So wie viele Studenten mit dem Beginn der Semesterferien Greifswald den Rücken zukehren, verabschiedete auch ich mich letzten Sommer von der Stadt und ging für ein Praktikum nach Israel. Ich war dort (unklugerweise) von Juli bis September, während der heißen Phase des letzten Gaza-Konfliktes. Grenzerfahrungen waren also garantiert. Exemplarisch für diese Reise werde ich von meinen Erlebnissen an einem Tag in Bethlehem erzählen. Wöchentlich kann man einen neuen Teil davon im webmoritz. lesen.

Hier geht es zum ersten und zweiten Teil – die man vorher unbedingt gelesen haben sollte.

David gegen Goliath

Palästinensische Sicherheitskräfte lassen die Menge in Richtung Grenze und Checkpoint passieren, wo israelische Soldaten sie erwarten

Palästinensische Sicherheitskräfte lassen die Menge in Richtung Grenze und Checkpoint passieren, wo israelische Soldaten sie erwarten.

Obwohl es keinen ernsten Grund gibt, fühle ich mich unwohl als einziger Europäer in dieser Menge. Ich werde weiterhin angestarrt und habe das Gefühl, dass die Stimmung jederzeit kippen könnte und die Leute die Heugabeln und Fackeln rausholen. Mir fällt auf, dass ich noch gar keine Polizei gesehen habe, völlig unvorstellbar in Deutschland. Wie auf Stichwort überholt ein Polizeijeep die Menge, zwei Männer sitzen darin und schauen gleichgültig auf die Menschenmenge. Unbemerkt geht eine Wandlung durch den Menschenzug. Mir fallen mehr und mehr vermummte Menschen auf, ein T-Shirt um dem Kopf verknotet, nur die Augen schauen hervor, grüne Spruchbänder um die Stirn. Zwei Jungs hasten an mir vorbei und laufen um eine Straßenecke. Einer zieht sein T-Shirt hoch und der andere bindet ihm eine Schleuder um den Bauch, keine Bart-Simpson-, sondern eine David-gegen-Goliath-Schleuder. Da sie auf der anderen Seite potenziell Soldaten mit Maschinengewehren erwarten, ist dies auch ein sehr passender Vergleich mit der Ausnahme, dass dieser David seit mehr als sechzig Jahren nichts gegen jenen Goliath ausrichten konnte. Während die zwei Jungs zu Werke sind, habe ich kurz Blickkontakt mit einem von ihnen, drehe mich sofort weg und laufe weiter. Wir treffen auf eine Reihe Polizisten und ich habe kurz Angst, dass dies bereits die israelische Armee ist und ich mich definitiv zu nah an dieser befinde, doch es sind palästinensische Sicherheitskräfte, die keinen Finger rühren, die Menge läuft zwischen den Männern hindurch. An einer zweiten Reihe kurz danach wird der Zug vorübergehend aufgehalten, doch wiederum wird er hindurchgelassen.

 

Kamera läuft und Action!

Ein olivgrüner Jeep beschleunigt stark und gibt plötzlich eine Salve von zehn bis fünfzehn Granaten ab

Ein olivgrüner Jeep beschleunigt stark und gibt plötzlich eine Salve von zehn bis fünfzehn Granaten ab.

Bevor ich nun den kleinen Wachturm am Ende der Straße, etwa 300 Meter entfernt, als den Checkpoint identifizieren kann, explodieren zwei Knallraketen am Himmel. Der Zug wird langsamer und kommt dann zum Stehen. Vor allem Jugendliche beginnen ihre Schleudern mit faustgroßen Steinen zu beladen und sie auch gegen die Soldaten abzufeuern, die am Ende der Straße verstreut stehen. Außer dieser ballistischen Provokation und den immer noch andauernden Rufen der Menge passiert nicht viel, bis ein olivgrüner Jeep vom Checkpoint aus losfährt, stark beschleunigt und plötzlich eine Salve von zehn bis fünfzehn Granaten abschießt, die eine weiße Rauchfahne hinter sich herziehen. Es wird plötzlich still und ganz kurz wird mir klar, was für eine Lautstärke vorher geherrscht haben muss. Wie ein einzelner Organismus dreht sich die Menge um und rennt zurück. Voll von Adrenalin renne ich natürlich mit, frage mich aber naiv, ob das nicht zu verfrüht ist, da die Granaten etwa 50 Meter vor den Demonstranten aufschlagen, bekomme aber kurz danach eine Lektion in Brownscher Molekularbewegung und Diffusion. Kurz riecht es wie an Silvester nach Schießpulver, gefolgt von Brennen in Augen und Hals. Das Atmen wird schwer durch einen nicht unterdrückbaren Hustenreiz, begleitet von einem widerlichen Geschmack im Mund. Man muss nicht im Nebel gestanden haben, um großen Respekt vor Tränengas zu bekommen. Ich bin umgeben von gestandenen Männern, die heulen und andauernd auf den Boden spucken, um den Geschmack loszuwerden und ich heule und spucke mit. Wasserflaschen machen die Runde, um es zumindest auszuspülen. Zu ihren Ungunsten stehen die Demonstranten im Gegenwind, was das Anrennen gegen den Checkpoint erschwert.