denn eine heterogene Forschungslandschaft ermöglicht wissenschaftlichen Fortschritt.
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