mm110_36_kultur_tänzerin_SabrinaSex and the City, Feuchtgebiete, Shades of Grey – man wird nur so überschüttet mit Geschichten über die schönste Nebensache der Welt. Sex sells – das gilt besonders für die Medien. Doch sprechen die Menschen wirklich so offen über ihr Intimleben, wie es in Serien oder Reportagen dargestellt wird? Oder ist das Thema Sex gerade deshalb so interessant und populär, weil es in der Gesellschaft immer noch Tabus gibt?

Sex ist omnipräsent – selbst wenn man ihn nicht hat oder auch noch nie hatte, wie schätzungsweise zwei Millionen Deutsche. In dem Buch „Und wer küsst mich?“ von Maja Roedenbeck geht es um Menschen, die noch nie Sex hatten – nicht, weil sie alle keine Lust hätten, sondern weil der erste Schritt manchmal zu schwer ist und mit der Zeit auch nicht leichter wird. Knapp 2 000 aktive „Absolute Beginners“, wie sie sich selbst nennen, versuchen mithilfe eines gemeinsamen Online-Forums Gleichgesinnte zu finden und sich auszutauschen. Die Angst, nicht mitreden zu können, nicht normal zu sein – ausgegrenzt zu werden, kann belastend sein. Wer mit über 30 noch keinen Sex gehabt hat, wird wahrscheinlich gerade durch die Freizügigkeit im deutschen Fernsehen eher unter Druck gesetzt als aufgeklärt.
Aber auch auf der anderen Seite gibt es Scham und Druck: Rund 65 Prozent aller Männer und 56 Prozent aller Frauen haben auf die Frage, ob ihre sexuellen Wünsche in ihrer Partnerschaft erfüllt werden, mit „Nein“ geantwortet. Ein ziemlich frustrierendes Ergebnis.
Unerfüllte Wünsche kennt auch Miss Decadoria – von ihren Kunden. Die junge Frau ist seit einigen Jahren in Berlin unter diesem Namen als Domina tätig und versucht, die erotischen Fantasien ihrer ausschließlich männlichen Kundschaft zu erfüllen – Fantasien, die die Männer in einer Beziehung nicht ausleben könnten, da sie Angst vor der Reak-tion ihres Partners haben. Sie kennen zwar ihre Neigungen, verschweigen diese aber lieber, weil sie befürchten, als abnormal zu gelten und die Beziehung dadurch zu gefährden. „Ich finde das allerdings sehr bedenklich, die Frau versucht dann ihrem Mann ein erfülltes Sexualleben zu bieten und sie kann im Normalfall natürlich nichts von den geheimen Fantasien wissen“, wendet Miss Decadoria ein, „Das ist für beide Seiten sehr schade, die Frau erhält nicht mal die Möglichkeit, die Fantasien zu befriedigen und der Mann erzeugt dann selbst ein geheimes sexuelles Doppelleben.“
Insbesondere betrifft das natürlich Menschen, die einen ungewöhnlichen Geschmack haben, der deshalb auch nicht in der Öffentlichkeit thematisiert wird. Vibratoren, Gleitgel, Handschellen – das sind Gegenstände, die man gut und gerne in der Schublade haben darf. Immerhin nutzen laut der „Durex Global Sex Survey 2012“ ein Drittel aller deutschen Paare Dildos oder andere Sexspielzeuge. Anders sieht das jedoch bei Fetischen aus, die in der Gesellschaft nicht als massentauglich gelten. Doch wer bestimmt, welche Vorlieben legitim sind und welche nicht?

Windeln als Sex-Accessoire

„Mir macht es Spaß, Menschen zu treffen, die anders ticken und mir ‚quasi‘ ihre Abgründe offenlegen. Außergewöhnliche Fantasien und Ideen sind auch immer eine Herausforderung und diese liebe ich! Es ist so, dass bei vielen Fetischen Gegenstände oder Körperteile aus ihrem normalen Kontext gerissen werden. Je extremer das ausfällt, desto mehr wird ein Fetisch tabuisiert.“ Beispielsweise werden Windeln im Normalfall mit Babys assoziiert; ein Fetischist würde jedoch durch das Tragen von Windeln sexuell erregt, was für die Außenstehenden auf den ersten Blick seltsam erscheint. Ein Grund für viele, ihre intimsten Wünsche und Gedanken vor dem Partner zu verschweigen, weil sie Angst haben, als Perverser abgestempelt zu werden. Bereits jedes dritte Pärchen hatte laut einer Umfrage der Zeitschrift „Elle“ wegen unterschiedlicher Bedürfnisse Streit. Theoretisch könnte man also einwerfen, dass so etwas wie Windeln tragen oder Toilettenerziehung wie Miss Decadoria sie anbietet, so spezielle und „anormale“ Wünsche sind, dass man sie dem Partner zuliebe verschweigen sollte. Wenn aber in jeder zweiten Beziehung sexuelle Fantasien verschwiegen werden, ist das dann „normal“?
Da stellt sich die Frage, ob Sex überhaupt ein Thema in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit sein muss, sodass Vorstellungen und Wünsche erst „normiert“ werden können? Schließlich ist Sex ein intimer Austausch zwischen zwei Menschen und kein Volksereignis. Wie er abläuft, sollte eigentlich jedem selber überlassen und nicht durch die Medien kommentiert und bewertet werden. Doch dass das nicht der Fall ist, erkennt man, wenn man sich den Fall des ehemaligen Wetterexperten ins Gedächtnis ruft. Fast täglich wurden neue Details seines Liebeslebens in der medialen Öffentlichkeit debattiert – unabhängig vom Prozessverlauf. Eine pikante Information – eine riesige Schlagzeile. Mit Sex wird Quote gemacht. Während in Russland ein Verbot der „Werbung“ für Sex unter Jugendlichen und der „nicht-traditionellen“ Beziehungen beschlossen wurde und damit weiter zu Tabuisierung beigetragen wird und Homosexualität im deutschen Fußball scheinbar noch immer verheimlicht werden muss, kann zumindest in den deutschen Medien von Tabus keine Rede sein. Gummipuppen, Fesselspiele, Swinger-Clubs – je ausgefallener, desto besser. In Reportagen wird über ungewöhnliche Berufe im Erotikbereich berichtet; Pornodarsteller in Aktion, Bordellbesitzer oder SM-Liebhaber – nach elf Uhr fällt jede Tabugrenze. Serien wie „Sex and the City“ handeln von Problemen rund um die schönste Nebensache der Welt und Bücher á la „Shades of Grey“ erreichen Bestseller-Status. Aber kann man deshalb auch von einer offenen und toleranten Gesellschaft sprechen? Jemand, der mit über 30 noch keinen Sex gehabt hat, bestimmte Fetische besitzt oder eine ungewöhnliche Berufswahl getroffen hat, wird zwar in den Medien thematisiert – wenn man aber seinen Chef im Swinger-Club trifft, kann es mit der Offenheit schon wieder ganz anders aussehen. Auch Miss Decadoria weiß, dass die Wahl ihres Berufs ein „beliebtes Tratsch-und Lästerthema“ im größeren Bekanntenkreis ist. Von ihren Freunden und ihrer Familie jedoch gab es jedoch statt Skepsis eher ein paar neugierige oder ungläubige Blicke – „gerade wenn es ins Detail einiger Tätigkeiten geht“, erzählt sie.

Sex sells – Sexspielzeug als Life-Style-Produkte

Für Frau Werth gehören pinke Vibratoren, Pornos oder nach Schokolade schmeckendes Gleitgel zum Alltag – schließlich ist sie Besitzerin des Beate-Uhse-Laden in der Innenstadt Greifswald. Am meisten Spaß machen ihr die Kundengespräche und die Beratung. Allerdings scheinen die Greifswalder nicht besonders kaufkräftige Kunden zu sein – während es vor mehreren Jahren noch drei Sex-Shops gab, findet man in den Gelben Seiten nun nur noch einen – wobei man vermuten kann, dass viele Interessierte lieber online und anonym bestellen. Schließlich gibt es im Internet ein großes Angebot an qualitativ hochwertigen Waren. Egal ob Massageöle, Liebeskugeln, erotische Dessous, Spielzeuge für Männer, Handschellen oder Lederpeitschen – im Internet findet man alles, was das Herz begehrt. Zu größten Herstellern zählt das deutsche Unternehmen Fun Factory. Sexspielzeuge gelten mittlerweile als Life-Style-Produkte und die Industrie versucht alles, um ihren Kunden den Kauf so einfach und angenehm wie möglich zu gestalten. Denn Sexspielzeuge mal ins Liebesleben einzubeziehen, wünschen sich laut dem FirstAffair.de-Sexreport 25,5 Prozent der Deutschen. Deshalb bieten Unternehmen mittlerweile sogenannte „Dildo-Partys“ an, die speziell an Frauen gerichtet sind. Wie bei einer „Tupper-Party“ kommt ein Vertreter, in diesem Fall eine „Dildo-Fee“ nach Hause, die in entspannter Atmosphäre verschiedene Produkte vorstellt. Denn mit Freundinnen bei einem Gläschen Sekt lässt es sich gleich viel besser shoppen. Für manche kein Problem, andere finden dies schon wieder zu freizügig.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?

Auch Miss Decadoria hängt ihre Wünsche und Vorstellungen nicht an die große Glocke: „Ich finde das ist eine Frage der Notwendigkeit. Muss ich meiner Familie oder meinen Kollegen wirklich mitteilen, wo meine persönlichen Vorlieben liegen, besonders wenn man dann negative Reaktionen zu erwarten hat? Ich finde, dass man da im Zweifelsfall lieber seine Privatsphäre wahren sollte.“ Lediglich vor seinem Freund oder seiner Freundin wäre Schweigen und Scham fehl am Platz. Dennoch haben in Beziehungen knapp 70 Prozent Hemmungen, mit ihrem Partner über Sex zu reden, wie eine Umfrage der „Elle“ ergab. Auch von Miss Decadorias Kunden gehen die wenigsten wirklich offen mit ihren Neigungen um.  Ein Kunde habe sein Gesicht sogar schon mit einer schwarzen Maske verdeckt, bevor er zum gemeinsamen Treffpunkt kam, um von niemandem erkannt zu werden.
Frustrierend ist dies auch für denjenigen, der die Wünsche umsetzen soll, wenn er nicht wirklich weiß, was sich der andere wünscht – oder nicht einmal weiß, dass der andere sich etwas wünscht. „Ich kann niemanden in den Kopf schauen“, erklärt Miss Decadoria, „manchmal scheinen das einige nicht ganz zu verstehen und erwarten quasi ein Wunder von mir. Das ist so, als würde ich zum Friseur gehen und sagen „Schneide mir die Haare“ und dann erwarten, dass mein Wunschhaarschnitt dabei rum kommt.“
Sex gehört zu den intimsten Kommunikationsformen zwischen zwei Menschen. Auf der einen Seite kann das ständige Reden darüber dem Sex die Romantik und den Zauber nehmen, auf der anderen Seite kann man sich fragen, inwieweit Zauber und Romantik zwischen zwei Menschen existieren, die sich nicht trauen, dem Liebsten oder der Liebsten zu sagen, was sie wirklich wollen.
Scham und Lust – zwei Gefühle, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, die aber durch erotische Fantasien miteinander verbunden sein können. Möglicherweise sind manche Wünsche in der Fantasie auch besser aufgehoben, doch das sollte jeder für sich selbst entscheiden und nicht von der Gesellschaft abhängig machen.

Sabrina v. Oehsen schrieb diesen Artikel und zeichnetete das Bild.