Von Luise Fechner.
Nie waren die Möglichkeiten hinsichtlich der Berufswahl so unüberblickbar wie heute – ähnlich wie ein Süßigkeitenregal. Studium, Ausbildung oder Duales Studium. Fachhochschule oder Uni. Ausland oder Inland… Fest steht: Jede Karriere beginnt mit einer Entscheidung. Durchhaltevermögen ist lobenswert, aber mitunter kann es trotzdem hilfreich sein, Neues zu wagen. Eine Selbsterfahrung.
„Das ist es jetzt also“, wie eine Freundin kürzlich so treffend sagte. Ein Satz, der von blanker Ernüchterung bis hin zu bitterer Enttäuschung alles enthält.
Auch die Mutter von Mason, Hauptperson im 2014 angelaufenen Kassenschlager Boyhood, kommt zu einer ähnlichen Einsicht: „Ich dachte einfach, da wäre mehr.“ Allerdings ist sie zu dem Zeitpunkt bereits etwa Mitte fünfzig – die typische Midlife Crisis.
Das ist es jetzt also.
DAS ist es jetzt also?
Ja, das ist es.
8.30 Uhr, Seminar. Trotz des winterlichen Halbdunkels und meines eher schwach ausgeprägten Orientierungssinns habe ich das Institut für Zoologie gerade noch rechtzeitig gefunden. Der Dozent beginnt mit dem, was er am besten kann: dozieren. Parasiten und Sporozoen. Endwirte, Zwischenwirte. Regenwürmer und Tsetse-Fliegen. Zwischendurch von meiner Seite ein Blick durchs Mikroskop in der verzweifelten Hoffnung herauszufinden, wo ich hier gerade was genau erkennen und zeichnen soll.
Was studiere ich nochmal? Ach ja, Medizin. Verstohlen blicke ich mich um. Geht es den anderen auch so? Zu meiner Überraschung, ja. Ich sehe größtenteils bis auf den Titel leere Blätter; der Rest meiner Kommilitonen pinselt eifrig und voller Selbstbewusstsein etwas aufs Papier, was man mit viel Fantasie als das eben Gesehene bezeichnen könnte. KÖNNTE.
Mittagspause. „Wie weit bist du denn mit der Hausarbeit? Meine ist schon fertig. Und zusätzlich muss ich gerade noch für die Nachprüfungen im März lernen, Mann, das ist so unglaublich viel! Das zweite Semester soll ja noch härter werden!“
Während ich mit halbem Ohr zuhöre, kreisen in meinem Kopf in ständigem Wechsel der leere Kühlschrank, das (schon wieder!) kaputte Rad und die nicht enden wollende Suche nach einem freien WG-Zimmer. Und es manifestiert sich ein Gedanke in meinem Kopf, von dem ich nicht dachte, dass er sich je wieder so unerträglich selbstsicher an die Oberfläche drängen würde: Mama, hilf. Oder Papa. Irgendwer!
Vorlesung zum Thema Topographie der Leitungsbahnen, obere Extremität. Halt, warte. Was erzählt der da vorne? Das hatte ich doch anders gelesen! Um meine Verwirrung zu vervollständigen, erklärt mir ein Kommilitone auf meine geflüsterte Nachfrage den Sachverhalt in einer dritten Variante.
Mein Blick schweift durch die Reihen, und meine eigene Banalität will mich erdrücken. Interessiert das jemanden, ob ich hier sitze? Wie es mir geht? Was mir Sorgen macht und ob mich das alles ausfüllt (bzw. überfüllt)?
Es hat nicht den Anschein. Und ich mache niemandem einen Vorwurf. Zu deutlich bemerke ich die Veränderungen an mir selbst, seit das Studium begonnen hat. Ein gehetztes „Na, alles klar?“ im Vorbeirennen ist an manchen Tagen das höchste Maß an Menschlichkeit, auf das ich es bringen kann Wir wollen Ärzte werden, richtig? Wir wollen Ärzte werden, und es mangelt an MENSCHLICHKEIT??!. Zu sehr bin ich mit mir selbst beschäftigt. Zu sehr kümmern mich anatomische Fakten und Fristen. Das Perfektionieren der eigenen Person hat einen neuen Namen: Medizinstudium.
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