„Ein kleiner Junge überquert vor mir die Straße, in den Händen eine Rakete aus Pappe“

Wie ein einzelner Organismus dreht sich die Menge um und rennt zurück

Wie ein einzelner Organismus dreht sich die Menge um und rennt zurück.

Schlagartig kommt die Erkenntnis. Panisch krame ich die Karte Bethlehems heraus und schaue nach. Tatsächlich, zwei der vier erhaltenen Banksy-Graffiti, das Mädchen, das den Soldaten filzt und die Friedenstaube mit der kugelsicheren Weste, befinden sich genau an der Ecke des Checkpoints, an der die Armee jedem, der sich ihr nähert, eine Prise Tränengas anbietet, auch wenn man ein ungescholtener Tourist ist, der aus Neugier auf der „falschen“ Seite steht. Ich bin enttäuscht. Scheinbar werde ich die Graffiti doch nicht sehen können.

Im Folgenden traut sich die Menschenmenge wieder etwas vor, schmeißt Steine und nach weiteren Salven von Tränengasgranaten zieht sie sich zurück, heult, hustet und spuckt. Ein paar Jugendliche zerren aus dem Nichts ein Sofa auf die Straße und nutzen diese als Sichtschutz, hinter dem sie Steine werfen. Tränengas vertreibt sie und ein anderer Pickup-Truck fährt näher heran und malträtiert das Sofa mit einem Wasserwerfer. In der westlichen Welt wäre es auch Wasser, hier ist es Abwasser, welches die Straße auch noch Tage später nach Kanalisation riechen lassen wird. Ein, oder zwei Molotovcocktails fliegen und zerschellen auf der Straße in einem Feuerball, weit weg von den Soldaten. Ein kleiner Junge überquert vor mir die Straße, in den Händen hat er eine Rakete aus Pappe. Mitten auf der Straße bleibt er kurz stehen, zielt über die Rakete hinweg auf den weit entfernten Checkpoint und imitiert das Geräusch einer Explosion, als würde er die Rakete auf die Soldaten abschießen. Früh lernt man wohl als Kind, wer Freund und wer Feind ist. Beim nächsten Vorstoß konzentriert sich der Beschuss der Armee auf einen fünfstöckigen Rohbau auf der rechten Seite der Straße, in dem sich scheinbar ein paar Demonstranten verschanzt haben und mit Steinen werfen. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich mehrere Löcher im Gebäude, die in jedem Ego-Shooter eine perfekte Camping-Position für Heckenschützen wären. Sie sind gesäumt von Einschusslöchern.

 

Molotovcocktails fliegen und zerschellen auf der Straße in einem Feuerball

Molotovcocktails fliegen und zerschellen auf der Straße in einem Feuerball.

Alles in allem vollzieht sich das Hin und Her etwa fünf oder sechs Mal. Immer öfter fährt während der Feuerpausen eine Ambulanz so nah an die Front heran wie möglich, lädt chronisch hustende Demonstranten ein und fährt mit Vollgas weg. Einmal hält eine Ambulanz direkt vor mir und wartet auf die Notwendigkeit jemanden aus der Gefahrenzone zu holen. Am Heck ist ein kleiner Sticker angebracht: ein durchgestrichenes Gewehr in einem roten Kreis und ich frage mich zynisch, ob der Sticker seinen Zweck erfüllt.

 

 

 

 

Fotos: Iwan Parfentev