Nico Semsrott ist der vielleicht tragisch-komischste und philosophischste Satiriker unserer Zeit. 2015 kam er zum ersten Mal auf seiner Zeit Campus-Tour zum mit seiner Show „Freude ist nur ein Mangel an Information“ nach Greifswald. Für den webmoritz. nahm er sich nach der Show Zeit für ein unerwartet tiefgründiges Interview.

webmoritz: Hallo Nico. Wie es zum Programm kam, hast du ja schon erzählt (Anmerkung der Redakteure: Im Anschluss an den Auftritt gab es eine offene Gesprächsrunde, in der Nico erzählt hat, wie er aus seinen Depressionen ein Poetry Slam Programm entwickelte. 2008 trat er das erste Mal als Kabarettist auf.) – ist das die Wahrheit oder gehörte das zur Show?

Nico Semsrott: Total. Ich hab an keiner Stelle gelogen – wenn, dann war die Lüge offensichtlich. Glaube ich.

w: Also hattest du tatsächlich Depressionen?

Nico: Ja, aber ich glaube in unserer Gesellschaft gibt es merkwürdige Normvorstellungen und Ideen davon, was normal ist und was nicht. Es gibt Grenzen zwischen „normal“ und “nicht normal“, die sehr fest sind und hinter die man sich nicht zu gucken traut. Ich glaube, das sind künstliche Grenzen und wenn man sagt, wer gesund ist und wer nicht, dann ist das eine von einer Expertengruppe total willkürlich definierte Grenze. Deswegen habe ich da eigentlich keine Berührungsängste. Es ist Zufall, dass gerade in dieser Zeit und Kultur die Menschen mit der und der Akzentuierung in der Klinik sitzen und die mit der anderen im Vorstand.

w: Du meinst also, dass Menschen, die in die Schublade „depressiv“ gesteckt werden, nicht unbedingt depressiv sein müssen, sondern manchmal einfach etwas anders sind?

Nico: Es gibt über 500 psychologische Krankheitsbilder, und Depressionen gibt es quasi fast immer gratis dazu. Da treffen sich dann alle. Es fühlt sich einfach scheiße an, nicht als normaler Mensch behandelt zu werden und das macht einen erst einmal niedergeschlagen, es sei denn man ist komplett unsensibel.

Ich glaube, Mediziner können schon sagen: das sind alles Kriterien für eine Depression. Aber man kann da sehr unterschiedlich rangehen und das behandeln. Man kann sagen, du musst jetzt funktionieren, hier sind deine Psychopharmaka. Das ist wohl die gängige Variante: Komm, lass uns nicht weiter nachdenken, wir drücken auf drei Knöpfe und fertig.

Natürlich gibt es extrem viele Menschen, die eine Depression bekommen im Laufe ihres Lebens. Das wird die allermeisten von uns treffen und ist total normal. Aber es wird nicht so erzählt, und das ist das Absurde.“

Wir sagen alle: Oh nein, unangenehm, Scheitern, Traurigkeit, Tod – das packen wir jetzt alles auf Sonderstationen. Armut kommt an die Ränder der Städte, Sterben kommt in Altersheime, Krankheiten kommen in Krankenhäuser. Das findet ja alles nicht mitten in der Gesellschaft statt, sondern ist „unnormal“, „unangenehm“ und weicht von unserem Kurs ab. Dazu gehören psychische Krankheiten natürlich auch.

Da werden Unterschiede gemacht: Das ist eine Form von Narzissmus, die ist noch okay – den lichten wir jetzt ab im Boulevardmagazin. Und das geht einen Tick zu weit, der kommt in die Klinik. Ich hab das Gefühl, die Grade sind da sehr eng und es ist manchmal Zufall, ob man gerade interviewt oder ruhig gestellt wird.

typische depri-Vortragshaltung im schwarzen Hoodie

typische depri-Vortragshaltung im schwarzen Hoodie

w: Worüber hast du dich zuletzt als Privatperson so richtig gefreut?

Nico: Der Abend war sehr schön. (Lacht.)

w: Ist es nicht schwer, als Figur die ganze Zeit das traurige Gesicht beizubehalten, wenn alle Zuschauer lachen?

Nico: Nein, das liegt mir total. Da muss ich nur an meine Kindheit denken, und schon bin ich wieder in der richtigen Stimmung.

w: In einem Interview hast du mal erwähnt, dass die Leute eigentlich nur über dich lachen, weil sie denken, dass du auf der Bühne lügst, aber eigentlich würdest du die Wahrheit erzählen. Ärgerst du dich manchmal darüber, wenn etwas falsch ankommt?

Nico: Bei einem Publikum von 100 Menschen gibt es 100 unterschiedliche Wahrheiten. Was ich mache, passiert zufälligerweise auf mehreren Ebenen und ich kann überhaupt nicht beeinflussen, wo das bei wem welche Verbindung auslöst. Deswegen ärgere ich mich auch nicht darüber, wenn jemand etwas nur lustig findet oder nur traurig, sondern freue mich grundsätzlich, dass es eine Reaktion gibt. Ich hab natürlich Lust, meine Gedankenwelle so zu schießen, dass sie eine Wirkung in der richtigen Ecke hat, aber das kann ich einfach nicht beeinflussen. Das wäre auch anmaßend, als Künstler zu sagen: das sollte die eigentliche Auswirkung sein. Natürlich bin ich politisch missionarisch unterwegs und möchte eine Debatte entstehen lassen, aber kann es nicht diktieren. Das wäre ein dummer Ansatz.

Ich kann nur versuchen, auf Freiwilligkeit zu setzen: Freiwillig herkommen, freiwillig Geld zahlen, freiwillig lachen oder freiwillig einschlafen.“

w: Was machst du, wenn du nicht als staatlich nicht anerkannter Demotivationstrainer auf der Bühne stehst?

Nico: Ich hab relativ viel Freizeit und bummle durch den Tag. Ich mach viel, was andere auch machen, aber brauch dafür mehr Zeit. Ich geh gerne in Cafés, spazieren, Menschen beobachten und so tun als ob ich nachdenke.

w: Der Name deines Programms ist „Freude ist nur ein Mangel an Information“. Könnte man nicht auch sagen, dass Wut/Traurigkeit/Ärger auch ein Mangel an Information ist?

Nico: Auf jeden Fall, das sehe ich auch so. Jedes Fazit einer jeden Art von Wahrnehmung ist ein Mangel an Information. Aber die Figur muss natürlich „Freude“ sagen.

w: Viele Studenten gehen ja sehr gerne feiern. Glaubst du, dass wir trotzdem eigentlich alle traurige Menschen sind, die arbeiten und funktionieren?

Nico: Hier wären wir wieder bei den gesellschaftlichen Gruppen. Man hat eine gute Chance, in eine Krise zu geraten, wenn man Grundsatzentscheidungen noch treffen muss – da sind Studenten natürlich in der passenden Lebensphase. Davon abgesehen sind sie wohl Menschen wie alle anderen auch: bei einem Schicksalsschlag kommt es zu einer Krise, ansonsten gibt es in dieser Gesellschaft eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man weitestgehend glücklich und unbedarft durchs Leben kommt.

w: Glaubst du, dass intelligente Menschen generell unglücklicher sind?

Nico: Gute Frage, da bin ich bisher noch zu keinem abschließenden Urteil gekommen. Ich würde unterscheiden in sensibel und unsensibel. Wenn man sensibel ist und eine hohe emotionale Intelligenz hat, dann ist es wahrscheinlicher, dass man unglücklichere Phasen durchlebt. Eine Depressive, mit der ich mich neulich unterhalten hab und die bereits drei Jahre in Kliniken verbracht hat, meinte dazu, sie habe noch nie jemanden getroffen, der depressiv war und dumm. Umkehrschluss…(lächelt).

w: Häufig passt die Logik Depressiver ja nicht zur „generellen“ Logik, ist für viele Außenstehende nicht schlüssig.

Nico: Stimmt, aber wessen Logik ist schon schlüssig. Kognitive Dissonanz bedeutet ja auch, ich krieg einen Widerspruch mit, leugne ihn aber. Ein typisches Verhalten von Menschen: oh, das hat jetzt nicht so geklappt wie ich dachte – daran muss irgendetwas/irgendjemand anderes schuld sein. Man baut sich ständig irgendwelche Erklärungen, ohne zu wissen, ob die stimmen. Von daher sind wir im Prinzip sehr irrationale Wesen. Gerade dieses Vorurteil aus der Geschichte des Menschen, wir wären rationale Geschöpfe, die sich einfach entscheiden können, glücklich zu werden, macht viele Leute unglücklich. Genau das ist ziemlich dumm und nicht hilfreich.

w: Du hast in einem anderen Interview gesagt, dass es von hundert Menschen nur etwa drei „drauf haben“. Haben wir drei es jetzt drauf?

Nico: Weiß ich nicht. Keine Ahnung.

w: Was bedeutet das denn für dich, es „drauf haben“?

Nico: Dazu kann ich eine kurze Anekdote erzählen: Ich hab neulich mit einer Zuschauerin gesprochen, die meinte: „Ich kenne auch einen Depressiven, der suhlt sich in seinem Unglück und ist selbst schuld.“ Da dachte ich: „Nein, DU bist einfach der Grund für seine Depressionen!“ Sie war auf jeden Fall jemand, der’s nicht drauf hat. Da sind von vornherein Denkblockaden da.

Leute, die sagen „Ich irre mich auf keinen Fall“ bringen doch die Grundvoraussetzungen dafür mit, Vollpfosten zu sein.“

Natürlich ist die Zahl 97 da aber ein wenig überzogen.

wir haben es geschafft: Nico Semsrott kann auch lächeln!!!

wir haben es geschafft: Nico Semsrott kann auch lächeln!!!

w: Siehst du dich als zukünftigen depressiven Mario Barth des deutschen Fernsehens?

Nico: Das ist ein schönes Lob, das würde ich mir gerne als Aufkleber an meinen Spiegel kleben. Danke. Mit Mario Barth werde ich sehr gerne verglichen (grinst).

w: Wäre das denn ein Ziel, mal im Olympiastadion aufzutreten, sobald es sich lohnt?

Nico: Selbst wenn die Zahl der Depressiven noch steigen würde, wäre das Marktpotential nie so groß. Aber auf einem Kreuzfahrtschiff würde ich gerne mal auftreten.

w: Hermann Hesse hat mal gesagt: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind.“ Dein Kommentar dazu?

Nico: Meine Formel ist: Das Leben ist sinnlos, aber es muss sich nicht so anfühlen. Ich denke da steckt alles drin, was ich glaube verstanden zu haben.

w: Danke für das Interview.