„Achtung, dies ist ein automatischer Transport, bitte gehen Sie aus dem Weg“, mehr war aus meinem Interviewpartner nicht heraus zu bekommen. Immer wieder wies er mich darauf hin, dass ich ein Hindernis sei und doch bitte zur Seite treten solle.
Doch so einfach gab ich mich nicht geschlagen. Stattdessen habe ich mich auf die Lauer gelegt und mir ein paar Informanten gesucht, um mehr über diese seltsamen Wesen, die seit 2002 nicht ganz lautlos über die Flure des Greifswalder Klinikums geistern, zu erfahren. Für alle, die es noch nicht erraten haben: Es handelt sich um das „Fahrerlose Transportsystem Transcar“. Klingt ganz schön unromantisch, oder? Finde ich auch, deswegen bleibt es für mich beim Roboter. Zugegebenermaßen ähneln die Helfer im Krankenhausalltag in keiner Weise der künstlichen Intelligenz aus so manchem Science-Fiction-Film, außerirdisch wirken sie trotzdem. Meine erste Begegnung mit dem fremden „Lebewesen“ habe ich in den Katakomben des Klinikums. In direkter Nähe der neuen Mensa-Küche rollt es auf mich zu und bittet den Weg frei zu machen – sprachgewandt kann man das aus vier Sätzen bestehende Repertoire des Roboters nun wirklich nicht nennen. Überall weisen Spuren der gummierten Räder auf das Revier der Roboter hin. Ich nehme die Fährte auf, natürlich gut getarnt, und begleite das aus 34 Mitgliedern bestehende Rudel während eines ganz normalen Tages im Klinik-Dschungel.
Fortbewegung ohne Schall und Rauch
Der Geruchssinn fehlt ihnen ganz offensichtlich, doch wie schaffen sie es dann sich so selbstverständlich durch die Tunnel, Gänge und Hallen zu bewegen? So genannte Transponder, die in den verschiedensten Farben in den Seitentaschen der Roboter stecken, liefern erste Hinweise. Ich hake genauer nach und habe Glück. Heiko Rodde, Mitarbeiter des Fachbereichs Elektrotechnik und quasi das Leittier des Rudels, ist bereit Insiderinformationen preis zu geben. Die Verständigung und Orientierung der Roboter erfolgt über ein Funknetz und einen kleinen Bordcomputer, auf dem die Weltkarte des Reviers gespeichert ist. Monatelang wurden die befahrbaren Strecken im Klinikum ausgemessen und digitalisiert, bis ein komplexes System aus Knotenpunkten und Kanten zusammengestellt werden konnte. Gerade die Jung-Roboter verliefen sich in ihrer Eingewöhnungsphase gerne mal und fuhren geradewegs in die Patientenzimmer, wie Schwester Renate erzählt. Heute geschehen Pannen dieser Art nur noch selten. Sollte sich dennoch mal ein Roboter verirren, wird dies sofort von einem umfangreichen Überwachungssystem registriert und der Leitstelle Technik gemeldet. Zwölf Mitarbeiter sind rund um die Uhr damit beschäftigt die Roboter zu hüten und sich im Notfall um Schadensbegrenzung zu kümmern. Die Kindermädchen des Rudels können innerhalb weniger Minuten vor Ort sein, wenn wieder mal ein Stau vorm Fahrstuhl entsteht (Abenteuerfilmer haben bereits Videos in einem bekannten Netzwerk hochgeladen). Jetzt noch einmal zu den bunten Transpondern: Diese sind quasi die Zieleingabe in das Navigationssystem. Jede Station des Klinikums, die Mensa und andere Versorgungsstellen wie beispielweise die Apotheke, haben Ports. Moderne Häfen, in denen die Roboter auf ihre jeweils nächste Reise geschickt werden. Der beigelegte Transponder wiederum hat die Informationen über den Zielort des Transports gespeichert, den der jeweilige Roboter dann wie von Zauberhand ansteuert.
Weder über ihre Strecken noch über ihre Zeit können die Roboter also frei verfügen. Sobald der Transport von Essen, Wäsche, Medikamenten, Lagergütern oder einfach nur Abfall nötig wird, stehen die Heinzelmännchen bereit und verrichten ohne Murren ihre Arbeit. Das sei auch zugleich ihr größter Vorteil, erklärt mir der Leiter des Dezernats für Technik und Bau Josef Schedl, also der Ranger des Reviers: „Die Transportsysteme sind zuverlässig und ermöglichen eine effiziente Planung.“ Sie sind also ein kostensparender Ersatz für das menschliche Personal, das vor der Integration des Rudels für die Transporte im Dschungel verantwortlich war. Krank werden sie trotzdem manchmal. Hierfür gibt es eine eigens eingerichtete Reparaturstelle. In dieser speziellen Krankenstation werden die Batterien der Roboter gewartet, Verschleißteile ausgewechselt oder Störungen geheilt. Ein Personalabbau habe aber nicht stattgefunden, ganz im Gegenteil, denn die kleinen Klinikbewohner brauchen viel Unterstützung im Hintergrund.
Das Greifswalder Rudel ist schon lange kein Einzelfall mehr. In Hamburg, Leipzig und seit neustem auch im Rostocker Uni-Klinikum können Wesen dieser Spezies beobachtet werden. Die Leittiere stehen sogar in Kontakt miteinander um Führungserfahrungen auszutauschen. Aufgrund der Herausforderungen in logistischer Hinsicht steht es auch Jungforschern aus den Greifswalder Instituten frei, sich mit dem System auseinander zu setzen. Der Ranger plant schon seit längerem eine Kooperation mit der Uni. „Insbesondere Studierende der Betriebswirtschaftslehre sind herzlich willkommen. Wir sind für jede Unterstützung dankbar“, erklärt Schedl.
Ein Arbeitstag in Zahlen
Die schnellsten sind die Roboter mit ihrer Geschwindigkeitsspanne von 0,1 bis 1 Meter pro Sekunde wahrlich nicht. Dennoch legt das Rudel an einem durchschnittlichen Tag mit 800 bis 850 Fahrten 620 Kilometer zurück. Die längste zu überwindende Distanz in dem Netz aus Wegen ist 2,5 Kilometer lang. Transportiert wird bis auf organische Materialien alles, was im Klinikum von A nach B muss. Jeder einzelne Roboter kann bis zu 200 Kilogramm tragen. Hierfür sind täglich 600 Container im Einsatz, allein 125 für den Transport der Patientenmenüs aus der Mensa auf die einzelnen Stationen. Trotz der Arbeitserleichterung für die Logistik bedeuten die Roboter zugleich einen Mehraufwand für die menschlichen Mitarbeiter. Auf jeder Station gibt es jeweils einen Ver- und Entsorgungsraum. Hierhin bringen die Roboter entweder die bestellten Container oder holen diese ab. Dabei schaffen sie es zwar selbstständig die Türen zu öffnen, aber für die weiteren Vorgänge brauchen sie menschliche Hilfe. Sobald ein Transport eingetroffen ist, wird das Pflegepersonal optisch und per Telefon benachrichtigt. Dies ist das Signal, dass sofort ein Mitarbeiter den eingetroffenen Container aus der Bahn des Roboters entfernen muss, damit mögliche Folgelieferungen ausreichend Platz bei der Ankunft vorfinden. Trotz der zu Beginn der Systemeinführung durchgeführten Schulungen ist auch das Entsenden über die erwähnten Ports für so manche Schwester noch problematisch. Die Spontanität fehlt den „Ameisen“, wie die Roboter liebevoll vom Klinikpersonal genannt werden, also vollkommen. Jede kleine Unebenheit oder Verzögerungen im Ablauf irritieren die Transportsysteme und führen zu Komplikationen. „Disziplin – gerade beim Klinikpersonal – ist daher ganz besonders wichtig für ein reibungsloses Funktionieren des Systems“, betonen sowohl der Ranger als auch das Leittier des Rudels mehrmals. Die Akzeptanz für die neuen Klinikbewohner war beim übrigen Personal wohl von Anfang gegeben, doch gerade in der Anfangsphase gab es Unfälle. Da kam es schon mal vor, dass Essenscontainer nicht ordnungsgemäß verschlossen wurden und die Suppe über die Flure lief.
Instinktives Verhalten im Rudel
Besonders unglücklich war der erste Rollstuhlfahrer, der beim Verlassen des Fahrstuhls auf einen Roboter samt Container traf, ohne dass an ein Vorbeikommen zu denken war. Heute helfen Laserleisten in allen Fahrstühlen erneute Unfälle dieser Art zu verhindern. Und auch sonst haben die Roboter viel Respekt vor ihrem natürlichen Feind „Mensch“. Sobald Laser an der Vorderseite des Roboters ein Hindernis ausmachen, drosselt die Ameise ihre Geschwindigkeit und hält bei geringen Distanzen sofort an. Ein direkter Körperkontakt ist also nicht möglich. Gerade ältere Patienten aus den ländlichen Regionen rund um Greifswald freuen sich über die Abwechslung im Dschungel und bewundern die technologische Schöpfung. Auch innerhalb des Rudels herrscht Rücksicht. Was beim Menschen nicht immer gelingt, funktioniert in der Technologie einwandfrei. Kreuzen sich zwei Roboter, gilt rechts vor links. Unfälle gab es noch keine und auch vor den Fahrstühlen gibt es heute kein Gedrängel mehr.
Nach einem anstrengenden Arbeitstag gibt jeder Roboter seinen letzten Container am Wasserloch, einer Waschstraße auf der Sterilisationsstation des Klinikums, ab und macht sich auf zur nächsten von insgesamt 15 Ladestationen. Ja, auch ein Roboter wird mal müde. Die Erholungsphase dauert von 22 bis 4 Uhr an, vor allem damit die Patienten keinen Revierkampf anzetteln. Nur Notfahrten, zum Beispiel mit Operationsbesteck, sind während der Nachtruhe erlaubt. Doch spätestens um 4.45 Uhr ruft das Frühstück das Rudel wieder aus seinen Rückzugsorten.
Ein Text und Fotos von Lisa Klauke-Kerstan